Vignette

EINS

Vermutlich hat jede Stadt ein Geisterhaus, und Bredon, so klein es auch war, machte hier keine Ausnahme. Mein älterer Bruder und seine Freunde gingen oft zu dem Haus hinauf und forderten sich als Mutprobe gegenseitig dazu auf, an die Tür zu klopfen. Er erzählte mir einmal, dass er, als er an der Reihe war, die Herausforderung angenommen hätte, als gäbe es nichts, was er lieber täte. Er hatte sich über die Angst der anderen lustig gemacht und war entschlossen, sich auch nicht die leiseste Spur einer solchen Furcht anmerken zu lassen.

Eines Mittwochnachts im Hochsommer schlichen sie sich hinaus und radelten im Licht des Vollmonds zu dem Haus. Der Vollmond war bei solchen Unternehmungen wichtig, erzählte er. Wir waren Kinder und wussten solches Zeug. Sie erreichten das Haus kurz vor Mitternacht und warteten, bis Ryan Sandersons brandneue Digitaluhr um 23:59 Uhr piepte. Mein Bruder hatte genau eine Minute Zeit, um das Gartentor zu öffnen, den Weg hinaufzugehen, an dem das Unkraut aus allen Ritzen wuchs, und an die Tür zu klopfen. Die Mitternacht war bei solchen Unternehmungen wichtig. Das wussten wir ebenfalls.

Mein Bruder stieß also das Eisentor auf, das vor Rost und Alter quietschte, und lachte, weil alles so gruselig war. Seine Freunde hinter ihm lachten auch. Er tat so, als sei der Weg ein großes Himmel-und-Hölle-Spiel, und sprang und hüpfte unter Gelächter und Anfeuerungsrufen die ganze Strecke hinauf. Doch mein Bruder war nicht mehr am Lachen. Mir gegenüber gab er zu, dass er das Lachen auf seinem Gesicht festgekleistert hätte, als er merkte, dass es zu verrutschen drohte. Er gab zu, dass alles umso realistischer wurde, je näher er dieser Tür kam. Die ganzen Geschichten. Die ganzen Gerüchte. Die ganzen gruselig-schaurigen Träume.

Er erreichte die drei Stufen, die zur Haustür hinaufführten. So aus der Nähe sah er erst, wie alt das Holz tatsächlich war. Er sah die kaputte Türklingel, aus der die Drähte heraushingen. In diesem Teil der Stadt war es vollkommen dunkel. Keine Straßenlaternen. Gleich hinter dem Haus begann der Wald. An den Bäumen dort schienen nie Blätter zu sprießen. Unbewegt standen sie vor dem dunklen Himmel, als warteten sie darauf, dass etwas Schlimmes passierte.

Alle diese Gedanken, so erzählte mein Bruder, schossen ihm durch den Kopf. Diese und noch mehr. Der größte und dunkelste Gedanke, der schwerste, der auf allen anderen lastete, war, von jemandem beobachtet zu werden, in dem kein Funken Güte steckt. Er spürte boshafte, gierige Augen voller Hass auf sich gerichtet, und ihm war, als würde das Haus ihn verschlingen, falls er ihm zu nah kam.

Also blieb er auf der untersten Stufe stehen, beugte sich, so weit es ging, vor und klopfte drei Mal an die Tür. Drei laute Klopfer, so laut, dass sie Tote hätten aufwecken können. Und obwohl er zu denen gehörte, die es geschafft hatten, brach bei dem Geräusch etwas in ihm. Er gab Fersengeld und stürzte davon, zurück zu dem Gejohle und Gebrüll seiner Freunde. Und sie schnappten ihre Fahrräder und radelten davon, als sei der Teufel selbst hinter ihnen her.

Das alles erzählte er mir eines Sonntagabends, Jahre später, direkt bevor er mit seinen College-Freunden loszog. Das war seine Version eines aufmunternden Zuspruchs, denn an diesem Abend war ich an der Reihe, um an diese Tür zu klopfen, und er wusste es. Dann ging er weg und lachte, weil ich so blass geworden war.

