
VIER
Deacon Mayburys Apartment war verwüstet.
Skulduggery und Walküre gingen als Erste hinein und vergewisserten sich, dass keine Gefahr bestand. Dann kam Ryan langsam nach. Der verschlissene Teppich war mit Papieren übersät. Die hässliche Couch hatte man aufgeschlitzt und das Polstermaterial wie flauschige Innereien herausgerissen. Stühle waren umgeworfen worden, Bilderrahmen zerbrochen und sämtliche Schubladen herausgerissen und der Inhalt ausgeschüttet und im Zimmer verstreut.
„Wonach genau suchen wir in diesem Durcheinander eigentlich?“, erkundigte sich Walküre.
Skulduggery arbeitete sich durch die Trümmer. „Foe hat die Doomsday-Maschine irgendwo versteckt. Wir müssen herausfinden, wo. Vielleicht haben wir Glück und stellen fest, dass Deacon ein eifriger Tagebuchschreiber war. Aber wenn wir keine eindeutige Spur finden, die uns zu der Maschine führt, ist vielleicht etwas anderes hier, ein Indiz oder ein Name, irgendetwas, das uns einen Schritt weiterbringt.“
Walküre seufzte. „Ich hasse die Suche nach Indizien.“
Ryan gefiel Walküres süßes Schmollgesicht und er lächelte beglückt.
„Die Suche nach Indizien ist unverzichtbarer Bestandteil der Detektivarbeit“, erklärte Skulduggery ihr.
„Mir gefällt der Teil, bei dem wir Leute zusammenschlagen, besser.“
„Das liegt an deiner gewalttätigen Natur. Du solltest dich bemühen, friedliebender zu sein, so wie Ryan.“
Ryan hörte auf, Walküre anzuhimmeln, und runzelte die Stirn. „Wieso bin ich friedliebend?“
„Hm?“ Skulduggery schaute auf. „Oh, ich habe das nur so dahingesagt. Es ist reine Vermutung, dass du friedliebend bist, weil du in Sachen Gewalt eine totale Niete zu sein scheinst. Außerdem schreist du ziemlich viel.“
„Nur weil ich mich nicht jeden Tag in eine Schlägerei verwickeln lasse, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht kämpfen kann“, verteidigte Ryan sich hitzig.
„In Sachen Gewalt kein Ass zu sein, ist keine Schande“, beschwichtigte Skulduggery. Er richtete einen Aktenschrank auf und suchte darin herum. „Wenn es mehr Leute wie dich auf dieser Welt gäbe, bräuchte man weniger Leute wie uns.“
„Ich bin sicher nicht von Natur aus gewalttätig“, knurrte Walküre.
„Und ich bin nicht friedliebend“, beharrte Ryan.
„Aber du schreist ziemlich viel“, wiederholte Skulduggery.
„Woher willst du das wissen? Du kennst mich gerade mal zwei Stunden.“
„Und diese zwei Stunden hast du hauptsächlich mit Schreien zugebracht.“ Skulduggery zuckte mit den Schultern. „Da lässt sich der logische Schluss doch kaum widerlegen, oder?“
„Ich bin nicht von Natur aus gewalttätig“, wiederholte Walküre.
„Natürlich nicht.“ Skulduggery ging weiter die Akten in dem Schrank durch. „Vergiss es.“
Walküre schmollte und machte sich an die Durchsicht der Papiere auf dem Boden.
Sein verzweifelter Versuch, seine Männlichkeit zu verteidigen, hatte sie nicht sonderlich interessiert. Ryan konnte es ihr nicht übel nehmen. Sie war eine Zauberin, die jeden zweiten Tag gegen Bösewichter kämpfte. Er war ein pummeliger Loser, der seine Kämpfe von einem Mädchen austragen lassen musste. Es gab nur eine Möglichkeit, ihre Meinung über ihn zu ändern: Er musste etwas so Tapferes und Edles vollbringen, dass sie gar nicht anders konnte, als beeindruckt zu sein.
Er drehte sich um – und schrie. In der Tür stand eine Frau mittleren Alters.
Die Frau erschrak bei dem Schrei, jedoch nicht halb so sehr wie Ryan bei ihrem Anblick. Es hatte sich dieses Mal um einen überraschend spitzen Schrei gehandelt, was dazu führte, dass Walküre sich schützend vor Ryan stellte. Das machte die Sache noch schlimmer.
