
FREITAGNACHTS IN DER ARENA
Sie sei eine Mahlzeit, wurde ihr gesagt, als man sie in die Zelle schleifte. Sie sei das Mittagessen. Dabei war sie kaum mehr als ein Snack, den man dem Ungeheuer als Belohnung für vergossenes Blut vorwarf. Die Männer waren stark. Sie trat nach ihnen und die Männer schlugen sie, doch trotzdem trat sie immer weiter. Sie würde nicht kampflos in den Tod gehen. Sie nicht. Walküre Unruh nicht.
Ihre Knie schrammten über grobe Steine und Schutt und bluteten durch ihre Jeans. Die kalten Handfesseln schnitten in ihre Handgelenke. Ihr Kampf war den ganzen Betonflur hinunter zu hören, ein Flur so breit wie die Tartanbahn der Schule. Das Sonnenlicht war zu weit hinter ihr, um Schatten zu werfen. Die Dunkelheit war zu dicht vor ihr.
Der Mann, der ihren Arm festhielt, ließ sie los. Schlüssel klimperten, als er zur Zellentür ging. Bevor er aufschloss, schob er eine Klappe beiseite, um nach dem Ungeheuer zu schauen. Sie spürte, wie der andere Mann angespannt wartete. Einen Moment lang war er abgelenkt und sie entwand sich seinem Griff. Das Licht war zu weit weg, also lief sie in die Dunkelheit. Gelächter folgte ihr.
Sie lief schnell. Wasser spritzte auf, wenn sie mit ihren Tennisschuhen in dunkle Pfützen trat, in denen das Wasser stand. Der unebene Boden drohte ihre Flucht vorzeitig zu beenden. Sie hielt die gefesselten Arme hoch wie ein Boxer, um ihren Kopf zu schützen, falls sie gegen eine Wand oder eine tief hängende Rohrleitung laufen sollte. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit; einen Blick zurück konnte sie nicht riskieren.
Die Mauer zu ihrer Linken war plötzlich zu Ende und sie schwenkte in einen kreuzenden Korridor ab. Ihre bloßen Arme registrierten die Kälte, doch sie selbst spürte nichts. Sie würde erst wieder etwas spüren, wenn die Wirkung des Adrenalins nachließ.
Sie hörte, wie sie ihren Namen riefen. Im Vorbeilaufen sah sie verschwommen zu beiden Seiten alte Zellentüren aus Eisen. In einigen dieser Zellen saßen Menschen. Sie hörte deren Reaktionen auf die höhnischen Rufe der Männer. In anderen Zellen waren Ungeheuer eingesperrt. Sie fauchten und schnappten und warfen sich gegen das Eisen. Erregt und blutrünstig trugen sie das Ihre zum allgemeinen Lärm bei.
Betonstufen führten hinauf zu einem fahlen gelben Licht. Walküre trat aus der Dunkelheit und nahm immer drei Stufen auf einmal. Die Treppe machte eine Biegung und das Licht wurde heller. Wieder ein Korridor, lang und schmal, durch dessen kleine Fenster auf einer Seite Sonnenlicht strömte. Am Ende des Korridors eine hölzerne Tür. Sie lief an den engen Fenstern vorbei und sah dahinter ein kleines Stadion. Einfache Steinbänke verliefen rund um eine abgesenkte Arena.
Wohin um alles in der Welt hatte man sie gebracht?
Die hölzerne Tür öffnete sich, noch bevor sie sie erreichte. Der Mann mit dem Schlüsselbund lächelte. Dafür, dass er so schmutzig und brutal war, hatte er seltsamerweise ein nettes Lächeln. Der andere Mann stand hinter ihr und schnitt ihr den Rückweg ab.
„Du kommst jetzt besser mit, Mädchen“, sagte der Mann mit den Schlüsseln.
Walküre trat an eines der Fenster, drehte sich zur Seite und zwängte ihren Oberkörper durch. Zwölf Meter unter ihr lag eine ebene, betonierte Fläche. Gleich dahinter begannen die Sitzreihen. Es gelang ihr auch noch, die Hüften durchzuschieben, doch im Fallen packte eine Hand ihr Bein. Sie schlug an der Wand auf und versuchte alles, um sich aus dem Griff zu lösen. Der Mann mit den Schlüsseln konnte kaum den Kopf durch das Fenster strecken. Seine Hand umschloss fest ihren Knöchel.
„Geh runter und fang sie auf“, sagte er zu seinem Freund.
Münzen fielen aus Walküres Tasche, als sie mit ihren gefesselten Händen in ihrer Jeans nach etwas suchte, womit sie seinen Griff lockern konnte. Etwas Scharfes. Sie öffnete ihren Gürtel und zog ihn aus den Schlaufen. Dann nahm sie die Schließe so in die Hand, dass der Dorn zwischen Zeige- und Mittelfinger nach oben ragte, und machte eine Faust. Sie bog ihren Oberkörper nach oben, hielt sich mit der linken Hand an seinem Unterarm fest und stach mit dem Dorn mehrmals in seinen Handrücken. Es war ein brutaler Dolchersatz, aber eben nur ein Ersatz. Der Mann fluchte und brüllte und biss die Zähne zusammen, ließ aber nicht los.
Ihre Bauchmuskeln brannten. Sie musste seinen Griff jetzt lösen. Eine zweite Chance würde sie nicht bekommen.
Walküre ließ seinen Unterarm los, packte seine Hand und versuchte, einen Finger aufzubiegen. Sie konnte gerade mal die Fingerspitze von ihrem Bein lösen, aber das war dann auch alles. Sie hörte ihn über ihre Anstrengung lachen.
Ihre Muskeln brannten inzwischen wie Feuer. Sie drückte den Dorn der Gürtelschließe unter seinen Fingernagel. Er rief seinem Freund zu, er solle sich beeilen. Sie drückte den Dorn tiefer hinein und er verfluchte sie, wobei seine Stimme mit zunehmendem Schmerz immer höher wurde. Endlich hob sich sein Nagel und Walküre fiel, begleitet von seinem Gebrüll. Im Fallen drehte sie ihren Körper und drückte das Kinn auf die Brust. Sie kam mit der Schulter auf dem Beton auf und versuchte, den Aufprall mit der Seite abzufedern. Sie wusste, wie man fiel. Man hatte ihr das Fallen beigebracht.
Aber sie war noch nie aus einer solchen Höhe gefallen.
Sie lag auf dem Rücken und versuchte zu atmen, doch es ging nicht. Sie versuchte sich zu bewegen, doch es ging nicht. Ihre Arme wollten sich nicht aufstützen und ihre Beine sich nicht beugen lassen.
Sie gab einen Laut von sich, ein lang gezogenes, unbeabsichtigtes Stöhnen. Ihre Lunge versuchte, Luft aufzunehmen. Ihre Bauchmuskeln verkrampften sich, doch sie widerstand dem Drang, sich zu einer Kugel zusammenzurollen. Beim ersten Anzeichen, dass sie ihren Körper wieder unter Kontrolle bekam, bog sie den Rücken durch und stöhnte erneut.
Ein winziges bisschen Luft, eingeatmet durch den Mund.
Sie rollte sich herum, stand auf, sah den anderen Mann auf sich zulaufen. Sie stolperte, immer noch nach Atem ringend, in die andere Richtung. Er war schnell und holte auf. Es dauerte, bis ihre Beine ihren Rhythmus gefunden hatten, doch wenigstens rannte sie wieder. Walküre sprang auf die Steinsitze, hüpfte von Bank zu Bank diagonal nach unten, hin zu dem gewölbten Tunnel, der aus dem Stadion hinausführte. Er war die ganze Zeit hinter ihr.
Sie keuchte, hatte ihren Atem aber wieder unter Kontrolle, als sie von der untersten Bank auf den Boden sprang. Der Tunnel lag vor ihr. Er führte in eine herrliche grüne Landschaft. Sie rannte darauf zu. Im freien Gelände oder auch in einem Wald konnte sie ihn abhängen, selbst durch einen Fluss konnte sie schwimmen, um ihm zu entkommen. Auf der Straße konnte sie ein Auto anhalten. Sie konnte einen Stein aufheben und ihm damit den Schädel einschlagen. Wenn sie erst durch diesen Tunnel war, konnte sie eine Menge Dinge tun.