Meinen Eltern sagte ich, dass ich früh ins Bett ginge. Mein Dad knurrte, als hätte er mir gar nicht richtig zugehört, und schaute nicht von dem Buch auf, das er gerade las. Meine Mom blickte stur auf den Fernseher. Sie schaute sich irgendeine Gameshow an. Ihre Lieblingssendung war Glücksrad. Dad behauptete, er hasse Gameshows, aber ich erwischte ihn oft genug, wie er vor dem Fernseher klebte, wenn Jeopardy! lief, sodass wir uns schließlich heimlich die Sendung anschauten, nur wir zwei. Das gehört zu meinen liebsten Erinnerungen an meinen Dad, selbst jetzt noch.

Ich ging in mein Zimmer, knipste das Licht aus und legte mich komplett angezogen ins Bett. Keine Ahnung, weshalb ich das tat. Meine Eltern kontrollierten mich sowieso nie.

Um 23:20 Uhr stand ich wieder auf. Im Wohnzimmer lief immer noch der Fernseher. Ich steckte meine Taschenlampe ein, kletterte aus dem Fenster, krabbelte übers Garagendach und sprang zu der Stelle hinunter, wo mein Fahrrad lag. Ich radelte hinüber zu Pete Greens Haus und gemeinsam radelten wir zur Schule weiter. Pete und ich sind Freunde gewesen, seit wir klein waren. Wir mochten dieselben Dinge. Wir mochten Skateboards, Comics, Star-Wars-Filme und Arcade-Spiele. Ich hatte seither keinen Freund mehr wie ihn und bezweifle, dass ich noch einmal einen von seiner Sorte finden werde.

An der Schule warteten bereits Benny und Tyler auf uns und außerdem Chrissy. Mit Chrissy hatte ich nicht gerechnet und Pete genauso wenig. Sie war noch etwas, das wir beide mochten.

Pete bremste und ließ das Hinterrad seines Fahrrads in einem beeindruckenden Bogen herumschleudern. Hätte ich das auch probiert, wäre ich garantiert auf die Schnauze geflogen, weshalb ich abbremste und ganz normal anhielt. Ich schaute zu den Jungs hinüber und tat so, als bemerkte ich Chrissy nicht, weil ich sonst rot geworden wäre.

„Bist du bereit?“, fragte Benny mit einem Grinsen auf dem Gesicht.

Ich zuckte mit den Schultern und bemühte mich, cool zu wirken.

„Er macht sich in die Hose“, behauptete Pete lachend und ich lachte mit den anderen mit, nur um ihnen zu zeigen, was für ein guter Witz das war. Auch wenn wir gute Freunde waren, hielt ich es für das Beste, in Petes Lachen einzustimmen. Er hatte eine spitze Zunge, und wer nicht vorsichtig war, bekam sie zu spüren.

Wir fuhren die Mulgarvey Street hinauf, erreichten den Stadtrand, wo die Straßen schmaler wurden, und kamen endlich zur King Road. Vor dem Schrottplatz bogen wir ab, radelten noch ein paar Minuten weiter und kamen zu dem Haus ganz oben auf dem King Hill.

Es stand da ganz allein wie ein schlechter Einfall. Es war dunkel und baufällig und einige Fenster und die Tür waren mit Brettern vernagelt. Allerdings gab es keine Graffitis. Ich kannte keinen Jugendlichen, der den Mut gehabt hätte, die gelb gewordenen Wände dieses Hauses zu besprühen.

Wir stellten unsere Räder ab und ich ging zum Tor. Zum Tor zu gehen, war noch einfach. Dabei mutig auszusehen, kostete ebenfalls keine große Anstrengung. Die Probleme begannen beim Durchgehen. Das Haus schaffte eine bestimmte Atmosphäre. Je näher man kam, desto deutlicher war sie zu spüren. Es war eine unangenehme Atmosphäre, bei der einem flau und schwindelig wurde, während sich die Arme mit Gänsehaut überzogen. Es war kein gutes Haus. Das wusste jeder.

Aber ich hatte wahrscheinlich eine Geheimwaffe. Ich hatte Chrissy Brennan, die mich beobachtete. Und ich wusste, es war ausgeschlossen, ganz einfach ausgeschlossen, dass ich vor ihr kneifen würde. Meine Hand griff nach dem Tor, stieß es auf.

Es quietschte, genau wie in einem Horrorfilm.