„Oh“, hauchte die Frau mittleren Alters. Sie trug ein geblümtes Kleid und eine Strickweste. Für eine Frau mittleren Alters wirkte sie nicht besonders furchteinflößend.
Skulduggery trat vor. Sein neues künstliches Gesicht lächelte breit. „Guten Tag“, grüßte er. „Wie geht es Ihnen an diesem wunderschönen Tag? Kommen Sie herein, kommen Sie herein. Sie sind …?“
„Francine“, antwortete die Frau etwas aufgeregt. „Ich wohne am Ende des Flurs. Was machen Sie in Deacon Mayburys Apartment?“
„Sie kennen Deacon?“, fragte Skulduggery. Walküre ging um die Frau herum, schaute nach, ob noch jemand auf dem Flur war, trat wieder in die Wohnung und schloss die Tür.
„Ja, schon.“ Francine blickte Walküre stirnrunzelnd an und wandte sich dann wieder an Skulduggery. „Er ist mein Nachbar und ein anständiger Mann. Wenn Sie ihn ausrauben wollen, muss ich Sie warnen – wir sehen das hier nicht als Kavaliersdelikt an.“
„Wir rauben ihn nicht aus“, beruhigte Skulduggery sie. „Aber ich habe Ihnen leider eine traurige Mitteilung zu machen.“
Francine riss erschrocken die Augen auf. „Ist etwas mit Deacon?“
„Ja.“
„Ist er krank?“
„Ein bisschen schlimmer.“
Sie keuchte. „Er liegt im Sterben?“
„Er ist mal kurz gestorben. Jetzt ist er tot.“
Francine klappte der Unterkiefer herunter. „Was? Deacon … Deacon ist tot?“
„Leider.“
„Oh nein. Oh nein, nein, nein.“ Sie sackte zusammen und Walküre konnte sie gerade noch auffangen. „Mein Deacon … mein armer Deacon …“
Walküre wankte zu dem einzigen noch aufrecht stehenden Stuhl und lud Francine darauf ab.
„Er war so stark“, schluchzte Francine. „So stolz. So würdevoll. Wie ist er gestorben?“
„Häcksler“, antwortete Walküre.
Francine heulte und trommelte mit den kleinen Fäusten auf den Tisch. „Warum?“, rief sie. „Warum hast du ihn geholt, Herr?“
Walküre schaute Skulduggery an und Skulduggery zuckte mit den Schultern.
„Äh“, begann Walküre, „mein Beileid zum, Sie wissen schon, zum Tod Ihres Nachbarn. Er war bestimmt ein großartiger … er war bestimmt …“ Sie wusste nicht mehr weiter und konnte nur ebenfalls mit den Schultern zucken.
Ryan blickte zu Skulduggery hinüber, doch der machte keine Anstalten, die arme Frau irgendwie zu trösten. Also trat er einen Schritt vor, was ihn selbst überraschte. „Sie haben ihn offenbar sehr geliebt“, begann er.
„Oh ja“, schluchzte Francine.
„Und er hat Sie sicher auch geliebt.“
Francine schaute auf. Ihre Augenlider waren rot und geschwollen und ihr Blick flehte ihn an. „Hat er je von mir gesprochen?“
Ryan zögerte, und Walküre, die hinter Francine stand, grinste schadenfroh. „Ständig“, antwortete er schließlich. „Ja. Du liebe Zeit, wann immer wir miteinander geredet haben, ging es nur Francine hier und Francine da und … ooh, wie ich Francine liebe.“
„Das hat er gesagt?“
„Äh, so etwas in der Richtung auf jeden Fall.“
Francine legte beide Hände auf ihre Brust. „Ich wusste es. Ich wusste, dass er mich liebt. Alle diese langen Momente des Schweigens. Die vielen Augenblicke voller Verlegenheit. Ich hätte ihm sagen sollen, dass ich dasselbe empfinde. Dann hätten wir … Dann hätten wir …“
Sie konnte nicht mehr weiterreden vor lauter Schluchzen. Hinter ihr reckte Walküre den Daumen in die Luft. Ryan hatte so ein Gefühl, es könnte sarkastisch gemeint sein.