Sie war bis zur Hälfte gelangt, als es rasselte und schepperte und ein Tor von oben heruntergelassen wurde. Es war eines dieser alten Gittertore, die mittelalterliche Burgen vor Eindringlingen geschützt hatten. Es hatte sich bis auf Hüfthöhe abgesenkt, als Walküre das Tor erreichte, und so musste sie sich auf den Boden werfen und darunter hindurchrollen. Auf der anderen Seite sprang sie sofort wieder auf die Beine.
Der Arm ihres Verfolgers schoss durch das Gitter, doch sie war bereits ein gutes Stück außerhalb seiner Reichweite.
Sie schaute sich um, die Hände hinter dem Kopf, holte tief Luft und rüstete sich für den nächsten Sprint. Sie stand auf einem großen, provisorischen Parkplatz, der die Landschaft so weit wie möglich zurückgedrängt hatte. Grüne Hügel wogten wie eingefrorene Wellen bis zum Horizont. Zu ihrer linken Seite lag ein Wald, der sich ungehindert ausdehnte und alles einhüllte, was in seiner Reichweite lag. Rechts sah sie in der Ferne Häuser. Walküre zählte sieben, die jeweils isoliert voneinander an ihrem eigenen Hang standen. Doch bestimmt lag hinter dem Wald eine Stadt oder verborgen hinter diesen Hecken ein Dorf.
„Geh nicht zu weit“, sagte der Mann hinter ihr. „Wir bekommen dich früh genug.“
Sie joggte zügig los und folgte dem Pfad, der vom Parkplatz wegführte. In ihrem Kopf hörte sie Skulduggerys Stimme, die ihr riet, den Pfad zu verlassen, da sie sich hier zu einem leichten Opfer machte. Doch der Pfad würde zu einer Straße führen, das wusste sie, und eine Straße zu Autos und anderen Menschen.
Sie nahm den Pfad, der hügelabwärts verlief und weiter unten zu einer eben verlaufenden, schmalen Straße wurde. Sie steigerte ihr Tempo, rannte jetzt. Die Straße mündete in eine andere, auf der ein Traktor fuhr. Sie winkte, doch der Fahrer sah sie nicht und war schon um die nächste Ecke, bevor sie die Kreuzung erreichte. Walküre lief hinter ihm her und wünschte, sie hätte etwas, womit sie ihre Haare zusammenbinden konnte. Sie lief nicht gern mit offenen Haaren.
Der Traktor rumpelte vor ihr her. Er war alt, und so wie es aussah, hielt nur noch der Rost ihn zusammen. Da er keine Seitenspiegel hatte, bemerkte der Fahrer ihr hektisches Winken nicht. Sie musste langsamer werden, es ging nicht anders, und sie blickte dem davonrumpelnden Traktor finster nach.
Sie hörte ein anderes Motorengeräusch, von einem Auto oder Lieferwagen, der sich von hinten näherte. Vor ihrem geistigen Auge sah sie wieder den Lieferwagen, den die Männer gefahren hatten, als sie sie schnappten. Sie wollte schon in den Graben springen, als ein blauer Sedan um die Ecke bog und scharf abbremste. Die Frau hinter dem Steuer schaute sie mit großen Augen an, öffnete dann die Wagentür und stieg aus.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie. Sie war ungefähr sechzig und hatte kurzes graues Haar.
„Zwei Männer sind hinter mir her. Ich muss weg.“
Die Frau wies mit der Hand auf den Beifahrersitz. „Steig ein.“
Walküre ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie schnallte sich gerade an, als die Frau auch schon losfuhr.
„Was ist passiert?“, wollte die Frau wissen, als sie den Traktor überholte und schnell weiterfuhr. „Wer ist hinter dir her?“
Was sollte Walküre sagen? Die Wahrheit? Natürlich nicht. „Böse Männer“, antwortete sie. „Sie haben mich gekidnappt und hierhergebracht. Ich konnte entkommen, aber sie verfolgen mich. Ich muss zu meinen Freunden zurück. Sie können mir helfen.“
„Wie heißt du?“
„Walküre“, antwortete sie, ohne nachzudenken.
„Walküre … ein ungewöhnlicher Name. Ich heiße Grace. Ich bin nicht aus der Gegend, du musst mir also sagen, wohin ich fahren soll.“
„Ich weiß nicht einmal, wo wir sind.“
„Ich glaube, wir sind in der Grafschaft Kildare. Tut mir leid, ich hab mich irgendwie verfahren.“
„Haben Sie ein Handy? Meins haben sie mir abgenommen.“
Grace verzog entschuldigend das Gesicht. „Ich habe eins, aber der Akku ist leer und ich habe das Ladegerät zu Hause gelassen. Das Beste wird sein, wir fahren einfach in die nächste Stadt.“ Sie bog rechts ab. „Vor ungefähr fünf Minuten bin ich an einer vorbeigekommen.“
Walküre runzelte die Stirn. „Wir fahren zurück?“
„Nicht dieselbe Strecke. Ich glaube, diese Straße führt in einem Bogen zurück.“
„Mir wäre es wirklich lieber, wenn wir so weit wie möglich von hier wegkämen.“
„Du brauchst keine Angst zu haben. Hier ist niemand.“
„Ich fürchte, Sie verstehen nicht, wie ernst die Lage ist. Sie lassen mich nicht einfach abhauen.“ Wieder runzelte Walküre die Stirn. „Sind Sie sicher, dass wir nicht auf genau derselben Straße zurückfahren, auf der wir gekommen sind? Das hier kommt mir so bekannt vor.“
„Oh nein“, beruhigte Grace sie. „Ich bin mir ziemlich sicher. Warum schaust du mich so an? Man könnte fast meinen … du liebe Zeit! Du glaubst, ich kenne diese Männer, stimmt’s? Du glaubst, ich bringe dich zu ihnen zurück?“
„Lassen Sie mich aussteigen“, verlangte Walküre. „Lassen Sie mich sofort –“
Der Van kam von hinten auf der Fahrerseite angebraust und rammte sie. Es gab ein metallisches Kreischen, die Welt drehte sich und Grace schrie. Ihr Wagen kippte abrupt zur Seite und krachte in etwas hinein. Die Airbags bliesen sich auf und drückten Walküres Kopf nach hinten.
Dann stand plötzlich alles still. Der Motor lief, doch sie bewegten sich nicht vorwärts.
Walküre öffnete die Augen. Sie hörte Grace stöhnen und drückte den Airbag herunter. Sie lagen im Graben. Sie löste den Sicherheitsgurt und wollte die Tür öffnen, doch es ging nicht. Sie drehte den Kopf und schaute zu Grace hinüber. Draußen bewegte sich etwas, dann öffnete jemand die Tür.
„Hilfe“, stöhnte Grace leise.
Der Mann griff in den Wagen, umfasste ihren Kopf und drehte ihn herum, bis die Halswirbel brachen. Dann blickte er zu Walküre herüber.
„Ich hab dir doch gesagt, dass wir dich kriegen.“
Sie schleiften sie zur Zelle und dieses Mal ließen sie sich nicht ablenken. Der Mann mit den Schlüsseln öffnete die Eisentür und sein Kumpel warf sie hinein.
Walküre stolperte, stieß mit dem Fuß an etwas und stürzte. Die Tür fiel zu und es wurde dunkel. Sie blieb reglos auf Händen und Knien liegen und lauschte auf ein Geräusch des Ungeheuers, hörte jedoch nur ihren eigenen Atem.
Ganz langsam tastete sie mit der Hand nach dem Hindernis, über das sie gestolpert war. Ein kalter Metallring, von dem aus sich eine dicke Kette in die hintere rechte Ecke der Zelle ringelte, war mit Bolzen im Boden befestigt.
Walküre kroch rückwärts und verzog bei jedem Geräusch, das sie verursachte, das Gesicht. Sie erreichte die Eisentür und es rumste, als ihr Fuß daran anstieß. Nachdem sie einen Augenblick gewartet hatte und sicher sein konnte, dass das Ungeheuer hiervon nicht aufgewacht war und angriff, kroch sie nach links, setzte sich in die Ecke und zog die Knie an die Brust.
Sie hob die Hand und wedelte vor ihrem Gesicht herum, sah jedoch nicht die kleinste Bewegung. Der Boden war glatt. Keine Steine, die man als Waffe hätte benutzen können.