Ich schaute nicht zurück. Sie hätten sonst gesehen, wie blass ich war. Wie viel Angst ich hatte. Ich setzte einen Fuß auf den Gartenweg – obwohl es hier nie einen richtigen Garten gegeben hatte und von einem Weg auch nicht mehr viel übrig war. Lediglich ein paar Pflastersteine, wie Inseln in einem Meer aus hohem Gras. Ich trat von Insel zu Insel und konzentrierte mich ganz darauf, wandte meine Gedanken ab von dem Haus, das plötzlich drohend vor mir aufzuragen schien. Von Insel zu Insel. Schritt für Schritt. Es war mir nicht wirklich bewusst, wie viel Zeit ich dafür brauchte, und als ich aufschaute, stellte ich bestürzt fest, dass ich erst die Hälfte geschafft hatte.

Etwas in mir geriet ins Wanken.

„Alles in Ordnung, Kumpel?“, rief Pete.

Ich nickte und schaute zurück. Chrissy stand mitten unter den Jungs und fasste sich mit den Händen an den Hals.

„Er hat zu viel Angst!“, rief Benny.

„Hat er nicht“, widersprach Pete und zu meinem Entsetzen trat er das Tor ganz auf und kam hinter mir den Weg herauf, wobei er mit den Händen in der Luft herumwedelte. „Uuuuh, Bubba Moon! Wir haben solche Angst vor dir! Wir haben solche Angst vor dir, Bubba Moon!“

Und dann ging er an mir vorbei und ich stand da, als hätten meine Füße an die Pflastersteine angedockt. Ich konnte absolut nichts tun, als er die Stufen hinaufstürmte und mit der Faust an die Tür wummerte.

„Ju-huu!“, rief er. „Ist jemand zu Hause?“

Die Kälte in meiner Brust war verschwunden. An ihre Stelle war eine schreckliche Leere getreten. Er hatte mich um meinen großen Moment gebracht. Ich hatte damals noch nicht die Worte dafür und auch die ganzen Zusammenhänge waren mir nicht bewusst, doch diesen Weg hinaufzugehen und an diese Tür zu klopfen, war ein Übergangsritual für Jungs wie mich. Mein Freund Pete hatte mich daran gehindert, einen Fuß in die Tür zum Erwachsenenalter zu bekommen, und ich vermute, auch zur Männlichkeit. Und er hatte es nicht für mich getan. Er wollte damit nicht seine Solidarität beweisen. Er hatte es nur getan, um vor Chrissy anzugeben. Sie war nicht dabei gewesen, als er drei Monate zuvor zum ersten Mal an diese Tür geklopft hatte.

„Komm schon, Kumpel.“ Er packte meinen Ärmel und zog mich nach vorn. „Zeig Mr Moon, dass wir keine Angst vor ihm haben!“

Ich wollte es nicht, es war sinnlos geworden, aber ich klopfte dennoch. Ein lahmer Versuch. Ich konnte nicht glauben, dass Pete mir das angetan hatte. Er legte einen Arm um meine Schultern und drehte mich zu den anderen um.

„Seht ihr? Er hat’s getan. Zufrieden?“

„Klar. War ja nichts dabei“, meinte Benny. „Aber jede Wette, dass ihr nicht reingehen würdet.“

Ich war ein braver Junge. Ich klaute nicht, ich gab Lehrern niemals Widerworte, ich ritzte nicht mal meinen Namen in meinen Tisch im Klassenzimmer. Ich hielt mich an die Regeln und hatte nie das Gefühl, deshalb allzu viel zu verpassen. Sich an die Regeln zu halten, bedeutete alles in allem, reibungsloser durchs Leben zu kommen. Doch als ich Petes Miene sah, als ich sah, welche Angst ihm diese Vorstellung einflößte, erkannte ich meine Chance, mich zu beweisen.

„Klar doch“, erwiderte ich, ging ums Haus herum und prüfte, ob sich eines der Fenster öffnen ließe. Sobald ich um die Ecke war, verlor ich mein zuversichtliches Lächeln und ich begann dafür zu beten, dass ich keine Möglichkeit finden würde, hineinzugelangen. Hier hinten war es noch dunkler, weshalb ich meine Taschenlampe herauszog, die mich dann beim Hineinleuchten aus den schmutzigen Fensterscheiben heraus anschaute.

