
SECHS
Ich fand keinen Schlaf. Mein Sohn war in den Händen eines Irren. Alle zehn Minuten griff ich nach dem Telefon und wollte die Polizei anrufen. Tat es dann aber doch nicht. Ich wusste nicht, warum ich diesen Fremden vertraute, aber ich tat es und deshalb wählte ich nicht. Aber ich dachte oft daran.
Am nächsten Tag saß ich nachmittags um drei vor meinem Elternhaus in meinem Wagen und wartete darauf, dass Skulduggery Pleasant und Walküre plötzlich die Türen öffneten und einstiegen.
Um vier Uhr stand ich in der Küche, einen Becher kalten Kaffee in der Hand und den Blick auf die Straße gerichtet.
Felicity ging hinter mir vorbei. „Hast du Sammy gesehen?“, fragte sie.
„Er schaut sich die Plätze an, wo ich als kleiner Junge war.“ Die Worte kamen ohne zu zögern, ausgespuckt wie eine Lüge, die ich schon lange hatte erzählen wollen. „Ich hab ihm eine Karte gezeichnet.“
Sie kam zu mir und legte mir eine Hand auf den Arm. „Wie geht es dir?“
Ich erstarrte und sie nahm ihre Hand weg. Ging dann fort.
Zehn Minuten vor fünf klingelte mein Telefon.
„Hallo“, meldete sich Chrissy.
„Oh. Hallo.“
„Du klingst enttäuscht.“
„Ich warte auf jemanden. Sie haben sich verspätet.“
„Oh. Okay. Hör zu, es tut mir leid, wenn ich dich gestern Abend aus der Bahn geworfen habe.“
„Hast du nicht.“ Ich vergewisserte mich, dass niemand in der Nähe war, bevor ich leiser fortfuhr: „Sie haben ihn. Sie haben Sammy. Du hattest recht, Chrissy. Mit allem.“
„Sie haben Sammy? Oh mein Gott!“
„Chrissy, ich habe gestern Abend zwei Leute getroffen. Der Mann heißt Pleasant und das Mädchen Walküre. Sie wissen alles. Sie sagten, sie könnten helfen.“
Es entstand eine Pause. „Sei vorsichtig“, warnte Chrissy. „Das klingt nach etwas, hinter dem Pete stecken könnte.“
„Nein, er hat nichts damit zu tun. Sie sind authentisch. Ich glaube wirklich, dass sie authentisch sind. Sie wussten über alles Bescheid. Sie haben ihre Hilfe angeboten.“
„Mir gefällt das nicht. Mir gefällt …“
„Verdammt, Chrissy, gestern haben wir gesagt, wir brauchen Exorzisten, oder? Jetzt haben wir sie. Sie haben mich zu dem Lagerhaus geführt, in dem Moon die Kinder ihrer Meinung nach umbringt. Sie können uns helfen. Allerdings … allerdings wollten sie mich vor zwei Stunden hier abholen und sind nicht aufgetaucht.“
„Und du vertraust ihnen?“
Ich zögerte. „Ja. Doch, ich vertraue ihnen.“
„Glaubst du, sie stecken in Schwierigkeiten?“
Mein Herz wurde schwer und lag wie ein Stein in meiner Brust. „Ja.“
Ich stand da in der Küche, das Telefon ans Ohr gepresst, im Angesicht des wahrhaft Bösen so hilflos und nutzlos wie ein Kind.
„Willst du ihnen helfen?“, fragte Chrissy.
„Ja.“
Ich holte Chrissy vor ihrem Häuschen ab. Es lag früher an der Dearson Street, die inzwischen jedoch umbenannt wurde. Eastview Drive klang gleich viel großartiger. Falls die Leute geglaubt hatten, die Umbenennung der Straße würde das Viertel aufwerten, waren sie jetzt sicher schwer enttäuscht. Die Häuser standen verloren da, die freien Flächen dazwischen waren voller Unkraut und dem verrosteten Müll des modernen Lebens – Fahrräder mit platten Reifen, kaputte Geschirrspüler und alte Autos, die nur noch mit Hoffnung, Spucke und Verzweiflung liefen.
