
FÜNF
Ryan wirbelte herum. Er versuchte Francine mitzuziehen, doch sie lachte nur. Bevor er um Hilfe rufen konnte, schlang sie einen Arm um seinen Hals und schleifte ihn rückwärts zur Tür. Er wehrte sich und trat um sich, doch sie war viel zu stark. Und dann war er in dem Apartment und Foe schloss die Tür hinter ihnen.
Francine ließ ihn los und er machte einen Satz von ihr weg. Dabei stieß er fast mit Obloquy zusammen. Samuel beobachtete ihn aus einer Ecke heraus.
„Falls du schreist, bringen wir dich um“, warnte Foe.
„Und danach bringen wir Walküre um“, ergänzte Francine. Sie schaute Foe an und grinste. „Er ist verknallt in sie.“
Foe hob eine Augenbraue. „Tatsächlich? Ich kann nicht sagen, dass ich dich deshalb schief ansehe, Ryan. Sie ist ein hübsches Mädchen. Wenn ich ein paar Hundert Jahre jünger wäre, würde ich mich sofort an sie ranmachen, das kannst du mir glauben. Was sie in dir sieht, ist mir allerdings einigermaßen schleierhaft. Du scheinst nicht in ihrer Liga zu spielen. Nichts für ungut, aber du bist ziemlich … durchschnittlich.“
Obloquy lachte leise. „Vielleicht hofft er, dass sie ihn wegen seinem Sinn für Humor mag.“
„Junge Liebe.“ In Foes Stimme schwang fast so etwas wie Sehnsucht mit. „Vielleicht bekommst du ja eine Chance und kannst ihr deine ewige Liebe gestehen. Allerdings nur, solange du genau das tust, was wir von dir verlangen.“
Ryan hatte einen so trockenen Mund, dass er nur krächzen konnte. „Ich helfe Ihnen nicht bei der Vernichtung der Welt.“
„Doch, das wirst du.“
„Aber ich verstehe das nicht. Warum bringen Sie sich nicht einfach um, wenn Sie sterben wollen, und lassen alle anderen in Ruhe?“
„Was ist so dramatisch an der Vernichtung der Welt?“, fragte Francine.
Foe schaute sie an. „Das wird langsam extrem verwirrend.“
„Was du nicht sagst“, murmelte sie leise. Dann flackerte Francine, und Ryan sah jemand anders darunter, jemand Schlankeres. Die Person trug Schwarz und hatte einen Verband am Arm … Und dann war Francine verschwunden und Mercy stand vor ihm. „Besser?“
„Viel besser.“ Foe wandte sich wieder Ryan zu. „Wir vernichten die Welt, weil ihre weitere Existenz absolut keinen Sinn ergibt.“
Ryan hätte hundert Sachen darauf erwidern können. Das ist alles? Sie wollen alle umbringen, weil Sie keinen Sinn sehen? Was für ein bescheuerter, pathetischer, egoistischer Grund ist das denn? Aber er schwieg, weil er viel zu viel Angst hatte. Weil er kein Held war. Weil er einer war, der darauf wartete, dass ihn jemand rettete.
Es klopfte an der Tür.
„Francine?“
Walküres Stimme. Mercy trat neben Ryan und hielt ihm ein Messer an den Bauch.
„Francine“, rief Walküre, „ist Ryan bei dir?“
Foe schaute Ryan an und presste einen Finger auf die Lippen, als Obloquy zur Tür ging. Das Messer drückte schmerzhaft in Ryans Bauch. Er musste sie warnen. Er musste es tun. Er konnte doch nicht einfach nur stumm dastehen.
„Ich weiß, was du denkst“, flüsterte Mercy. „Ich sehe es dir an. Nur damit es klar ist: Wenn du auch nur einen Mucks machst, bringe ich dich um und schneide dir die Hand ab.“
Walküre klopfte noch einmal und Mercy schaute zur Tür. Plötzlich wuchs Ryan über sich hinaus und er stieß sie von sich weg. Und dann war Samuel da, eine Hand schloss sich um seinen Hals, Ryan bewegte sich rückwärts, ohne dass seine Füße den Boden berührten, und krachte in die Wand. Samuels Finger waren wie Eisenklammern und Ryan sah alles nur noch verschwommen. Dann wurde es immer dunkler und ein entfernter Teil von ihm wusste, dass er gleich in Ohnmacht fallen würde.