Pete und die anderen kamen mir nach. Ich ignorierte sie und gab mich lässig und gleichmütig. Niemand sagte etwas. Nicht einmal Pete. Chrissy hatte die Augen weit aufgerissen. Drei Fenster hintereinander waren mit Brettern vernagelt, die konnte ich vergessen, doch ich machte eine Show daraus, die beiden rechts und links davon aufzuhebeln. Leider reichten meine einbrecherischen Fähigkeiten nicht aus. Ich trat zurück und seufzte frustriert.

„He, schau mal“, sagte Tyler. „Hier kannst du rein.“

Er stand an der Wand und öffnete mit einem leichten Stoß das schmale Fenster neben seinem Fuß. Das Kellerfenster.

Alle Welt kannte die Geschichte von Bubba Moon. Als er starb, fand man in seinem Haus jede Menge Zeug, das mit schwarzer Magie zu tun hatte. Bücher und Schriftrollen, verschiedene Dolche und andere Dinge. Und Gläser mit konservierten menschlichen Überresten. Das behauptete zumindest mein Bruder. Er behauptete, Bubba Moon hätte diese menschlichen Überreste für seine satanischen Rituale benutzt. Ich wusste nicht, wie viel davon stimmte, was ich aber ganz sicher wusste, was alle Welt ganz sicher wusste, war, dass Bubba Moons Leiche im Keller gefunden wurde.

„Tu’s nicht“, warnte Chrissy.

„Er hat gesagt, er würd’s machen“, meinte Benny. „Lass ihn.“

„Ob ich da durchpasse?“ Ich musste mich anstrengen, damit meine Stimme nicht zitterte, als ich langsam hinüberging. Es bestand kein Zweifel, dass ich durchpasste, doch wenn nur einer von ihnen sagen würde, ich sei zu fett oder ich würde stecken bleiben, wäre das Grund genug, einen Rückzieher machen zu können.

„Da passt du locker durch“, sagte Pete. Wer sonst.

Ich kauerte mich hin, hob das Fenster an und leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Es lag bergeweise Zeug herum, genau wie in jedem anderen Keller auch.

„Wenn Ratten da drin sind, gehe ich nicht“, verkündete ich. „Ich hasse Ratten. Wenn Ratten da drin sind, gehe ich auf keinen Fall.“

Die anderen kauerten sich neben mich. Weitere Taschenlampen gingen an.

„Ich sehe keine Ratten“, meinte Benny.

„Die kommen wohl kaum raus, um sich zu erkundigen, was hier los ist“, lästerte Tyler. „Wahrscheinlich verstecken sie sich in der hintersten Ecke oder so. Die tun dir schon nichts.“

„Das ist doch bescheuert“, meldete sich Chrissy. „Du kannst dich an einem rostigen Nagel verletzen und eine Tetanusspritze brauchen. Und wir wissen nicht, ob da drin jemand ist. Vielleicht wohnen hier Obdachlose.“

„Oder der Geist von Bubba Moon“, keuchte Pete mit gespielter Angst in der Stimme.

„Halt die Klappe!“, kam es in scharfem Ton von Chrissy, und Pete lachte. Aber ich wusste, das Lachen war erzwungen. Er wollte, dass sie ihn mochte, so wie ich wollte, dass sie mich mochte.

„Haltet es auf“, bat ich und legte mich auf den Bauch. Tyler hielt das Fenster auf und ich robbte vorwärts, die Taschenlampe in der ausgestreckten Hand. Ich musste eine Menge Spinnweben beiseiteschieben und an mich halten, um nicht laut zu schreien, als ich die riesige Spinne von ihrem kaputten Heim und vom Abendbrottisch weghuschen sah. Ich streckte den Kopf durch, leuchtete mit der Taschenlampe auf den Boden unterhalb des Fensters und vergewisserte mich, dass er frei war. Ich sah lediglich kleine Häufchen trockenes Laub. Niemanden, der mich packen wollte.

Ich zog die Beine an, drehte mich um, hob die Hüften ein wenig an, um nicht über die Verriegelung zu schrammen, und glitt mit den Füßen zuerst durch das Fenster. Während ich mich hinunterließ, schaute ich zurück zu meinen Freunden. Jetzt konnte sich jeder anschleichen, jede Menge knotige Hände konnten nach meinen Knöcheln greifen.

