
ZEHN
Unter Skulduggerys Anleitung entschärfte Ryan die Doomsday-Maschine. Er sorgte dafür, dass kein einziges Teil mehr funktionieren konnte. Als auch das letzte Element nicht mehr zu gebrauchen war, begann seine Hand heftig zu prickeln. Er zog scharf die Luft ein, schaute auf seine Handfläche und sah, wie der Abdruck verblasste, bis nichts mehr davon zu sehen war.
„Gut gemacht, Ryan“, lobte Skulduggery. „Du hast die Welt gerettet.“
„Du hast genau gewusst, was zu tun war“, erwiderte Ryan. „Du hast ja doch gewusst, wie man sie entschärft.“
„Freut mich, dass du den Eindruck gewonnen hast“, meinte Skulduggery freundlich, „aber ich hätte uns genauso gut alle umbringen können. Trotzdem ist es immer noch besser, als tatenlos herumzuhocken und auf einen Experten zu warten, oder?“
Er löste ein Paar Handschellen von seinem Gürtel und machte sich daran, die bewusstlosen Gefangenen zu fesseln. Ryan und Walküre blieben allein zurück.
„Wie lange habe ich noch?“, fragte Ryan.
Walküre zögerte. „Skulduggery hat gesagt … er hat gesagt, Deacons Persönlichkeit würde sich wieder durchsetzen, sobald das hier vorüber ist, ob so oder so.“
„Dann bleibt mir also nicht mehr viel Zeit“, stellte Ryan leise fest.
„Ich … ich fürchte, nein.“
Ryan nickte. Er sagte nichts. Er traute seiner Stimme nicht.
„Du hast mir eben wahrscheinlich das Leben gerettet“, meinte Walküre. „Das war echt tapfer.“
Ryan gelang ein Lächeln. „Vielleicht bleibt dir das von mir im Gedächtnis.“
„Ganz bestimmt.“
„Im Moment fühle ich mich allerdings nicht sehr tapfer. Wenn ich ehrlich bin, ist mir eigentlich eher nach Weinen zumute.“
Walküre legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Ich möchte nicht sterben.“ Ryan weinte jetzt tatsächlich. Es kümmerte ihn nicht. Was ihn kümmerte, war nur noch die Tatsache, dass er in ein paar Minuten nicht mehr hier sein würde. Dass es ihn nicht mehr geben würde. Sie hatten Foe und die anderen davon abgehalten, die Welt zu vernichten, aber seine Welt endete trotzdem. „Es ist nicht fair. Warum darf Deacon leben und ich nicht?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Walküre leise.
„Kannst du denn nichts tun? Vielleicht kann Skulduggery etwas tun. Vielleicht kennt er jemanden, der es kann, der dafür sorgen kann, dass Deacon nicht zurückkommt oder …“
„Es tut mir leid.“ Walküre weinte jetzt auch. Dieses hübsche Mädchen, das, wenn sie lachte, auf einer Seite ein Grübchen hatte, weinte um ihn. Dieses hübsche Mädchen, das nie mit einem Typen wie Ryan ausgehen würde, in hundert Jahren nicht, saß da, hatte den Arm um ihn gelegt und weinte mit ihm.
Er versuchte, sein Schluchzen unter Kontrolle zu bekommen. Als er wieder reden konnte, fragte er leise: „Könnte ich jetzt diesen Kuss haben?“
Sie schaute ihn an. „Unbedingt.“ Dann beugte sie sich zu ihm hinüber. Er drehte leicht den Kopf, wusste nicht, ob er die Augen schließen sollte oder nicht. Doch als ihre Lippen sich berührten, schlossen sich seine Augen von selbst. Sein erster Kuss in fünfzehn Jahren falscher Erinnerungen. Sein einziger Kuss in fünfzehn Stunden wirklichen Lebens.
Sie lösten sich voneinander. In seinem Kopf schien nur noch Watte zu sein. Er konnte nicht mehr klar denken.
„Ich mag dich wirklich, Walküre“, konnte er gerade noch murmeln.
„Und ich mag dich wirklich, Ryan“, erwiderte sie.
Ryan lächelte und wollte sie noch einmal küssen, dieses hübsche Mädchen mit dem einen Grübchen. Wie hieß sie gleich noch mal? Ach ja, Walküre. Siebzehn Jahre alt und zum Anbeißen, die Sorte Mädchen, die keinerlei Notiz von Deacon genommen hätte, als er so alt war wie sie. Er grinste und beugte sich zu ihr, spürte ihre Hände auf seiner Brust, die ihn auf Abstand hielten – und dann kniff sie die Augen zusammen.