Von dem Ungeheuer hörte sie immer noch nichts. Hatten die Männer gelogen? Ein Spiel mit ihr gespielt? Sie musste an Grace denken und an das Geräusch, als sie ihr das Genick gebrochen hatten. Walküre verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Beine noch weiter an. Sie begann zu zittern. Es war eiskalt in der Zelle, das ausgeschüttete Adrenalin war abgebaut. Sie spürte Panik aufsteigen, aus dem Bauch in die Kehle, und biss sich auf die Lippe. Sie würde nicht weinen. Womöglich war eine Kamera auf sie gerichtet. Nein, sie würde nicht weinen. Sie versuchte an gar nichts zu denken, doch ein Gedanke mogelte sich in ihr Bewusstsein und mehr brauchte es nicht.
Wenn nur Skulduggery hier wäre.
Ihr Gesicht verzog sich, Tränen traten ihr in die Augen und sie senkte den Kopf und weinte.
Als Walküre keine Tränen mehr hatte, rieb sie sich die Augen. Sie war jetzt ziemlich sicher, dass sie allein in der Zelle war. Alles, was nicht aufgewacht war, als man sie hereingestoßen hatte, hätte sich inzwischen bestimmt gerührt. Also hatten die Männer ein Spiel mit ihr getrieben. Sie war für nichts und niemanden eine Mahlzeit. Aber was dann? Sollte sie als Druckmittel gegen das Sanktuarium benutzt werden? Sie bezweifelte, dass ihr Schicksal Großmagier Thurid Guild besonders viel wert war.
„Hallo“, sagte eine Stimme.
In ihrer Angst fluchte Walküre und drückte sich weiter in die Ecke. Sie riss die Augen weit auf, in der Hoffnung, wenigstens Umrisse in der Dunkelheit wahrzunehmen.
„Ich tu dir nichts“, versicherte die Stimme ihr. Sie klang wie die Stimme eines jungen Mannes. „Wahrscheinlich.“
„Wer bist du?“, fragte Walküre laut und barsch.
Die Stimme war leise und weich. „Ich bin Caelan. Das ist meine Zelle. Du sitzt übrigens in meiner Lieblingsecke. Alle paar Tage die Ecke zu wechseln, ist das Einzige, was das Leben hier erträglich macht. Dann ist alles wieder ganz neu.“
Sie runzelte die Stirn. „Tut mir leid.“
„Schon gut. Du kannst sie haben.“
„Was passiert jetzt?“
„Sie haben es dir nicht gesagt? Normalerweise sagen sie es den Leuten.“
„Sie sagten nur, dass ich eine Mahlzeit wäre.“
Fast spürte sie, wie er nickte.
„Dann haben sie es dir ja doch gesagt. Rein technisch gesehen, wärst du allerdings keine Mahlzeit. Du wärst ein Getränk.“
Walküre überlief es eiskalt. „Du bist ein Vampir.“
„Aha“, erwiderte er gedehnt. „Dann musst du eine Zauberin sein, ja? Ich nehme nicht an, dass du uns mit deinen Zauberkräften hier rausholen kannst, oder?“
Sie hob in der Dunkelheit die Hände. „Die Handschellen binden meine Kräfte. Ich kann keine Magie anwenden.“
„Ach so. Es wäre auch zu schön gewesen. Wie heißt du?“
„Walküre. Walküre Unruh.“
„Du sagst das so, als müsste ich etwas mit dem Namen anfangen können.“
„Ich arbeite mit Skulduggery Pleasant zusammen.“
„Mit dem Skelettdetektiv“, sagte Caelan. „Von ihm habe ich schon gehört. Ich habe allerdings auch gehört, er sei verschwunden. Wurde anscheinend in eine andere Dimension gezogen oder etwas ähnlich Blödes.“
„Stimmt. Ich hole ihn zurück.“
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. „Und wie man sieht, gelingt dir das wunderbar.“
Sie blickte finster in die Dunkelheit. „Was ist mit dir? Was machst du hier?“
„Gerade jetzt? Gerade jetzt befinde ich mich im Hungerstreik.“
„Seit wann?“
„Seite heute Morgen. Bis jetzt läuft es ganz gut, aber um die Abendessenszeit herum breche ich immer ein …“
„Weshalb streikst du?“, wollte Walküre wissen.
„Ich will ihr Spiel nicht mehr mitspielen. Hast du die Arena gesehen? Den Kampfplatz?“
„Ja.“
„Jeden Freitagabend bringen sie uns in die Arena und wir müssen gegeneinander kämpfen.“
„Wir?“
„Die anderen von meiner Sorte, die in den anderen Zellen.“
„Vampirkämpfe?“
„Nicht nur Vampire. Auch alle möglichen anderen Kreaturen. Die Zuschauer strömen nur so hin. Ich darf mich natürlich nicht vollständig verwandeln. Das Ungeheuer, zu dem ich sonst werden würde, könnte alles in Stücke reißen, was ihm über den Weg läuft – und das macht natürlich keinen Spaß. Also geben sie mir die halbe Dosis des Serums, damit sich die Verwandlung nur halb vollzieht. Aus sportlichen Gründen. Wenn ich gewinne, bringen sie mich wieder hierher zurück und vor dem nächsten Kampf werfen sie mir einen Brocken zu, damit ich bei Kräften bleibe. Du bist nun der besagte Brocken. Wenn ich verliere, bin ich tot. Richtig tot, nicht nur vampirtot.“
„Dann trinkst du also mein Blut nicht, weil …“
„Weil ich stark sein soll, wenn sie mich in die Arena schicken. Nur dann ist die Menge zufrieden. Wer will schon dafür bezahlen, einen halb verhungerten Vampir zu sehen, der auf einen Zombie oder einen Brückentroll eindrischt? Wenn ich nicht esse, dann schicken sie mich nicht in die Arena. Ich bin jetzt seit drei Monaten hier und mir reicht’s.“
„Das ergibt doch keinen Sinn.“
„Du willst mir das nicht wirklich ausreden. Bis jetzt habe ich noch jeden ausgesaugt, den sie mir vorgeworfen haben. Du hast Glück, dass ich ausgerechnet heute meine Meinung geändert habe.“
„Wer sind sie? Die Männer, die das machen?“
„Du meinst, sind sie Zauberer? Sind sie nicht. Es sind Sterbliche, die mehr wissen, als ihnen guttut“, erklärte Caelan. „Diese Handfesseln, die deine Kräfte binden, sind nur ein Bruchteil dessen, was sie im Lauf der Jahre aufgeschnappt haben. Alles, was sie wissen, ist abgeschaut. Der Große heißt Bruno. Den Namen des Kleineren kenne ich nicht.
Soviel ich weiß, wird die ganze Sache von einem Mann organisiert, der sich Promoter nennt. Und die Zuschauer, die jede Woche hierherströmen – sind Sterbliche. Sie halten das alles vor der Presse geheim, damit das Sanktuarium nichts davon mitbekommt und die Unternehmung hier einstampft. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Sterbliche weit schlechter sind als jeder Vampir oder Zauberer.“
„Was passiert wohl, wenn sie merken, dass ich noch lebe?“
„Wenn ich dich nicht aussauge, geben sie dich einem anderen, der es tut. Welchen Tag haben wir heute?“
„Donnerstag.“
„Dann bist du morgen Abend tot.“
Dazu sagte Walküre nichts.
Sie hatte auch während der nächsten vier Stunden nichts zu sagen. Ihr war kalt und ihr wurde immer kälter. Sie hatte Hunger und noch andere Bedürfnisse.
„Ich muss pinkeln“, rief sie.
Einen Augenblick herrschten nur Stille und Dunkelheit.
„Tja, das ist jetzt ein bisschen blöd“, meinte Caelan schließlich gedehnt.
Verlegenheit machte Walküre wütend. „Und was soll ich machen? An die Tür klopfen oder was?“
„Keine Ahnung. Keine andere Mahlzeit hat lang genug überlebt, um auf die Toilette zu müssen. Du wirst es einfach hier erledigen müssen.“
Walküre stand auf, tastete sich zur Tür vor und wummerte mit den Fäusten dagegen. „He!“, rief sie.
Sie hörte, wie ihr „He!“ aus den anderen Zellen zurückschallte.