Als meine Beine so weit unten waren wie nur möglich und ich zur Hälfte drinnen war, schaute ich auf und blickte Chrissy zum ersten Mal direkt in die Augen. Sie hatte so wunderschöne blaue Augen. Ihr dunkles Haar fiel in leichten Wellen bis zur Mitte ihres Rückens. Sie war so groß wie ich und sagenhaft hübsch. Sie war das hübscheste Mädchen an der ganzen Schule, weigerte sich aber, sich entsprechend zu benehmen. Und jetzt war sie da, stand mit ein paar Jungs an einem Wochenende kurz nach Mitternacht vor einem Geisterhaus und schaute mich an, als hätte sie Angst, mich zu verlieren. Ich hatte mich nie mutiger gefühlt.

Ich ließ mich in den Keller fallen.

Dann drehte ich mich rasch um und bündelte den Lichtstrahl meiner Taschenlampe mit dem meiner Freunde. Sie hielten ihre Lampen mit zittrigen Händen. Wenn sie nur nicht so gezittert hätten! Das warf unruhige Schatten auf die gegenüberliegende Wand. Ich machte drei kleine Schritte und vergewisserte mich, dass in meiner unmittelbaren Umgebung nichts auf mich wartete. Dann ließ ich den Schein meiner Taschenlampe herumwandern. Der kurze Moment der Tapferkeit war verflogen. An seine Stelle war eine Angst getreten, bei der sich alles in mir verkrampfte und die sich von hinten an mich heranschlich, egal in welche Richtung ich schaute.

„Siehst du was?“, fragte Tyler.

„Gerümpel“, brachte ich hervor. Meine Stimme klang seltsam. Gepresst.

„Irgendwelches Zeug für schwarze Magie?“

Ich schüttelte den Kopf. Mein Schatten – er war der größte und deutlichste von allen – kopierte die Bewegung direkt vor mir. Mir kam der Gedanke, dass jemand wortwörtlich in meinem Schatten stehen könnte und ich ihn nicht sehen würde. „Nur alte Lampen und Möbel“, antwortete ich. „Ein Tisch. Ein Sofa.“

Der Keller war groß. Der Lichtstrahl meiner Taschenlampe reichte nicht bis zu den Seitenwänden.

„Falls du ein Hexenbrett siehst, greif’s ab“, sagte Benny.

„Untersteh dich!“, entgegnete Chrissy. „Meine Tante hat mal damit gearbeitet. Sie glaubt nicht an solche Sachen, ist aber überzeugt, dass diese Dinger echt gefährlich sind.“

„Ich seh keins“, rief ich und machte einen kleinen Schritt nach links. Noch zwanzig Sekunden, dann hatte ich es geschafft. Noch zwanzig Sekunden.

„Siehst du den Kreis?“, fragte Pete.

Ich wusste, welchen Kreis er meinte. Wir alle wussten es. Als man Bubba Moon fand, lag er auf einer Decke in einem Kreis, den er auf den Boden gemalt hatte.

„Ich seh nichts.“

„Geh weiter rein.“

Ich machte noch einen Schritt, seufzte, verlagerte mein Gewicht und bemühte mich nach Kräften um einen unternehmungslustigen Eindruck. „Nö. Nur Gerümpel. Außerdem ist es ja schon Jahre her. Er ist wahrscheinlich so verblasst, dass …“

Einer der Lichtstrahlen zuckte heftig, und ich brauchte mich gar nicht umzuschauen, um zu wissen, was Sache war. Pete kletterte durchs Fenster. Wieder nahm er mir meine Chance auf Heldentum, und ich war zu schwach, um ihn daran zu hindern.

Er sprang zu mir herunter. „Jetzt wollen wir doch mal sehen, ob wir ihn finden“, sagte er und ging an mir vorbei, als sei es gar nichts.

Die anderen kamen hinter ihm her. Ich weiß nicht, wie. Spürten sie denn nicht diese kalte, Übelkeit erregende Angst, die ich fühlte? Spürten sie denn nicht, dass etwas in diesem Haus, etwas, das sich mit uns hier unten in diesem Keller befand, ganz einfach von Grund auf falsch war und nicht im Einklang mit dem, wie die Welt zu sein hatte?