Das Fenster explodierte. Ryan sackte nach unten. Er holte tief Luft. Sein Kopf dröhnte. Ringsherum nahm er Bewegung wahr. Foe flog nach hinten über die Couch. Skulduggery ließ Mercy über seine Hüfte segeln. Die Tür wurde eingetreten und landete auf Obloquy. Walküre kletterte darüber und rief Ryan zu, er solle weglaufen. Ryans Beine waren bleischwer. Ringsherum Geschrei und Flüche und lautes Krachen, als Dinge zu Bruch gingen. Samuel drosch mit solcher Wucht auf Walküre ein, dass sie sich in der Luft krümmte. Foe stürzte sich auf Skulduggery.
Der Boden bewegte sich und Ryan merkte, dass er vorwärtsstolperte. Er konnte sich nicht erinnern, seinen Beinen den Befehl dazu gegeben zu haben. Er stieg über die Tür, rutschte aus und kullerte auf den Flur. Er schaffte es, auf alle viere zu kommen, und versuchte, sein Gehirn wieder in Gang zu bringen.
„Oh Gott, oh Gott“, murmelte er und richtete sich vollends auf, ging und rannte, rannte zur Ecke, den Flur hinunter, rannte in Richtung Treppe und überließ Skulduggery und Walküre ihrem Schicksal. An der Treppe blieb er stehen. Er konnte es nicht. Er konnte sie nicht im Stich lassen. Sie hatten ihm das Leben gerettet. Er hatte diesen bescheuerten Schlüsselabdruck in seiner Hand, und sie kämpften, um ihn zu beschützen. Er konnte nicht einfach davonlaufen. Er musste helfen. Er konnte nichts ausrichten, aber er musste helfen. Er musste es versuchen. Er musste etwas tun. Es wäre besser, wenn er weglaufen würde, das wusste er. Es wäre viel besser, wenn er sich in Sicherheit bringen und das Kämpfen den Profis überlassen würde. Sie erwarteten nicht, dass er umkehrte und half. Aber er hatte keine andere Wahl.
Ryan drehte sich um und lief zurück.
Ein alter Mann stand blinzelnd auf dem Flur. „Ich habe die Polizei gerufen“, sagte er.
„Gehen Sie wieder in Ihre Wohnung und schließen Sie die Tür!“, rief Ryan.
Der alte Mann nickte und schlurfte in sein Apartment. Dann kam Walküre in einem Schauer aus Brocken von Verputz und Spanplatten durch die Wand ebendieses Apartments geflogen. Der alte Mann heulte entsetzt auf, lief an Ryan vorbei und sprintete erstaunlich fix um die Ecke. Walküre lag in einer Staubwolke am Boden. Sie stöhnte und versuchte aufzustehen. Obloquy stieg durch das Loch in der Wand und sah Ryan.
„Lauf!“, rief Walküre.
Und Ryan lief.
An der Ecke hörte er Obloquys Stimme in seinem Kopf – Schmerz, spüre den Schmerz, er ist so groß, dass du dich nicht mehr bewegen kannst – und Ryan schwankte und krümmte sich. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Er blickte sich um, sah Obloquy und sank auf die Knie. Mit Mühe unterdrückte er einen Schrei. Der Schmerz wurde stärker, intensiver, je näher Obloquy kam. Dann war Walküre da, von oben bis unten voller Staub, und schwang beide Arme, und der Schmerz war weg, als Obloquy gegen die Wand krachte.
Mercy trat hinter Walküre auf den Flur und Ryan rief eine Warnung, doch noch während Walküre herumwirbelte, öffnete Mercy den Mund und dieser rote Energiestrahl traf Walküre mitten in die Brust und warf sie zurück. Skulduggery sprang wie aus dem Nichts herbei, stürzte sich auf Mercy, und Ryan hastete mit weit aufgerissenen Augen hinüber zu Walküre. Er erwartete eine klaffende, blutende Wunde in ihrer Brust. Doch als sie stöhnend auf dem Boden landete, war sie unverletzt – nur ein paar Rauchfähnchen stiegen von ihrer Jacke auf. Er packte sie und zog sie hoch.
Schüsse fielen, und bei jedem ohrenbetäubenden Knall schrie Ryan auf und zuckte zusammen. Doch es gelang ihm, Walküre um die Ecke zu ziehen, bevor er oder sie auf grausame Weise umgebracht wurden. Sie straffte die Schultern, holte tief Luft und rieb sich den Brustkorb.