Chrissy wartete vor dem saubersten dieser Häuser auf mich. Sie stieg rasch ein und legte ihre Handtasche in den Schoß. Trotz der Falten in ihrem Gesicht und der grauen Strähnen in ihrem Haar spürte ich Schmetterlinge im Bauch, als sie mich mit diesen blauen Augen anschaute. Schmetterlinge, die ich beim Anblick meiner Frau schon lange nicht mehr spürte.
Das weckte Schuldgefühle in mir.
Auf dem Weg zum Lagerhaus war nicht viel Verkehr, aber es wurde bereits dunkel, als ich am Straßenrand anhielt.
„Ist es das?“, fragte Chrissy.
„Nein, es ist weiter vorn.“ Ich hatte von den Experten gelernt. „Den Rest gehen wir zu Fuß.“
Sie nickte. „Okay. Ich hab was mitgebracht. Für uns. Zum Schutz.“
Sie schaute mich nervös an und zog einen vernickelten Revolver aus ihrer Handtasche.
„Er hat meinem Mann gehört“, erklärte sie. „Ich habe ihn behalten, als er auszog. Er ist geladen, ich hab nachgeschaut. Der kleine Hebel hier ist die Sicherung.“
Ich betrachtete die Waffe. „Ich habe noch nie in meinem Leben geschossen.“
„Ich auch nicht. Aber ich dachte mir, vielleicht könnten wir ihn gebrauchen.“
Sie hielt ihn mir hin. Ich nahm den Revolver in die Hand und war überrascht, wie schwer er war. Ich passte auf, dass ich mit meinem Finger dem Abzug nicht zu nah kam. „Okay. Okay, das ist wahrscheinlich … wahrscheinlich eine gute Idee.“
Sie lächelte mich an, ein dünnes, sprödes Lächeln, und stieg aus. Ich zögerte einen Moment, bevor ich ihr folgte.
Ich versuchte den Revolver in meinen Hosenbund zu stecken. Da ich aber das Gefühl hatte, dass er dort nicht sicher war, steckte ich ihn im Gehen einfach in meine Jackentasche. Ich hielt die Augen nach Überwachungskameras offen. Pleasant hatte etwas von beeindruckenden Sicherheitsvorkehrungen gesagt, doch ich sah keine, nicht einmal als wir durch den Maschendrahtzahn spähten. Im Lagerhaus brannte Licht und davor parkten einige Wagen, die tags zuvor nicht dagestanden hatten. Aber ich entdeckte keine Wachmänner und immer noch keine Kameras.
Das Tor war schwer und abgesperrt und der Zaun hatte doppelte Mannshöhe. Mir wurde klar, dass unsere erste Hürde sehr wohl auch unsere letzte sein konnte.
„Wie zum Teufel kommen wir da nur rein?“, murmelte ich. Chrissy schlang die Arme um sich. Es war kalt hier draußen. „Bruce Willis würde einfach durchs Tor fahren“, erwiderte sie. „Oder vom Dach eines Nachbarhauses springen, wenn er unbeobachtet bleiben wollte.“ Sie legte den Kopf in den Nacken. „Aber wie würde er hier raufkommen?“
„Das ist lächerlich“, sagte ich. „Wir sind intelligente Menschen. Ein Zaun sollte kein Hindernis für uns darstellen.“
„Wir könnten drüberklettern.“
Es würde uns nichts anderes übrig bleiben. Obwohl ich mich seit über sechs Jahren nicht mehr körperlich angestrengt hatte, würde ich vor den Augen meiner Jugendliebe über einen Zaun klettern müssen. Ich schickte ein stummes Stoßgebet gen Himmel, dass ich mich nicht zu sehr blamieren möge. Dann reckte ich meinen Arm und hakte die Finger in den Maschendraht. Sobald ich festen Halt hatte, rüttelte ich ein wenig daran, nur um eine Vorstellung davon zu bekommen, womit ich es zu tun hatte. Dann sprang ich hoch und griff etwas weiter oben in den Draht. Da meine Finger bestimmt bald höllisch wehtun würden, vergeudete ich keine Zeit. Ich stemmte meinen Fuß gegen den Zaun und versuchte, die Schuhspitze in eine Drahtmasche zu quetschen. Da hing ich dann und suchte wenige Zentimeter über dem Bürgersteig nach Halt.