Sie trat gegen die Tür. „Ich muss zur Toilette!“
Die Antworten darauf waren, wie vorauszusehen, äußerst unappetitlich.
Und dann hörte sie eine andere Stimme, deutlicher als die vorher. „Klappe halten, da drin!“ Sie kannte die Stimme nicht.
Die meisten anderen Gefangenen wurden still und bei denjenigen, die weiterkrakeelten, wurde als Warnung einmal kurz und zackig an die Eisentür geklopft. Walküre wartete, bis wieder einigermaßen Ruhe eintrat.
„Hallo?“, rief sie dann. „Ich muss zur Toilette. Hallo?“
Sie hörte Schritte näher kommen. Dann hantierte jemand an der Tür und die Klappe vor dem Sichtfenster wurde zurückgeschoben. Der Strahl einer Taschenlampe blendete sie und sie schaute rasch weg.
„Was ist hier los?“, fragte der Mann. „Warum ist sie noch nicht tot?“
„Ich muss zur Toilette“, erwiderte Walküre und blinzelte, bis sie wieder etwas sah.
Der Mann ignorierte sie und wiederholte seine Frage: „Warum ist sie noch nicht tot?“
„Ich befinde mich im Hungerstreik“, antwortete Caelan.
Der Mann schob die Taschenlampe durch die Luke, um in Caelans Ecke schauen zu können. Walküre packte sie und entwand sie ihm.
„Gib sie sofort wieder her!“, brüllte der Mann.
„Wenn Sie mich zur Toilette lassen, bekommen Sie die Lampe wieder.“
„Du solltest längst tot sein.“
„Bin ich aber nicht. Ich lebe und ich muss pinkeln.“
„Dann behalte das verdammte Ding doch!“, fauchte er und schloss die Klappe mit einem Rums. Sie hörte, wie seine Schritte sich entfernten.
„Ich schau nicht hin“, sagte Caelan. „Versprochen.“
Wütend schwang Walküre die Taschenlampe in die Richtung, aus der seine Stimme kam.
Der Lichtstrahl fiel auf einen Jungen ungefähr in ihrem Alter, vielleicht ein wenig älter. Er lümmelte in der Ecke, hatte den Rücken an die Wand gelehnt, eines seiner langen Beine auf dem Boden ausgestreckt und das andere angezogen. Seine Stiefel waren zerschrammt und seine Jeans war schmutzig und zerrissen. Sein Oberkörper war nackt und der Lichtstrahl wanderte über die festen Muskeln an seinen Armen. Doch am meisten faszinierte sie sein Gesicht: schwarzes Haar, das ihm in die Stirn fiel, ein wahnsinnig verwegenes Lächeln und wahnsinnig ausgeprägte Wangenknochen. Mit einer Hand beschirmte er seine Augen.
„Ich werde es nicht einmal jemandem sagen“, fuhr er fort. „Deine Würde bleibt gewahrt, ich schwör’s.“
Sie ließ den Lichtstrahl wieder hinunterwandern zu seinem Oberkörper und erlaubte sich einen Moment des ehrfürchtigen Staunens über die Art und Weise, wie das Licht seine Bauchmuskeln zur Geltung brachte.
„Entschuldige bitte, aber ich fühle mich langsam wie ein Sexobjekt.“
„Bilde dir nichts ein“, erwiderte sie, hielt den Lichtstrahl aber weiter auf seinen Bauch gerichtet. „Du siehst auf deine Art nicht schlecht aus, bist aber ganz und gar nicht mein Typ.“
Was natürlich gelogen war.
Sie ließ den Lichtstrahl über sein ausgestrecktes Bein wandern, bis hinunter zu der Fessel, an der die schwere Kette hing. Sie leuchtete auf der Suche nach Kameras oder Fenstern die Wände ab, entdeckte aber keine.
Sie wies mit der Taschenlampe auf eine der freien Ecken. „Ich mach’s hier.“
„Ich schaue nicht hin.“
Sie ging in die Ecke und hielt den Lichtstrahl auf ihn gerichtet, damit er ihn blendete, falls er doch spickte. Doch wie es schien, wollte Caelan sein Wort halten. Er hatte das Gesicht abgewandt und die Augen geschlossen.
Sie zögerte kurz, bevor sie den Reißverschluss ihrer Jeans öffnete und sich hinhockte.
„Sag was“, befahl sie.
„Was?“
„Rede mit mir, aber laut. Ich will nicht, dass du mich hörst.“
Wieder dieses Lächeln, das um seine Mundwinkel spielte.
„Worüber möchtest du reden?“
„Mir egal.“
„Na gut. Dann reden wir über deinen Freund, das Skelett. Wie willst du ihn aus dieser anderen Dimension zurückholen?“
„Das ist eine lange Geschichte“, antwortete Walküre, „und sie ist kompliziert. Aber ich hab’s fast geschafft. Ich brauche nur noch ein einziges Ding, dann kann’s losgehen.“
„Und was ist dieses eine Ding?“
„Der Mordschädel.“
„Tut mir leid, aber ich weiß nicht, wovon du sprichst.“
„Musst du auch nicht. Ich versuche ihn jetzt schon seit einer halben Ewigkeit zu finden, herauszubekommen, wer ihn bei sich hat. Das ist auch der Grund, weshalb ich hier gelandet bin. Der Typ, der ihn hat, heißt Chabon. Um Kontakt mit ihm aufnehmen zu können, bin ich in schlechte Gesellschaft geraten.“
„Wie nett du das ausdrückst.“
„Danke. Die schlechte Gesellschaft hat mich zu dem großen Kerl geführt … Wie heißt er noch mal?“
„Bruno.“
„Bruno. Er hat herausbekommen, dass ich eine Zauberin bin, und dachte, ich wollte ihn verhaften oder in Brand stecken oder etwas in der Richtung … Ich kehre ihm eine Sekunde den Rücken zu und schon ist es passiert. Ich wache mit gefesselten Händen in einem Lieferwagen auf.“
„Ausgerechnet als du kurz vor dem Ziel stehst.“
„Ganz so kurz nun auch wieder nicht. Ich weiß absolut gar nichts über diesen Chabon.“
„Er ist ein Krimineller“, sagte Caelan. „Thames Chabon, ein Informationshändler, Schrägstrich zwielichtige Erscheinung, aus London.“
„Du kennst ihn?“
„Ich kenne einige Leute, die sich mit ihm in Verbindung setzen können.“
„Kannst du mir helfen?“
Caelan lachte leise. „Klar doch. Wir erklären dem Promoter einfach, dass wir was zu erledigen haben, und er lässt uns davonspazieren.“
„Wirst du ein Treffen arrangieren, wenn ich dich hier rausbringe?“
„Du sitzt gefesselt in einer Zelle und wirst über kurz oder lang an ein Ungeheuer verfüttert, das nicht wählerisch ist, wenn es ums Essen geht. Du bringst hier niemanden raus.“
„Und wenn doch?“
Er seufzte. „Wenn du mich hier rausbringst, schulde ich dir wohl einen Gefallen.“
Walküre richtete sich auf und zog ihre Jeans hoch. „Gut.“ Damit ging sie in ihre Ecke, setzte sich aber nicht, sondern lehnte sich an die Wand und knipste die Taschenlampe aus. „Wie lang bist du schon ein Vampir?“
„Länger als einige“, antwortete er. „Weniger lang als manche andere.“
„Wie ist es passiert?“
Zunächst herrschte wieder Schweigen in der Dunkelheit, dann erzählte er: „Ich war verliebt. Sie hieß Anna. Unsere Eltern wollten nicht erlauben, dass wir uns trafen, sie meinten, wir seien zu jung. Da beschlossen wir, von zu Hause wegzulaufen und zu heiraten.“
Seine Stimme veränderte sich beim Reden. Der Rhythmus wurde langsamer, als lebte er in einer anderen Zeit.
„Wir verkauften unbemerkt unser Hab und Gut und sparten das Geld. Und jede Nacht stieg ich durch ihr Schlafzimmerfenster, wir lagen einander in den Armen und redeten über all die Dinge, die wir tun würden. Wir wollten nach England gehen, dann nach Frankreich und Afrika. In ihren Augen konnte ich mein ganzes Leben sehen und sie ihres in meinen.“
Walküre setzte sich, während Caelan fortfuhr.