„Haben Sie oft mit Deacon gesprochen?“, erkundigte sich Skulduggery. Er beugte sich zu ihr herunter und tätschelte ihre Hand. „Haben Sie einander erzählt, wie Ihr Tag war? Haben Sie sich Dinge anvertraut …?“
„Bei unserer Art von Liebe brauchte es keine Worte“, blubberte Francine.
„Wie unpraktisch“, murmelte Skulduggery, richtete sich sofort wieder auf und trat zur Seite.
„Francine“, begann Ryan noch einmal, „wir suchen nach etwas, das Deacon für uns aufbewahrt hat. Wissen Sie, wo es sein könnte? Es ist etwas Großes, so groß wie ein Haus.“
Francine blinzelte die Tränen weg. „Was hätte er haben können, das so groß war wie ein Haus?“
Ryan runzelte die Stirn. Darauf wusste er beim besten Willen keine Antwort.
„Ein Haus“, mischte sich Walküre rasch ein. „Er hatte ein Haus. Das er für uns aufbewahrt hat. Eines von diesen Mobilheimen, Sie wissen schon.“
„Ein Mobilheim?“, hakte Francine nach.
„So etwas Ähnliches. Ein bisschen größer. Hat er jemals erwähnt, dass er in einer Lagerhalle oder einem großen Schuppen war?“
Francine runzelte die Stirn. „Hm, ich … ich habe mal gehört, wie er am Telefon erwähnt hat, dass er den Papierkram für ein ganzes Warenhaus hätte und sein Aktenschrank bald aus allen Nähten platzt.“
Skulduggery trat wieder an den Aktenschrank. „Es muss hier irgendwo sein.“
Walküre ging ins Schlafzimmer und nahm es auseinander.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, wollte Francine wissen.
„Nein“, beruhigte Ryan sie. „Im Gegenteil, Sie waren uns eine große Hilfe. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Eine Tasse Tee oder …?“
Francine erhob sich langsam. „Ich sollte wieder in meine Wohnung gehen. Ich muss mich hinlegen. Das ist alles … das ist alles ein schwerer Schock für mich.“
„Es tut mir wirklich leid“, versicherte ihr Ryan.
Sie lächelte matt, machte einen Schritt und schwankte.
Mit einem Satz war Ryan bei ihr und legte ihren rechten Arm um seinen Hals. „Ich helfe Ihnen.“
„Danke.“ Eine Träne rollte ihr über die Wange. „Du bist sehr nett.“
Während Skulduggery und Walküre suchten, wankte Ryan mit Francine aus dem Apartment und den Flur hinunter. Sie war leicht, aber ungelenk.
„Deine Freunde sind etwas merkwürdig“, meinte sie.
„Ich weiß.“
„Aber hübsch ist das Mädchen. Ist sie deine Freundin?“
Ryan lachte und merkte, dass er rot wurde. „Nein, nein. Wir haben uns heute erst kennengelernt.“
„Mein Apartment ist dort um die Ecke.“ Francine wies mit der Hand nach vorn und schniefte. „Willst du meinen Rat? Mach nicht denselben Fehler, den ich mit Deacon gemacht habe. Rede mit ihr über deine Gefühle.“
„Ich habe sie wirklich erst heute kennengelernt.“
„Aber du magst sie, nicht wahr?“
„Ich … ja, ich glaube schon.“
Er bog mit ihr um die Ecke.
„Nutze den Augenblick“, riet Francine. „Du weißt nie, wann dir das Glück wieder hold ist.“
„Ich werde drüber nachdenken“, versprach Ryan. Er hoffte, dass sie das Thema wechselte, bevor jemand anders mitbekam, worum es ging.
„Das da vorn ist meine Wohnung.“ Francine hielt sich ein wenig aufrechter. Ihr Arm rutschte von seiner Schulter. „Du bist wirklich sehr nett. So gute Manieren, mich bis zur Tür zu begleiten.“
„Kein Problem.“
„Leider wird es eines werden“, erwiderte Francine.
„Bitte? Was wird es werden?“
„Ein Problem. Ein Riesenproblem.“
Aus dem Apartment, vor dem sie standen, trat Vincent Foe.