„Ryan?“
„Ich bin, wer immer ich für dich sein soll“, erklärte Deacon und sie verpasste ihm eine so kräftige Ohrfeige, dass die ganze Welt sich um ihn drehte.
Sie baute sich vor ihm auf. „Sieh zu, dass du dieses Gesicht loswirst“, verlangte sie. „Wenn du noch eine Sekunde länger Ryans Gesicht benutzt, mach ich Hackfleisch aus dir, ich schwör’s.“
„Okay, okay, aber schlag mich nicht mehr!“
Deacon erhob sich. Sein Kiefer schmerzte. „Das war vielleicht ein Gong“, murmelte er. Im selben Moment flackerte das Bild um ihn herum und verschwand, und mit einem Mal war er wieder er selbst.
In Walküres Augen standen Tränen. Sie schaute ihn an, als wollte sie ihn trotzdem noch einmal schlagen.
„Ich wollte dir nur danken“, begann er hastig, bevor sie es tat. „Ich hatte mich da in etwas verrannt und dann kamst du daher und hast mir wirklich geholfen. Ich hab kein Land mehr gesehen, das gebe ich offen zu. Falls es für dich einen Unterschied macht: Ich wollte nie, dass die Maschine in Feindeshand gelangt. Sofort nach dem Verkauf des Schlüssels wollte ich das Sanktuarium informieren und eine Armee Sensenträger hierher beordern lassen, damit …“
„Du hast alles Leben auf dem gesamten Planeten aufs Spiel gesetzt“, entgegnete Walküre wütend.
Er nickte traurig. „Das habe ich und ich bereue es von Herzen. Es war dumm. Es war kurzsichtig und egoistisch. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, hätte ich es nie versucht. Aber wir machen alle Fehler, oder etwa nicht? Und ich habe definitiv einen Fehler gemacht. Einen ganz schrecklichen Fehler sogar, der ungeahnte Konsequenzen hätte haben können für …“
Er sah die Faust nicht kommen. Er sah lediglich, wie ihre Schulter sich hob, dann kippte er nach hinten. Er schlug auf dem Boden auf und sein Kopf war plötzlich drei Nummern zu groß. Einen Schlag hatte die Frau, gütiger Himmel.
„Du solltest besser aufstehen“, riet sie ihm. „Gleich kommen die Sensenträger, und wenn du dann noch hier bist, wirst du auch verhaftet.“
Er blinzelte. „Du lässt mich gehen?“
„Wir lassen Ryan gehen.“ Skulduggery war hinter sie getreten. „Ryan war unser Freund. Er hat Besseres verdient, als du zu sein, Deacon.“
„Ich weiß.“ Zum zweiten Mal innerhalb der letzten sechzig Sekunden stand Deacon langsam auf. „Ich hoffe nur, dass ich es ihm irgendwie vergelten kann. Vielleicht indem ich ein besserer Mensch werde, indem ich andere Menschen so behandle wie er …“
„Wenn du willst, dass ich dir noch eine reinhaue, brauchst du einfach nur im selben Stil weiterzuquatschen“, warnte ihn Walküre.
Deacon hielt den Mund. Wenn Blicke töten könnten, wäre er aufgespießt worden. Er ließ den Kopf hängen „Ich weiß, dass ich Unrecht getan habe. Ich weiß es wirklich. Und ich habe bereits dafür bezahlt. Mein Bruder. Mein armer Bruder Davit. Foe dachte, ich sei Davit. Er hat ihn gejagt und Davit … Davit fiel in diesen Häcksler. Er war schon immer ein bisschen tollpatschig, unser Davit. So entsetzlich tollpatschig …“
Walküre stieß ihn an, um ihn aus seinen Gedanken zu reißen, und als er wieder aufschaute, beugte sie sich dicht zu ihm. „Sollten wir jemals hören, dass du noch einmal so etwas tust, dass du eine unschuldige Person erschaffst, nur um dich dahinter zu verstecken …“
Deacon hob die Hände. „Ich tu’s nie wieder, ich schwör’s. Ich habe meine Lektion gelernt. Ich war geldgierig und egoistisch. Aber jetzt habe ich eingesehen, dass es falsch war, zu …“
„Das interessiert uns alles nicht“, unterbrach Skulduggery ihn. „Verschwinde, und zwar schnell, bevor ich dich erschieße.“
Deacon nickte und setzte sich in Bewegung. „Er hat schnell gesagt“, fauchte Walküre und Deacon sprintete davon.