„Du bist immer noch so sexy wie früher“, stellte Chrissy leise fest, und trotz der Gefahr, in der wir selbst schwebten, und dem, was meinen Sohn erwartete, konnte ich nicht anders. Ich lachte. Ich musste so sehr lachen, dass ich gezwungen war loszulassen und von meinem fehlgeschlagenen Versuch, Eindruck zu schinden, wegzustolpern.
Chrissy versteckte ihr Lachen hinter ihren Händen. Ihre Augen funkelten. Wir wussten natürlich beide, was es war. Das Lachen war die nervöse Reaktion auf eine Angst einflößende Situation. Was es nicht weniger komisch machte.
„Hilf mir hinauf“, bat sie. „Wenn ich bis oben hinkomme, versuche ich, dich zu mir raufzuziehen.“
Ich trat wieder an den Zaun, verschränkte die Finger und beugte die Knie, wobei ich den Rücken gerade hielt. Chrissy stellte den rechten Fuß auf die Stufe, die meine Hände bildeten. Ihre Hände hatte sie leicht auf meine Schultern gelegt und atmete nun tief durch.
„Eins“, begann ich zu zählen und wippte dabei leicht, „zwei … drei.“
Auf drei richtete ich mich auf und hob die verschränkten Hände. Sie sprang und wurde nach oben katapultiert. Mit einer Hand bekam sie die Stange am oberen Ende des Zauns zu fassen und zog sich rasch hinauf, bis sie bäuchlings darüberhing. Sie hielt sich mit den Händen gut fest und schwang dann das rechte Bein über die Stange. Da saß sie nun und blickte auf mich herab.
„Ich kann dich nicht raufziehen“, stellte sie fest. Sie redete schnell und mit knappen Worten. Sie saß hoch oben und hatte Angst. Sie beugte sich vor, die Knie fest zusammengepresst und die rechte Hand in den Zaun gehakt. Die freie Linke streckte sie zu mir herunter. „So weit komme ich.“
„Ich kann dich nicht erreichen, Chrissy.“
„Dann such dir was zum Draufsteigen. Wenn ich mich noch weiter runterbeuge, falle ich.“
Ich schaute mich nach etwas um, auf das ich mich stellen konnte, doch die Straße war leer. „Ich bin sofort wieder da.“
„Wohin gehst du?“
„Ich muss den Wagen holen.“
„Beeile dich.“
Ich lief zurück zum Wagen. Die Sache gefiel mir überhaupt nicht. Ich drehte den Schlüssel vorsichtig im Schloss, als liefe der Motor dadurch leiser, und fuhr sehr langsam und ohne Licht zum Lagerhaus. Ich lenkte den Wagen auf den Bürgersteig und bremste weiter ab, bis der Seitenspiegel direkt unterhalb von Chrissy den Zaun streifte. Dann schaltete ich den Motor ab, stieg aus und kletterte auf die Motorhaube. Ich hielt mich am Zaun fest und sprang aufs Wagendach. Es gab mit einem dumpfen Geräusch ein wenig unter meinem Gewicht nach. Ich brachte mich in Stellung, beugte die Knie, holte tief Luft und sprang. Ich klammerte mich am Zaun fest und Chrissy packte mich mit der freien Hand, und nach einer ganzen Menge Ächzen und anstrengendem Herumhampeln saß ich ihr gegenüber rittlings auf dem Zaun. Wir hielten uns aneinander fest.
„Wir werden runterspringen müssen“, sagte ich.
Sie lächelte ziemlich humorlos. „Du zuerst.“
Sie ließ mich los, ich umklammerte die Stange mit beiden Händen und schwang mein anderes Bein darüber. Ich ließ mich so weit wie möglich hinunter und ließ mich dann ganz fallen. Meine Fersen schmerzten, als ich auf dem Boden aufkam, der Zaun schepperte und ich biss mir auf die Zunge.
„Alles in Ordnung?“, flüsterte Chrissy.
Ich nickte zu ihr hinauf, eine Hand über dem Mund, und blinzelte Tränen weg, während ich im Kreis herumhumpelte. Sie schwang ihr anderes Bein über die Stange und ließ sich genau wie ich herunter.