Er musste es fragen: „Warum bist du nicht tot?“
„Schutzkleidung“, antwortete sie, während sie mit Blicken den Flur absuchte. „Du glaubst doch nicht, dass ich die Sachen nur trage, weil sie so eng sind, oder?“
Sie lief zum Fenster am Ende des Flurs und drückte beide Handflächen gegen die Luft. Die Scheiben explodierten nach außen und der Rahmen zerbarst. „Komm“, befahl sie und stieg auf den schmalen Sims.
„Uh“, entfuhr es Ryan.
Sie schaute ihn an. „Beweg dich!“
Er schluckte und tat, was sie sagte. Während er noch nach einem sicheren Stand suchte, die Finger um die Fensterlaibung gekrallt, versuchte er, nicht auf den betonierten Hof unter ihnen zu schauen. „Wir … springen doch nicht, oder?“
Sie ergriff seinen Arm und meinte freundlich: „Nicht, wenn du es nicht willst.“
Er entspannte sich, lockerte seinen Griff um die Fensterlaibung etwas, und in dem Moment machte sie einen Schritt vom Sims und riss ihn mit in die Tiefe.
Ryan schrie, als sie hinunterstürzten. Der Wind fuhr in seinen Mund und in seine Nase und durch sein Haar, und plötzlich schüttelte er sie beide und drosselte ihr Tempo etwas. Walküre bewegte die Hand, als dirigierte sie den Wind. Sie landeten hart, aber wenigstens klatschten sie nicht ungebremst auf dem Boden auf.
Ryan wankte ein Stück von ihr weg. „Oh mein Gott, oh mein Gott.“
Skulduggery landete direkt vor ihm und Ryan schrie erneut.
„Gut formuliert“, murmelte Skulduggery und lud seinen Revolver nach. „Wir sollten uns beeilen. Kommt.“
Sie liefen durch die Unterführung, die den Hof mit der Straße auf der anderen Seite des Mietshauses verband. Skulduggery steckte seine Waffe ein und ließ seine Fassade über seinen Schädel gleiten. Sie stiegen in den Bentley, der Motor heulte auf und sie schossen davon.
„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Skulduggery.
„Mir tut jeder einzelne Knochen weh“, stöhnte Walküre. „Ryan?“
Ryan nickte rasch. „Mir geht’s gut. Alles okay. Ich bin nicht verletzt.“
„Zitterst du schon?“
Ryan schaute auf seine Hand. „Nein.“
„Es wird jeden Augenblick anfangen.“
Ryans Hand begann heftig zu zittern. „Oh, wow. Ja, jetzt zittere ich eindeutig.“ Er lachte. Es klang seltsam.
„Um das zu erklären, muss Geoffrey sich ganz schön was einfallen lassen“, meinte Walküre. Sie klopfte ihre Jacke ab und kleine Staubwölkchen stiegen auf.
„Tu mir einen Gefallen und mach das nicht im Wagen“, bat Skulduggery.
„Ihr habt mir nicht gesagt, dass Mercy das kann“, begann Ryan. „Sie hat ihre Gestalt gewechselt. Sie ist eine Gestaltwechslerin.“
„Das ist sie nicht wirklich“, erklärte Skulduggery. „Francine war eine Erscheinung. Eigentlich eine Illusion. Rein körperlich hat keine Verwandlung stattgefunden. Wer da am Tisch saß und mit uns geredet hat, war Mercy in ihrer normalen Gestalt. Aber unsere Gehirne ließen Francines Bild entstehen. Wir hörten ihre Stimme.“
„Ich hab ihr Parfüm gerochen“, sagte Ryan.
„Alles Einbildung. Der einzige Mensch in Dublin, eigentlich in ganz Irland, der in der Lage ist, sie so zu tarnen, ist ein Mann namens Robert Crasis. Im Krieg waren seine Fähigkeiten von unschätzbarem Wert. Es kam vor, dass zwanzig Leute bereitstanden, um eine feindliche Stellung zu stürmen. Aber dank Crasis sah es in den Augen der Gegner so aus, als seien wir tausend.“
„Er gehört also zu den Guten?“, fragte Walküre. „Warum hat er dann Foe geholfen?“
„Keine Ahnung. Das werden wir ihn wohl fragen müssen.“