„Ihre Familie besaß eine Schenke. Sie war an anzügliches Grinsen und grapschende Hände gewöhnt und hasste beides. Dann, eines Tages, stand ein Fremder in der Tür dieser Schenke. Sie erzählte mir von ihm, als wir beisammenlagen. Er saß immer nur an seinem Tisch, rührte das bestellte Getränk nicht an und wandte den Blick keine Sekunde von ihrem Gesicht ab.
Abend für Abend saß er da und betrachtete sie, immer mit einem Lächeln hinter seinem Bart. Einer der Stammgäste war vernarrt in Anna wie ja viele andere auch, da sie ein wunderschönes Mädchen war. Er nahm Anstoß an diesem Fremden und versuchte ihn mit zwei seiner kräftigsten Freunde aus dem Lokal zu werfen. Anna holte gerade Wein aus dem Keller, sodass sie die Schlägerei nicht mitbekam. Doch nach Aussage des Schankwarts war sie genauso schnell vorbei, wie sie begonnen hatte.
Er berichtete, der Fremde hätte einen der Männer hochgehoben und durchs ganze Lokal geworfen. Er sagte, dass er danach den zweiten Mann an der Schulter gepackt und den Knochen förmlich pulverisiert hätte. Und der Gast, der Annas Ehre verteidigen wollte, wurde nach draußen geschleift. Niemand hat ihn jemals wiedergesehen.
Nach dieser Nacht begann der Fremde mit Anna zu reden, während sie ihn bediente. Sie erzählte mir, dass er zwar ein Raubein, aber gebildet sei, und auf seine Art recht charmant. Bald wurde auch sie gesprächig und erzählte ihm vieles, auch über mich. Sie erzählte ihm sogar von unserer Absicht wegzulaufen. Er schien … interessiert.
Eines Nachts wartete er dann im Garten unter ihrem Fenster auf mich. Er schleifte mich zu einer Weide und entblößte seine Fangzähne. Mein ganzes Blut hat er nicht ausgesaugt, und er hat mich auch nicht umgebracht. Er hat mich einfach nur weggeworfen.“
„Und mehr war nicht nötig?“, fragte Walküre leise. „Nur ein Biss?“
„Mehr braucht es nicht. Ich kroch durch ein schmales Fenster und fiel in den Keller der Schenke. Hinter Fässern verborgen lag ich drei Tage da und wurde vom Fieber geschüttelt.
Als ich wieder zu Bewusstsein kam, schmeckte ich Blut und hatte großen Hunger. Es war ein Hunger, wie ich ihn noch nie empfunden hatte. Ich verließ den Keller. Die Schenke war leer und dunkel, und ich stieg hinauf in die Wohnung. Der Fremde war wohl nur Stunden zuvor hier gewesen und hatte Annas Familie sämtliche Glieder ausgerissen. Die Blutspritzer an den Wänden waren noch feucht. Ich erinnere mich nicht mehr, ob ein Teil von mir entsetzt war beim Anblick dieser Szene. Ich erinnere mich nur noch an das Blut und dass es das Einzige war, was meinen Hunger stillen konnte.“
„Du … du hast es getrunken?“
„Ich habe es vom Boden aufgeschleckt. Ich habe es von den Wänden geleckt.“
Walküre sagte nichts dazu.
„Das war natürlich alles inszeniert. Der Fremde liebte solche Spielchen. In den drei Tagen, während der ich weg war, überzeugte er Anna davon, dass ich ohne sie abgehauen sei. Sie war verzweifelt und er war ihr Trost. Und er fädelte es so ein, dass Anna, als ich am allerschwächsten war, blutbesudelt und auf Knien, nach Hause zurückkehrte und mich sah.
Sie flüchtete sich zu ihm und er nahm sie in sein Bett. Als er fertig war, schnitt er ihr das Herz aus dem Leib und ließ es als Geschenk für mich zurück.“
„Hast du ihn je wiedergesehen?“
„Nein. Ich wollte es, aber er war verschwunden. Ich kannte ja nicht einmal seinen Namen.“
Sie blickte in der Dunkelheit zu der Ecke, in der er saß. „Ich wusste nicht, dass Vampire sein können wie du“, sagte sie.
Er klang belustigt. „Du kennst jede Menge Vampire, wie?“
„Nur einen“, gab sie zu. „Und ich habe ihm eine Narbe verpasst, die nie ganz verschwinden wird, deshalb mag er mich nicht sonderlich.“
Einen Augenblick herrschte Stille. „Das war Dusk“, sagte Caelan.
Walküres Augen weiteten sich. „Genau. Er zählt nicht zu deinen Freunden, oder?“
„Nein“, antwortete Caelan leise. „Nein. Er ist kein Freund von mir.“
Sie schlief schlecht.
Sie lag auf dem nackten Boden und fror. Sie war hungrig und durstig, und jedes Mal wenn sie schwach zu werden drohte, dachte sie an Skulduggery. Sie dachte daran, dass sie seine einzige Hoffnung war und jetzt hier lag, machtlos, gefesselt und kurz davor, getötet zu werden. Der Gedanke, dass sie ihn enttäuschen könnte, trieb Walküre Tränen in die Augen.
Immer wieder übermannte sie der Schlaf. In der Zelle war die Zeit schwer einzuschätzen. Die Zeit war etwas, das draußen passierte. Irgendwann würde die Tür sich öffnen und die Zeit hereinschwappen können. Doch bis es so weit war, gab es nur Kälte und Dunkelheit und den Vampir in der gegenüberliegenden Ecke.
Sie dachte an ihre Eltern, die das Spiegelbild jetzt bis zum Ende ihrer Tage für ihre Tochter halten würden. Sie dachte an ihre Freunde – an Tanith und Grässlich und an Fletcher. Sie hatten ihr Verschwinden inzwischen bestimmt schon bemerkt. Sie würden sich Sorgen machen. Sie würden mit dem Spiegelbild reden, und das würde ihnen sagen, dass sie nicht einmal ihre Schutzkleidung mitgenommen hatte, als sie losgezogen war, um Ermittlungen anzustellen.
Das hatte sie jetzt davon. Das hatte sie davon, dass sie ihr Leben von dieser Sache bestimmen ließ. Sie machte blöde Fehler. Sie redete mit den falschen Leuten, ohne ordentliche Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.
Das hatte sie jetzt davon.
Es wurde Morgen. Sie hörte, wie die Männer ihren Rundgang machten. Die Klappe in der Tür öffnete sich und das Licht fiel auf sie. Sie hörte ein Schnauben und die Klappe schloss sich wieder.
„Sie sind nicht zufrieden mit mir“, stellte Caelan fest.
Seine Stimme war schwach.
Er redete nicht viel an diesem Tag. Wenn er doch etwas sagte, klang seine Stimme trocken und dünn. Und noch etwas anderes lag in seinem Ton. Ein Anflug von Ärger. Nein, nicht von Ärger. Von Zorn. Gewaltbereitschaft. Er versuchte es zu verbergen, doch das Gefühl war zu mächtig.
Weitere Stunden vergingen, bis er schließlich sagte: „Es tut mir leid.“
„Was tut dir leid?“
„Sie kommen, Walküre. Das Stadion füllt sich. Ich höre sie reden und lachen. Ich höre die Wagen draußen vorfahren.“
„Was werden sie mit mir machen?“
Es dauerte einen Augenblick, bevor er antwortete. „Sie werfen dich jemand anderem vor.“
Vor der Zelle ging ein Licht an. Im Türspalt wurde es hell.
Walküre stand auf. Mit der rechten Hand hielt sie die Taschenlampe fest umklammert. „Ich renne weg“, sagte sie. „Sobald die Tür aufgeht …“
„Du wirst es nicht schaffen“, erwiderte er müde. „Es sind zu viele.“
„Ich stehe nicht einfach tatenlos hier rum“, fauchte sie. „Wenn ich schon sterben muss, sollen die so richtig dafür leiden.“
Er stieß ein letztes Lachen aus, bevor die Klappe schepperte und aufging. Gelbes Licht strömte herein.