„Fang mich“, flüsterte sie und ließ los. Sie fiel in meine Arme. Sie war schwerer, als ich gedacht hatte, aber ich hielt sie fest. Ich stellte sie auf die Füße und sie blickte mich stirnrunzelnd an. „Ist auch bestimmt alles in Ordnung mit dir?“
„Ich hab mir auf die Zunge gebissen“, erwiderte ich etwas beschämt.
„Vielleicht küsse ich den Schmerz später weg“, meinte sie grinsend. „Vorausgesetzt, wir überleben das …“
Sie packte mich und zog mich schnell hinter eines der geparkten Autos. Ein paar Sekunden kauerten wir dort regungslos. Dann spähte ich über die Kühlerhaube. Ich sah einen Wachmann. Er ging, als sei er diese Strecke an diesem Abend schon hundert Mal gegangen. Er war wachsam, aber nicht misstrauisch – sonst hätte ihm der Wagen auf der anderen Seite des Zauns auffallen müssen. Es war pures Glück, dass er uns nicht entdeckte.
Er schaute auf seine Uhr und steckte dann die Hände wieder in die Manteltaschen. Als er das Lagerhaus durch eine Seitentür betrat, leuchte auf dem Türrahmen kurz ein blaues Licht in einem seltsamen Muster auf. Es erinnerte mich an die Alarmeinrichtungen, die ich in Filmen gesehen hatte – grünes Licht bedeutete befugte Person, rotes Licht unbefugter Eindringling. Ich hatte so ein Gefühl, dass das Licht rot leuchten würde, falls wir hineinzugehen versuchten. Als er verschwunden war und wir sicher sein konnten, dass uns niemand entdecken würde, joggten wir zur Tür hinüber. Kurz davor wurden wir langsamer.
Ich hatte ein in die Wand eingelassenes elektronisches Schaltfeld erwartet. Doch das Muster, eine Art obskures Symbol, war lediglich aufgemalt. Ich strich mit dem Finger darüber. Keine Spur von Elektronik. Vielleicht war es überhaupt keine Alarmanlage. Vielleicht hatte uns nur das Licht einen Streich gespielt. Ich wollte dennoch nicht daran vorbeigehen, bevor ich nicht …
Chrissy trat mit einem großen Schritt über die Schwelle. Ich hielt die Luft an – doch das Symbol blieb dunkel. Keine Sirene begann zu heulen. Sie zuckte mit den Schultern, während ich mich bemühte, meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ich zog den Revolver aus der Jackentasche und folgte ihr.
Wir gingen leise an einem kleinen Büro vorbei und erreichten die Ecke, hinter der sich der eigentliche Lagerraum befand. Darin standen zwei Tische. Einer, in der Mitte des riesigen Raumes, war breit und schwer und mit einem weißen Tuch bedeckt. Auf dem anderen, drüben bei der Wand, standen eine Kaffeekanne und zwei Tabletts mit Sandwiches. Fünf Mitglieder des Moon-Volkes hatten sich darum versammelt und unterhielten sich leise.
Skulduggery Pleasant und Walküre saßen mit dem Rücken an einen Stahlträger gelehnt. Sie waren mit Ketten gefesselt. Pleasant saß mit dem Rücken zur Tür, doch Walküre schaute uns direkt an. Ihr linkes Auge war fast gänzlich zugeschwollen und an ihrem Kinn klebte angetrocknetes Blut. Als sie mich sah, drehte sie sich ein Stück zur Seite und flüsterte etwas. Pleasant bewegte sich, er nickte. Ich zeigte ihr den Revolver und sie schüttelte sofort den Kopf. Ich schaute hinüber zu Moons Anhängern. Keiner schien bewaffnet zu sein.
Plötzlich ging scheppernd das Tor auf und ein blauer Lieferwagen fuhr herein. Sobald er in der Halle war, gingen die Scheinwerfer aus. Der Wachmann zog das Tor zu und der Lieferwagen rollte im Schritttempo auf die linke Seite der Lagerhalle. In der Mitte stand weiterhin nur der Tisch mit dem weißen Tuch darauf. Der Wagen hielt und der Motor wurde ausgeschaltet.