Ich konnte die unnatürliche Boshaftigkeit spüren, die schwer in der Luft hing. Aber ich hatte mich gezwungen, hier herunterzukommen, weil es notwendig war. Es war notwendig, um mir und auch Chrissy zu beweisen, dass ich es konnte. Dass ich mich nicht von meiner Angst besiegen lassen würde. Pete ging es wahrscheinlich um dasselbe, doch bei Benny, Tyler und Chrissy selbst? Ich werde nie wissen, weshalb sie herunterkamen. Aber sie haben es bereut. Später haben sie es bereut.

Wir verteilten uns. In Wirklichkeit war der Keller gar nicht so groß, aber es gab Augenblicke, in denen er so wirkte. Es gab Momente, kurze Blicke aus den Augenwinkeln, da verschwanden die Wände und der Keller erstreckte sich ins Unendliche.

„Gefunden!“, meldete Chrissy.

Niemand lief zu ihr. Wir bewegten uns alle wie Todeskandidaten oder als wateten wir durch Sirup. Wir richteten unsere Taschenlampen auf die Stelle, die ihre Lampe beleuchtete. Vor uns auf dem Boden war ein Kreis zu sehen, der vielleicht einmal rot war. Die Zeit, Staub, Luft und was auch immer hatten ihn dunkel werden lassen, fast schwarz. Es war ein großer Kreis, groß genug, dass ein Mann sich hineinlegen und darin sterben konnte. Außen herum waren Symbole. Schwarze-Magie-Zeug. Satanisches Zeug. Nicht dass einer von uns gewusst hätte, wie satanisches Zeug aussieht.

Damals noch nicht.

„Ich hab nicht gedacht, dass der Teil der Geschichte stimmt“, bemerkte Benny leise. Er klang so jung.

Wir standen da und betrachteten den Kreis. Später fragte ich die anderen, ob sie gespürt hatten, was ich spürte. Panik, die kribbelte wie Elektrizität und im Nacken zu knistern begann. Sie hatten es alle gespürt. Doch keiner von uns ließ sich etwas anmerken. Es war schließlich nur ein leerer Kreis. Da drin war nichts, das uns etwas tun konnte.

„Großer, böser Bubba Moon“, sagte Pete leise.

„Reiz ihn nicht“, warnte Chrissy.

Pete lachte. „Ihn reizen?“, fragte er laut. „Er ist tot, Chrissy! Er ist nicht mehr unter uns!“

Chrissy wurde rot. „So hab ich’s nicht gemeint“, wehrte sie ab.

„Reiz ihn nicht!“, brüllte Pete und lachte erneut. „Mach dich nicht lustig über den armen toten Kerl! Sonst verletzen wir noch seine toten Gefühle!“

„Hör auf, Pete“, bat ich.

„Reiz ihn nicht, hat sie gesagt!“ Pete konnte nicht aufhören. Er brüllte vor Lachen.

Ich wusste, weshalb er es tat. Ich war als Erster in den Keller gestiegen, Chrissy hatte mir ihre Aufmerksamkeit zugewandt. Das jetzt war seine ungeschickte Art, sie an den Zöpfen zu ziehen, sie dazu zu bringen, dass sie ihn wieder beachtete. Wahrscheinlich brachte ihn das auch dazu, zu tun, was er als Nächstes tat. Er gab nur an. Was dann geschah, hatte er nicht verdient. Er gab doch nur an.

„Reiz den großen, bösen Bubba Moon nicht!“, rief er und sprang in den Kreis.

„Pete!“, schrie Tyler.

Benny versuchte, ihn zurückzuziehen. Fast wäre er gestürzt, fast hätte er selbst die aufgemalte Kreislinie übertreten, doch Chrissy packte ihn und zog ihn zu sich her. Sie sagte später, sie hätte nicht gewusst, weshalb sie das tat – sie hatte nicht wissen können, wie wichtig es war. Ihre Hände hatten sich einfach in Bewegung gesetzt und Benny wahrscheinlich das Leben gerettet. Er lebt heute noch, weil sie eingriff.