Sie presste den Rücken an die Wand, schaute ins Licht und blinzelte ein paarmal rasch hintereinander, damit ihre Augen sich daran gewöhnen konnten. Die Tür öffnete sich, und als der kräftige Mann, den Caelan Bruno genannt hatte, hereinkam, stürzte sie sich auf ihn. Sie donnerte ihm die Taschenlampe an den Kopf, er fluchte und schleuderte Walküre von sich. Sie stolperte über die Kette und schlug der Länge nach hin.
„Was zum Teufel ist das denn?“, blaffte er.
„Ich hab’s dir doch gesagt“, knurrte der andere Mann, dem sie die Taschenlampe abgenommen hatte. „Ich hab dir gesagt, dass er nicht getrunken hat.“
„Vampir, warum ist sie noch nicht tot?“, fragte Bruno.
„Wir haben letzte Woche darüber gesprochen“, erwiderte Caelan ruhig. „Ich streike.“
„Und wie kommst du auf die Idee, dass das etwas ändert?“
„Da draußen sitzt eine Menschenmenge, die nach Blut lechzt. Sosehr sie mich auch hassen, ich bin eben doch deine größte Attraktion. Die erwarten einen gewissen Standard. Und der Kampf wird nicht besonders prickelnd, wenn ich so schwach bin wie jetzt.“
Bruno lachte. „Du glaubst tatsächlich, wir lassen dich vom Haken, nur weil wir deine Fans nicht enttäuschen wollen?“
„Das wäre das Vernünftigste.“
„Ich lasse deinen Traum nur ungern platzen, Vampir, aber so unterhaltsam bist du jetzt auch wieder nicht. Da draußen sind etliche Leute, die glauben, dass man es dir in der Arena viel zu leicht gemacht hat.“
„Das ist lächerlich und du weißt es.“
„Hey, wenn du am regulären Kampf nicht teilnehmen willst – meinetwegen. Wir probieren mal was Neues aus, was hältst du davon? Wir bieten ihnen heute Abend ein besonderes Spektakel. Genau, das machen wir. Caelan, der geschwächte Champion, tritt an gegen Victor, den jungen, motivierten Herausforderer.“
Caelans Ton war sofort ein anderer. „Ihr … ihr könnt mich nicht gegen Victor antreten lassen.“
„Und ob wir das können.“
„Er wird nicht einwilligen. Vampire dürfen anderen Vampiren nichts tun.“
„Das hat dich bisher doch auch nicht abgehalten, oder? Und es wird Victor genauso wenig interessieren.“
Bruno trat beiseite und zwei stämmige Männer kamen herein, schlossen Caelans Fußfessel auf und schleiften ihn zur Tür.
„Ihr könnt mich nicht mit ihm in die Arena schicken“, protestierte Caelan. „Er ist im Vollbesitz seiner Kräfte.“
„Du hättest dich stärken sollen, als du die Gelegenheit dazu hattest.“
Caelan schaute Walküre an und etwas in seinem Blick ließ sie zurückweichen. „Eine Sekunde noch“, bat er.
Bruno schüttelte den Kopf. „Auf in die Arena, Jungs.“
Caelan streckte die Hände nach ihr aus. „Ich nehme nur einen kleinen Schluck …“
Ein Blitz zuckte auf. Durch Caelan ging ein Ruck, dann sackte er zusammen und die Männer schleiften ihn hinaus.
Bruno lächelte Walküre zu. „Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, ihn dir vom Leib zu halten, Mädchen, aber heute Abend stehst du wieder auf der Speisekarte.“
Er packte ihre Handfesseln und schüttelte die Taschenlampe aus ihrem Griff. Dann verdrehte er ihr den Arm auf dem Rücken und bugsierte sie aus der Zelle. Sie sah die Männer mit Caelan weiter vorn, doch Bruno schlug einen anderen Weg mit ihr ein. Sie hörte die Menge bereits grölen.
Er schob sie durch einen schmalen Durchgang, der in einen größeren Tunnel führte. Sie erhaschte einen Blick auf den Nachthimmel, wurde jedoch in die entgegengesetzte Richtung gestoßen. Das Gegröle wurde lauter.
Schließlich standen sie am Ende des Tunnels vor einer breiten, zweiflügeligen Holztür. Die Menschenmenge auf der anderen Seite steigerte sich bereits in eine irre Raserei hinein. Genau wie bei den Zellen gab es auch in dieser Tür Klappen. Bruno öffnete sie und stieß Walküre vorwärts.
Sie kamen in einen abgesperrten Bereich auf der Tribüne. Die Arena befand sich unterhalb davon. Zwei Türen führten aus der Arena, beide waren geschlossen. Walküre ließ den Blick über die Menge schweifen. Die Leute trugen Mäntel und Hüte und viele hatten bunte Schirme dabei. Da dicke Wolken die Sterne verdeckten, rechneten sie wohl mit Regen. Sie sangen und lachten und stimmten in Sprechchöre ein. Es ging zu wie bei einem Fußballspiel. Sie sah sogar Kinder auf den Schultern ihrer Väter sitzen.
Das war doch krank.
Die Menge verstummte und Walküre trat ein Stück vor und beobachtete, wie ein kräftiger Mann in die Mitte der Arena trat.
„Ladys und Gentlemen“, rief er laut, „willkommen zu den Kämpfen!“
Begeistertes Gebrüll von der Tribüne war die Antwort. Offenbar handelte es sich hier um ein dankbares und leicht zufriedenzustellendes Publikum.
„Und was für Kämpfe wir für euch auf Lager haben …“, fuhr der Promoter fort. „Wildes Tier gegen wildes Tier. Unmenschlicher Killer gegen unmenschlichen Killer. Monster gegen Monster. Und die eine oder andere Überraschung gibt es auch noch. Oh ja, Ladys und Gentlemen, wir beobachten, dass ihr dabei seid, es euch da oben gemütlich zu machen. Wir merken, dass ihr eure Lieblinge habt und entsprechend wettet. Wir müssen euch jedoch warnen, liebe Freunde. Monster sind unberechenbar. Habe ich recht?“
Die Menge brüllte und der Promoter nickte.
„Sie schleichen sich an einen ran, nicht wahr? Sie stehlen sich durch die Nacht unter euer offenes Fenster, und was machen sie dann, Jungs und Mädels? Sie schlagen ihre Zähne in euren Hals und trinken euer Blut!“
Einige Zuschauer kreischten in entsetztem Entzücken.
„Vor allem bei Vampiren müsst ihr immer das Unerwartete erwarten! Nur so können wir unser Land von diesen Parasiten befreien. Und so ist der erste Kampf am heutigen Abend eine wahre Rarität: Es gibt unter den Vampiren ein Gesetz, dass keiner einem Artgenossen etwas zufügen darf. Doch heute Abend haben wir hier zwei Vampire, die sich nicht an dieses Gesetz halten. Ladys und Gentlemen, Jungs und Mädels – euren Wetteinsatz bitte!“
Die Tür links von Walküre ging auf und ein Mann wurde hereingeführt. Er war an Händen und Füßen gefesselt und trug eine gleich unterhalb der Knie abgeschnittene, blutbespritzte Trainingshose. Sein Körper sah aus wie eine Landkarte, die mit Schmerzen gezeichnet wurde, übersät mit alten und neuen Narben. Sein Schädel war schlecht rasiert, so als hätte er es selbst gemacht, im Dunkeln und mit einem stumpfen Rasiermesser. Er hatte schwarze Augen und aus seinen Gaumen ragten spitze Zähne.
„Victor“, stellte der Promoter ihn vor und erntete etliche Buhrufe. „Acht Kämpfe hat er bereits hinter sich und erweist sich langsam als tüchtiges kleines Ungeheuer. Stimmt doch, Victor, oder?“
Victor erwiderte nichts darauf. Er steckte mitten in seinem Verwandlungsprozess zum Vampir fest. Walküre erkannte es an seinem schmerzverzerrten Gesicht und daran, wie sein Körper zuckte. Sie hatte das schon mal bei Dusk gesehen, als man ihm während seiner Verwandlung Vampirserum gespritzt hatte. Damals war Walküre dafür verantwortlich gewesen.
Die Tür zu ihrer Rechten öffnete sich. Der Promoter drehte sich mit Schwung um und zeigte auf den Neuankömmling, der ins Licht geführt wurde.