Bubba Moon stieg aus. Er sah aus wie der erwachsene Pete Green, aber er war es nicht. Er hatte irgendetwas Merkwürdiges an sich, etwas Merkwürdiges in der Art, wie er sich bewegte – als sei er auch nach all den Jahren noch nicht ganz dahintergekommen, wie er mit seinem neuen Körper umzugehen hatte. Als passte er nicht ganz hinein. Er war groß und schlank und hatte noch volles Haar. Er trug ausgefranste Jeans und Cowboystiefel, und als er durch die Halle schritt, zog er sein Hemd aus und ließ es auf den Boden fallen.
Sein Oberkörper war voller Narben.
Vor Jahren musste sich jemand mit einem Messer ans Werk gemacht haben. Bizarre Symbole, die denen an der Lagertür glichen sowie denen, die wir als Kinder im Keller gesehen hatten, waren wie grausame Tattoos sorgfältig in seine Haut geritzt worden. Die Art und Weise, wie er vor seinen Leuten damit angab, brachte mich auf den Gedanken, dass es wahrscheinlich sein eigenes Werk war – und etwas in seinem Grinsen sagte mir, dass er währenddessen die ganze Zeit bei vollem Bewusstsein war.
„Brüder und Schwestern“, begann er, und seine Stimme hallte in dem riesigen Raum wider, „ich danke euch für euer Kommen an diesem wahrhaft besonderen Tag.“
Bubba Moon sprach mit einem Südstaatenakzent, den Pete Green nie gehabt hatte.
„Wir können uns glücklich schätzen, wahrhaft glücklich, für das Opfer dieses Monats zwei Zeugen zu haben. Zwei geschätzte Gäste von der Grünen Insel, die nur für eine Nacht hier sind. Ladys und Gentlemen, darf ich euch Skulduggery Pleasant und Walküre Unruh vorstellen.“
Seine Leute applaudierten. Jetzt, da ich sie mir genauer anschaute, sah ich die Wunden und blauen Flecken, die sie alle hatten. Einer trug den Arm in Gips. Jeder Einzelne von ihnen sah aus, als hätte er zwölf Runden gegen einen Preisboxer hinter sich.
Moon schlenderte zu seinen Gefangenen hinüber. „Pleasant und Unruh, wir haben allerhand Geschichten von euren Heldentaten und Abenteuern gehört und ich fühle mich wirklich geehrt. Nie im Leben hätte ich erwartet, dass unsere bescheidene kleine Unternehmung hier eure Aufmerksamkeit wert wäre. Wir sind nur einfache Leute.“
Er grinste. Einige seiner Anhänger lachten. Das Grinsen hielt sich nicht lange. „Allerdings habt ihr sechs meiner Freunde heute Morgen krankenhausreif geschlagen. Mit unserem begrenzten Wissen über medizinische Vorgänge taten wir, was wir konnten, aber diese Freunde, unsere sehr guten Freunde, schmachten jetzt in Krankenhausbetten und werden von ungeschickten sterblichen Ärzten versorgt. Und das geht … das geht einfach nicht in Ordnung.“
Er versetzte Pleasant einen Tritt in die Seite.
„Aber ich bin nicht nachtragend“, fuhr er fort. „Ich habe eine einfache Lebensphilosophie: Füge anderen zu, was sie dir zugefügt haben. Ihr habt mir die Ehre erwiesen und seid in diese entlegene kleine Stadt gekommen. Ihr habt mich mit eurem Interesse an mir, an uns und an unserer Arbeit hier beehrt. Erlaubt mir deshalb, mich zu revanchieren. Ich will Sie ehren, Sir, Sie und Ihre Partnerin.“
Er lächelte auf Walküre hinunter. „Walküre, Walküre, Walküre … Wie alt bist du, Walküre? Siebzehn, nicht wahr? Genau genommen schon ein wenig zu alt, um als Opfer zu dienen … aber heute können wir eine Ausnahme machen, nicht wahr?“
Zwei seiner Anhänger eilten herbei. Sie lösten die Ketten, mit denen Walküre an den Pfeiler gefesselt war, und zogen sie auf die Füße. Sie stürzte sich auf einen von ihnen, doch ihre Hände waren auf dem Rücken gefesselt und Moon machte einen Schritt auf sie zu und schlug sie mit solcher Kraft, dass sie fast hingefallen wäre.
„Halte dich an die Spielregeln, sonst darfst du nicht mitspielen“, drohte er.
Die beiden Männer schleiften sie zum Tisch. Moon wandte seine Aufmerksamkeit Pleasant zu, der sich zu Wort meldete.