Pete wirbelte herum und tanzte in dem Kreis, lachte und heulte wie ein Wolf und rief immer wieder Bubba Moons Namen. Wir schauten ihm entsetzt zu. Es dauerte ein paar Sekunden, bis mir auffiel, wie kalt es geworden war. Zuerst glaubte ich, dass es nur mir so ging, doch im Licht sah ich, wie die Atemluft in kleinen Wölkchen aus Chrissys Mund kam.

„Wir sollten gehen“, sagte Tyler.

„Haut doch ab!“, rief Pete. „Haut doch ab, wenn ihr wollt! Aber dem großen, bösen Bubba Moon entkommt ihr nicht!“

Er hörte auf zu singen und herumzutanzen und sank plötzlich zu Boden, faltete die Hände über seiner Brust und fragte: „He, Jungs, wer bin ich?“ Er legte den Kopf zurück auf den Boden, schloss die Augen und tat, als sei er tot.

Und dann gingen sämtliche Taschenlampen aus.

Chrissy fluchte, Tyler stieß einen Schrei aus und Benny stolperte nach hinten. Jemand stolperte in mich hinein. Chrissy war neben mir, ich packte sie und sie packte mich und wir stießen gegen einen Berg Gerümpel hinter uns. Der ganze Berg stürzte ein und wir rannten zum Fenster. Tyler erreichte es als Erster und versuchte, sich hinaufzuziehen. Ich schob ihm einen Stuhl in die Kniekehlen, er konnte einen Fuß daraufstellen und sich abstoßen. Ich wollte, dass Chrissy als Nächste ging, doch Benny kreischte zu laut, um vernünftig mit ihm reden zu können. Als er dann halb draußen war, schob ich Chrissy zum Stuhl und sie wehrte sich nicht. Tyler ergriff ihren linken Arm und half ihr hinaus. Ihre langen Beine verschwanden wie Spaghetti, die von einem hungrigen Mund eingesaugt werden.

Ich stellte einen Fuß auf den Stuhl, griff hinauf, blickte noch einmal über die Schulter in die Dunkelheit und rief nach Pete. Und plötzlich war es still.

Die Welt hinter dem Fenster war grau. Ich hörte die anderen umherkriechen, hörte ihre gedämpften Stimmen. Auf einmal gab es Licht, ihre Taschenlampen funktionierten wieder und erhellten mein kleines Fleckchen Keller. Ich existierte in einem Kokon aus Gelb und Weiß, der die Dunkelheit nicht an mich herankommen ließ.

„Pete!“, rief ich erneut.

Pete blieb stumm.

Ich konnte nicht ohne ihn gehen. Ich könnte ihm nie mehr in die Augen schauen, wenn ich ihn jetzt im Stich ließe. Meine Panik schwand. Ich begann, wieder vernünftig zu denken.

Im zittrigen Licht meines Kokons sah ich Petes Schuhspitzen. Chrissy sah sie auch und leuchtete mit der Taschenlampe weiter hinauf. Jetzt konnte ich Petes Beine sehen. Er stand ganz am Rand der Dunkelheit, die Hände an den Seiten, der Oberkörper im Schatten. Rührte sich nicht. Sagte nichts.

Mein Mund war plötzlich staubtrocken. Ich versuchte, seinen Namen zu sagen, doch mein Herz klopfte so laut, dass ich nicht einmal hörte, wie es klang. Pete hob die Arme und stand einen Augenblick so da.

Und dann rannte er auf mich zu, mit gefletschten Zähnen, das Gesicht zu einer hasserfüllten Maske verzerrt.

Ich schrie, Chrissy schrie und Benny und Tyler schrien wahrscheinlich auch. Pete war fast bei mir, als er zur Seite kippte. Er lachte so unbändig, dass ich dachte, er würde weinen.

„Dein Gesicht!“, keuchte er. „Mein Gott, dein Gesicht!“

Und wieder konnte er sich vor Lachen nicht mehr halten.

„Du bist so ein Arsch“, sagte ich, drehte mich um und kletterte hinaus. Chrissy half mir auf die Füße, doch ich schüttelte ihre Hände ab und ging davon. Ich zitterte am ganzen Leib. Tyler half Pete aus dem Keller, was gar nicht so einfach war, weil Pete so sehr lachen musste.

„Dein Gesicht!“ Mehr brachte er nicht heraus. Ich ließ ihn stehen, ließ alle stehen, stieg auf mein Fahrrad und radelte nach Hause.