„Und heute Abend wird sich Victor für euer sportliches Vergnügen, zu eurer Unterhaltung und Belehrung … Caelan stellen!“
Die Menge johlte und jubelte. Caelan stolperte und der Mann hinter ihm bohrte ihm den Lauf seines Gewehrs in die Seite. Walküre sah kurz die Krallen an seinen Fingerspitzen. Auch er war auf halbem Weg zwischen seinen beiden Naturen gefangen.
Die Kämpfer wurden an gegenüberliegende Seiten der Arena gebracht, und als der Ansager den Kampfplatz verließ, nahm man ihnen die Fesseln ab. Die Bewacher, ein halbes Dutzend pro Kämpfer, zogen sich mit wachsamen Blicken zu den Türen zurück, schlossen sie hinter sich und sperrten Caelan und Victor ein.
Der Promoter erschien nun auf der Tribüne und setzte sich auf einen Stuhl, der nur als Thron bezeichnet werden konnte.
„Vampire!“, rief er. „Das Abschlachten kann beginnen!“
Caelan und Victor umkreisten sich mit leicht eingeknickten Knien und hochgezogenen Schultern. Victor bleckte die Reißzähne und griff Caelan an, doch dieser stieß ihn zurück und konnte so den Abstand zwischen ihm und sich wahren.
Victor griff erneut an, zwang Caelan zum Zurückweichen und schnitt ihm die Fluchtwege ab. Victor strotzte vor Energie – jede Bewegung war genau kalkuliert. Caelan dagegen war zögerlich in seinen Bewegungen, er wirkte eindeutig benommen im Vergleich zu seinem Gegner.
Walküre hoffte, dass es nur ein Täuschungsmanöver war. Sie hoffte, dass er nicht wirklich so schwach war, wie er gesagt hatte. Falls doch, hatte sie das Gefühl, als würde es ein sehr kurzer Kampf werden.
Victor stürmte erneut heran und dieses Mal konnte Caelan nicht ausweichen. Der Schlag traf ihn am Kinn, und als er zurückwich, riss Victor ihm mit seinen Krallen die Brust auf.
Die Menge johlte begeistert.
Es gelang Caelan, einen Arm um Victor zu schlingen. Er hob ihn hoch, drehte sich um, schleuderte Victor zu Boden und trat noch nach ihm. Victor drehte sich rasch auf den Rücken und kickte Caelan die Beine weg.
Beide Kämpfer rappelten sich wieder auf, doch Victor war deutlich schneller. Sie prallten aufeinander und Caelan wurde mit voller Wucht gegen die Einfassung der Arena geschleudert.
Über ihnen wurden Wetteinsätze ausgerufen und angenommen, und Leute mit breiten Schärpen über ihren Jacketts kritzelten emsig in ihre Notizbücher. Bruno rief auch etwas, hatte jedoch Mühe, sich Gehör zu verschaffen. Walküre versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, aber er war viel zu stark.
Victor prügelte auf Caelan ein. Er trieb ihn durch die Arena und ließ ihn nur aufstehen, damit er sich das Vergnügen gönnen konnte, ihn wieder niederzuschlagen.
Als sie sich erneut voneinander lösten, kam die dröhnende Stimme des Promoters über die Lautsprecher: „Wie gefällt euch das Spektakel, Leute?“
Die Menge johlte.
„Das ist wirklich ein ganz besonderer Abend, nicht wahr? Noch besser kann der Abend wahrhaftig nicht werden, oder? Wie? Kann er doch?“
Die Menge wurde fast still in gespannter Erwartung.
Walküre hörte das Grinsen in der Stimme des Promoters. „Ladys und Gentlemen, zu eurem Vergnügen bieten wir euch heute Abend nicht nur einen seltenen und aufregenden Vampir-gegen-Vampir-Kampf. Nein, wir bringen auch noch eine dritte Partie ins Spiel! Freunde, Gleichgesinnte, Kollegen, ihr habt von ihnen gehört, ihr habt die Geschichten gehört, ihr habt gehört, wozu sie imstande sind, aber noch nie habt ihr eine in Aktion gesehen … bis jetzt! Besucher dieser Arena, sie ist jung, sie ist schön, sie hat magische Kräfte … Ich biete euch unseren dritten und letzten Kämpfer – die Zauberin!“
„Was?“, fragte Walküre noch, dann trat Bruno ihr kräftig in den Hintern und sie flog über die Brüstung und in die Arena hinunter.
Sie landete auf den Knien, allein das ohrenbetäubende Gebrüll der Menge drohte sie zu überwältigen. Sie drehte sich um und schaute zu Bruno hinauf. Er lächelte und warf ihr einen Schlüssel zu, der im hellen Scheinwerferlicht glitzerte. Sie fing ihn auf, wirbelte aber sofort wieder herum und vergewisserte sich, dass Victor und Caelan sich nicht rührten. Die beiden Vampire standen auf der gegenüberliegenden Seite der Arena und fixierten sie.
Walküres Hände zitterten so sehr, dass der Schlüssel eine Ewigkeit über das Schloss der Handfesseln kratzte, bevor er hineinglitt. Eine Drehung nach rechts, und beide Handgelenke waren frei. Sie spürte, wie ihre magischen Kräfte zurückkehrten. Doch das Klimpern der Fesseln, als sie auf den gestampften Boden fielen, war für die Vampire das Signal, auf das sie gewartet hatten.
Sie rannten auf sie zu, Walküre drückte gegen die Luft und Caelan wurde nach hinten getrieben. Victor wich dem Luftstrom aus und griff an. Sie schlug mit den Schatten nach ihm und hob ihn von den Füßen. Er landete in der Hocke an der Mauer der Arena und schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. Sein Fauchen ging im Gebrüll der Menge unter.
Caelan sprang sie an. Walküre ging zu Boden, rollte sich ab und blieb so außerhalb der Reichweite seiner Krallen und Fänge. Sie trat nach ihm, damit er von ihr abließ, doch es war, als würde sie gegen eine Wand treten. Scharfe Krallen bohrten sich in ihr Bein, es floss Blut, und er zog sie näher zu sich heran. Sie wälzte sich herum, schnippte mit den Fingern und drückte ihm eine Faust voll Feuer ins Gesicht. Caelan torkelte davon. Er jaulte wie ein geprügelter Hund. Walküre rappelte sich auf.
Victor lief von hinten in sie hinein. Seine Krallen rissen ihr das Schulterblatt auf. Sie schrie, drehte sich, geriet ins Wanken und fiel hin. Dabei stolperte Victor über ihre Beine, stürzte auf sie und schnappte nach ihr. Sie konnte ihn von sich weghalten. Gerade noch. Er drückte ihren Kopf zur Seite und entblößte ihre Kehle, aber als er sich blitzschnell zu ihr herunterbeugen wollte, füllte sie seinen Mund mit Schatten. Victor würgte und fuhr zurück und sie setzte sich auf. Er keilte dabei jedoch in blinder Panik aus und traf sie am Kinn. Die Welt sprühte Funken und kippte zur Seite und Walküre lag auf dem Rücken. Plötzlich war es still um sie herum und sie blinzelte wie in Zeitlupe.
Nach und nach drangen die Geräusche aus der Arena wieder in ihr Bewusstsein.
Ohne sich zu bewegen, schaute sie hinüber zu Caelan und Victor, die sich über den Boden wälzten, fauchend und beißend und um sich schlagend. Stöhnend rollte sie sich auf die Seite und blickte auf.
Der Promoter hatte sich auf seinem Thron vorgebeugt und verfolgte den Kampf mit gespanntem, sensationslüsternem Vergnügen. Die Mauer um die Arena war vor seinem Platz etwas niedriger, was ihm einen besseren Blick verschaffte. So niedrig, dass ein Vampir darüberspringen konnte, war sie nun auch wieder nicht, doch wenn zufällig ein Zauberer in der Nähe und bereit wäre, ein bisschen Hilfestellung zu leisten …
Walküre stand auf, den linken Arm fest an den Körper gedrückt. Das Blut lief ihr über den Rücken, und ihr Bein sah ziemlich schlimm aus. Sie ignorierte den Schmerz und die fauchenden, schnappenden Vampire neben sich und humpelte zum Thron. Als sie im richtigen Abstand davorstand, drehte sie sich zu den Vampiren um, steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen kurzen, schrillen Pfiff aus.
Caelan und Victor ließen voneinander ab und schauten herüber. Die Zuschauer hörten auf zu brüllen und sahen genauer hin.