„Ein Opfer? Ein Blutopfer? Ihr macht das immer noch?“
Ich hätte gern einen Blick auf sein Gesicht geworfen, nur um zu wissen, ob er so cool aussah, wie er sich anhörte.
Moon zuckte mit den Schultern. „Es ist ein wenig altmodisch, sicher, aber wir machen das jetzt seit Jahrzehnten und bis heute sind keine Klagen gekommen.“
„Auch nicht von den Opfern?“
„Oh, sicher, die beklagen sich natürlich. Aber sie haben ohnehin immer schlechte Laune.“
„Und darf ich fragen, wem ihr die Opfer darbringt? Nur zu meinem persönlichen Amüsement, Sie verstehen.“
Moon lachte. „Das ist es ja gerade, Detektiv Pleasant, ich weiß es selbst nicht. Ich weiß nur, dass mir in einem besonders lebhaften Traum ein Wesen erschienen ist, das mich mit Staunen und Ehrfurcht erfüllt hat. Es sagte mir, ich sei ein unverzichtbares Mitglied der Anti-Sanktuariums-Bewegung. Es sagte mir, ich solle gleichgesinnte Individuen um mich scharen und bei jedem unserer Treffen müssten wir ihm das Blut eines Sterblichen opfern.“
„Es gibt keine Anti-Sanktuariums-Bewegung“, entgegnete Pleasant.
„Dazu kann ich nur sagen, dass es sie doch gibt und dass ich ein unverzichtbarer Teil davon bin.“
„Weil Sie einen Traum hatten.“
Moon lächelte. „Zweifeln Sie meinetwegen alles an, Detektiv Zynisch, Detektiv Skeptisch. Aber ich kenne die Wahrheit und mein Volk kennt sie auch. Wir haben gesehen, was auf der anderen Seite lauert. Und im Lauf der nächsten Minuten werden Sie es auch sehen.“
In Gedanken ging ich alles Mögliche durch, was ich sagen könnte – Stehen bleiben! Keine Bewegung! –, bis einer von Moons Leuten zur Rückseite des Lieferwagens ging und Sammy herauszog. Er war geknebelt und an den Händen gefesselt. Er hatte geweint und schien panische Angst zu haben, als er zu dem Tisch gestoßen wurde, der für mich zum Opferaltar geworden war. Ich trat vor und hob den Revolver.
„Stopp!“, kreischte ich. „Einfach aufhören! Lasst meinen Sohn gehen! Lasst alle gehen!“
Bubba Moon und seine Anhänger schauten mich lediglich überrascht an. Chrissy kam ebenfalls aus der Deckung und stellte sich dicht neben mich.
Auf Moons Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Schaut euch das an. Schaut euch an, in welcher Situation wir uns da befinden. Das ist ja ein richtiges Klassentreffen! Mein ältester Freund und meine erste Liebe. Und ich dachte, diese Nacht könnte noch außergewöhnlicher nicht werden …“
„Du bist nicht Pete“, sagte ich. Meine Hand mit dem Revolver zitterte entsetzlich, weshalb ich sie mit der Linken stützte. „Du bist Bubba Moon. Ich weiß alles über dich.“
„Das bezweifle ich.“ Wieder lächelte Moon. „Chrissy. Das Leben hat dir ziemlich zugesetzt, nicht wahr? Schuld ist wahrscheinlich der Nichtsnutz, den du geheiratet hast. Ja, ich weiß Bescheid. Du konntest dich nie wirklich entfalten, was? Man hat dir früh die Flügel gestutzt.“
„Komm hier rüber, Sammy“, sagte ich.
Sammy schaute sich um, vergewisserte sich, dass niemand versuchen würde, ihn daran zu hindern, und rannte dann herüber. Moon lachte in sich hinein.
Ich zielte mit dem Revolver auf den Mann, der Walküre festhielt. „Lass sie los. Nimm ihr die Handfesseln ab.“
Der Mann schaute hinüber zu Moon, der auf seine Uhr blickte. Aus irgendeinem Grund lächelte er daraufhin noch breiter. „Tu, was mein Freund sagt.“
Wenige Sekunden später war Walküre frei. Kaum war sie ihre Fesseln los, seufzte sie, als sei die Freiheit nicht das Einzige, das ihr geraubt worden war. Sie nahm dem Mann den Schlüssel ab und warf ihn Chrissy zu.