Die Vampire stürmten auf sie zu. Walküre wartete, bis sie nah genug herangekommen waren, dann ließ sie beide Arme nach oben schwingen. Die beiden hoben ab und segelten über ihren Kopf hinweg. Sie hörte noch den panischen Schrei des Promoters, dann brach die Hölle los.
Unter den Zuschauern verbreitete sich Panik. Leute kreischten und brüllten und trampelten übereinander. Oberhalb der Sitzreihen gingen zusätzliche Lichter an. Türen, die geschlossen bleiben sollten, wurden geöffnet, und Türen, die offen sein sollten, wurden geschlossen. Unter die Schreie des Entsetzens mischten sich die Schmerzensschreie der Leute, die in Stücke gerissen wurden. Walküre empfand kein bisschen Mitleid.
Sie entdeckte eine Tür in der Außenmauer der Arena, zertrümmerte mithilfe der Schatten das Schloss und lief rasch hindurch. Ihre Schmerzen waren inzwischen so stark, dass sie die Zähne zusammenbeißen musste. Männer mit Gewehren rannten vorbei, aber Walküre konnte sich verstecken. Dann hörte sie Schüsse. Jede Menge.
Vor ihr lag der Tunnel nach draußen, der Tunnel in die Freiheit. Zwei Männer bewachten ihn und diskutierten, was sie tun sollten. Auch sie waren bewaffnet.
Walküre schleuderte einen Feuerball zwischen ihnen auf den Boden. Sie schrien auf und sprangen zurück, und die Schatten warfen sie rechts und links gegen die Wand. Sie sackten zusammen. Ob die beiden tot waren oder nur bewusstlos – sie wusste es nicht und es war ihr auch gleichgültig. Sie rannte hinaus und zwischen den parkenden Autos hindurch. Ringsherum leuchteten Scheinwerfer auf. Panische Menschen stießen mit anderen panischen Menschen zusammen. Ein Hupkonzert ertönte. Jetzt wurde auch in der Nähe geschossen – außerhalb der Arena.
Jemand packte sie, zerrte sie nach unten und Walküre war auf den Knien, noch bevor sie überhaupt begriffen hatte, dass Caelan neben ihr hockte. Aus der Nähe betrachtet waren sein Fänge gezackte Dolche, die aus seinem Gaumen ragten. Er schaute sie nicht an. Er zitterte. Widerstand der Versuchung.
Geduckt liefen sie weiter. Ringsherum aufgeregte Stimmen und wütendes Geschrei. Vorwürfe und Befehle. Walküre hörte, wie Bruno die Suche organisierte, die Leute anwies, in ihre Wagen zu steigen und auszuschwärmen. Sie hielten sich im Dunkeln, während Leute rechts und links von ihnen durch die Reihen parkender Autos liefen. Brunos Stimme kam näher.
Walküre versteckte sich, als Bruno zu einem Jeep direkt vor ihnen eilte. Jemand rief ihm etwas zu und er antwortete. Dabei schaute er in ihre Richtung und runzelte die Stirn. Er machte einen einzigen Schritt auf sie zu, dann weiteten sich seine Augen. Er öffnete den Mund, um die anderen zu warnen.
Caelan hielt ihr Handgelenk nicht länger umschlossen und er war auch nicht mehr an ihrer Seite. Er war vielmehr ein dunkler Schatten, der Bruno ansprang, ihn umwarf und dann in die Lücke zwischen dem Jeep und einem anderen Wagen zerrte. Caelan war sofort an seinem Hals, und Walküre sah, wie Bruno in hellem Entsetzen die Arme ausbreitete und dann verzweifelt auf Caelans Schultern und Rücken einschlug. Doch der hatte seine Zähne in ihn geschlagen, und nichts und niemand konnte ihn jetzt noch dazu bringen, von seinem Opfer abzulassen.
Entsetzt und fasziniert zugleich beobachtete sie, wie der Vampir trank.
Scheinwerferlicht glitt über sie hinweg und sie rollte sich ein Stück zur Seite. Der Wagen setzte zurück und die Scheinwerfer schwenkten in eine andere Richtung. Irgendjemand würde sie noch sehen. Jeden Augenblick würde man sie entdecken.
Sie blickte zu Caelan hinüber. Brunos Arme lagen schlaff auf dem Boden. Seine Beine waren angezogen, so als hätte er bis zu dem Moment seines Todes versucht, sich aufzurichten. Caelan durchwühlte Brunos Taschen und fand, was er suchte. Das Serum. Ohne zu zögern, drückte er die Nadel in sein Fleisch. Einen Augenblick später straffte er die Schultern und bog den Rücken durch. Walküre beobachtete das Spiel seiner Muskeln unter der vom Mondlicht beschienenen Haut. Dann sah sie, wie er die Hände um Brunos Kopf legte und ihn auf eine Seite drehte. Sie hörte das Knacken von Knochen.
„Wir müssen los“, sagte sie leise.
Caelan zog Brunos Jacke an und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. Sie war froh, dass es zu dunkel war, um Einzelheiten zu erkennen. Er fand die Schlüssel für den Jeep in der Jackentasche. Sie stiegen ein, hielten die Köpfe gesenkt und warteten, bis der Van vor ihnen losfuhr. Sie folgten der Wagenschlange zur Straße, doch bei der ersten Gelegenheit scherten sie aus und brausten davon.
In der Ladestation am Armaturenbrett steckte ein Handy. Walküre rief Grässlich an und berichtete, was geschehen war. Ein Lastwagen mit Sensenträgern und ein Lastwagen mit Zauberern waren, noch bevor sie aufgelegt hatte, auf dem Weg zu ihnen. Walküre und Caelan warteten in einer Nebenstraße auf die beiden Trupps.
Als die Lastwagen kamen, fuhren sie zur Arena zurück. Ein Dutzend Tote. Ein weiteres Dutzend Verwundete. Der Promoter war in Stücke gerissen worden. In seiner Jackentasche fanden sie ein Wettbuch mit den Namen sämtlicher Personen, die etwas eingezahlt hatten. Zauberer besuchten jede einzelne. Einige ließen sich überzeugen, mit niemandem jemals über die Ereignisse zu reden, andere wurden an Orte gebracht, wo sterbliche Rechtsanwälte ihnen nicht helfen konnten.
Die Bestien, Vampire und diversen anderen Kämpfer in den Zellen wurden befreit. Von Victor fehlte jede Spur.
Caelan war wieder ein Mensch. Seine Narben verblassten bereits. Walküre versuchte mit ihm zu reden, erhielt aber so gut wie keine Antwort. Er war verändert, stellte sie fest. Seine neu entdeckte Freiheit machte ihn nervös. In dieser Zelle, mit dem Tod so dicht vor Augen, dass er jeden Moment eintreten konnte, hatte er nichts zu verlieren gehabt. Trotz der Ketten war er frei. Doch jetzt, da er die Ketten los und seine Welt größer geworden war, zog er sich aus eigenen Stücken von ihr zurück. Schon am nächsten Morgen konnte Walküre sich nicht mehr an sein Lächeln erinnern.
„Der Mordschädel“, sagte er und brach damit das Schweigen. „Du suchst ihn.“
„Ja. Ich weiß, dass du mir nichts schuldig bist – ich hab dich da rausgeholt, du hast mich verschont, also sind wir quitt –, aber wenn du mir irgendwie helfen könntest, wäre ich –“
„Wir sind nicht quitt“, widersprach er. „Ich bin dir immer noch etwas schuldig.“
„Wofür?“
Er antwortete nicht, sondern schaute hinüber zu den Sensenträgern und Zauberern. Dann wandte er sich ihr wieder zu. „Ich melde mich“, sagte er und ging davon.
Walküre sah ihm nach. Er war gefährlich, daran bestand kein Zweifel. Aber attraktiv. Das ließ sich nicht leugnen. Doch sie gehörte nicht zu den Mädchen, die auf Klischees hereinfielen. Sie würde sich nicht von gutem Aussehen, einer grüblerischen Haltung und einer verwundeten Seele rumkriegen lassen, nicht wenn das Risiko so offen auf der Hand lag.
Sie war ein junges Mädchen und traf zuweilen bescheuerte Entscheidungen – aber ein kompletter Idiot war sie nicht.