„Hilf meinem Freund“, bat sie.
Chrissy ging sofort zu dem Pfeiler, wo Pleasant saß.
Moon schien das alles nicht zu kümmern. Sein Blick war auf mich gerichtet. „Wie ist es dir so ergangen, Kumpel? Warst du in letzter Zeit wieder mal mit dem Skateboard unterwegs? Dein alter Herr hat dir das vielleicht nicht erzählt, Sammy, aber als wir Kinder waren, nur ein paar Jahre jünger als du jetzt, war er der King auf dem Skateboard. Er war ziemlich cool damals. Wir sind im Park geskatet, obwohl das nicht erlaubt war. Wir haben die Tauben und die alten Leute erschreckt. Das waren Zeiten, wie?“
Es lief alles nach Plan. Der Revolver zitterte weniger, als ich auf ihn zielte. „Du bist nicht Pete.“
„Aber ich bin hier drin bei Pete“, erwiderte Moon. „Ich weiß alles, was er weiß. Ich weiß, dass wir beide, du und ich, in Chrissy Brennan verknallt waren. Ich weiß, dass sie mich bevorzugt hat.“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie diesbezüglich ihre Meinung inzwischen geändert hat“, erwiderte ich und Moon lachte.
Als die Kette fiel, schaute ich hinüber zu Pleasant und sah, wie er aufstand. Bevor er hinter dem Pfeiler hervorkam, fasste er sich an den Hemdkragen, als wollte er seine Krawatte zurechtrücken. Dann trat er vor und ich runzelte die Stirn. Das war nicht Pleasant. Er war genauso groß und genauso schlank und trug auch einen ähnlichen Anzug, doch dieser Mann war weiß. Er war gut aussehend, aber unrasiert und das braune Haar war ganz zerzaust.
Das war nicht der Mann, dem ich am Abend zuvor begegnet war, doch als er sprach, tat er es mit der Stimme von Skulduggery Pleasant. „Ich muss zugeben, das ist befremdlich. Sie hätten meinen Freund hier ohne Weiteres entwaffnen können, haben es aber nicht getan.“
„Nein, haben wir nicht“, bestätigte Moon. Dann wies er auf das Gesicht des Mannes. „Das gefällt mir übrigens. Vertrauenerweckend.“
Dieser Mann – der maskierte Pleasant? – beobachtete Moon aus zusammengekniffenen Augen. „All das lässt mich vermuten, dass Sie noch ein Ass im Ärmel haben. Und der Gedanke gefällt mir nicht, wenn ich ehrlich bin.“
Moon lächelte. „Das würde mir genauso gehen.“
„Sie haben auf Ihre Uhr geschaut, bevor Sie erlaubten, dass Walküre freigelassen wurde. Uns läuft die Zeit davon, richtig? Ihnen nicht, aber uns. Erwarten wir noch jemanden?“
„So ist es.“
„Jemanden, neben dem Walküre und ich keine Gefahr mehr darstellen?“
„Ganz genau.“
Skulduggery Pleasant – ich war zu dem Schluss gekommen, dass er es sein musste, dass er nur eine Art Verkleidung trug – nickte. „Mir gefällt absolut nicht, wie das hier abläuft. Aber wenigstens bin ich nicht mehr gefesselt. Das ist immerhin etwas.“
„Freut mich, dass Sie es so sehen.“
Chrissy kam wieder herüber und stellte sich neben mich. Sammy blieb hinter uns. Er war bleich, hatte panische Angst, war immer noch gefesselt und geknebelt, doch seine Augen hingen an Pleasant, nicht an Moon.
Moon schaute erneut auf seine Uhr. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Es ist so wei–“ Mehr konnte er nicht sagen, bevor sich ein Loch in der Luft auftat und ein Licht herausströmte. Ich sah etwas in diesem Licht, ich sah etwas und wusste irgendwie, dass es sich bei dem Licht um ein Portal handelte, dass dieses Portal irgendwo hinführte, an einen schrecklichen Ort. Und ich sah das Gesicht eines Ungeheuers in diesem Licht. Das Licht wuchs und wuchs und explodierte und –