34

Nun, nach begangener Tat, brach ich völlig zusammen  – dennoch tat es mir nicht leid. Ich konnte ihm nicht den Tod geben, den er Trudie bereitet hatte, oder ihm die psychischen Qualen auferlegen, die Simon dazu bewogen hatten, seinem Leben ein Ende zu setzen, doch ich hatte mit ihm abgerechnet. Auge um Auge  –  ist es nicht das, was Gott befürwortet, irgendwo zwischen den Zeilen? Aber obwohl ich Danny gezwungen hatte, für seine Taten den vollen Preis zu bezahlen, wusste ich wohl schon damals, dass ich mich dadurch selbst zu einer grausam langen Ratenzahlung verurteilt hatte.

Wherever I am, I’m always walking with you.

Erschöpft lehnte ich mich im Sessel zurück. Zweimal ertappte ich mich dabei, wie ich einnickte. Der Schlaf lockte  –  führte mich in Versuchung, den Sessel gegen das Bett einzutauschen; aber nach wie vor stand der Gedanke im Vordergrund, Danny sei womöglich schon auf dem Weg. Ich fand einen Kompromiss, indem ich mich auf den Boden gleiten ließ, den Kopf auf den Sessel legte und meine Arme als Kissen benutzte. Sollte jemand versuchen, sich Einlass zu verschaffen, würde mein Gewicht den Vorgang genügend erschweren, um mir Gelegenheit zu geben, wieder auf dem Sessel Position zu beziehen.

Ich schlief unruhig, flüchtete vor den Momenten des Wachseins wie ein Gefangener, der nach langer Dunkelhaft vor dem Licht zurückschreckt. Als ich schließlich erwachte, schien die Sonne ins Zimmer. Gleichwohl spürte ich, dass ich nicht durch ihre Strahlen wach geworden war. Etwas war verändert. Irgendein fremder Laut hatte mich aufschrecken lassen. Ich hob den Kopf und lauschte.

Irgendwo im Inneren des Hauses erklang eine Stimme. »Hallo  –  ist jemand zu Hause?« Es war eine Männerstimme. Eine fremde Stimme  –  eine, die ich noch nie zuvor gehört hatte. »Hallo  –  Hallo-ho.«

Ich schleifte meinen Sessel von der Tür und flitzte auf den Treppenabsatz hinaus. Staubflusen schwebten im Sonnenlicht, als wäre das gesamte Treppenhaus von einer Million winziger geisterhafter Wesen bevölkert. Von oben konnte ich direkt auf den Kopf eines Mannes blicken. Die Kopfhaut schimmerte rosa durch das schüttere blassgoldene Haar hindurch. Es war ein kräftiger Mann, groß und ziemlich übergewichtig, gekleidet in ein zerknittertes Leinensakko, Hemd mit Krawatte und Cordhose. Älter als meine Eltern. Er hatte sich selbst durch die Haustür Einlass verschafft, die nun sperrangelweit offen stand.

Er musste mich aus den Augenwinkeln erspäht haben, da er in der Diele stehen blieb, nach oben blickte und sagte: »Oh, da ist ja jemand«  –  eine einleitende Floskel, die von einem Aufschrei unterbrochen wurde, als er sah, was ihn am Ende der Diele erwartete. »O mein Gott!« Er stürzte auf die Küche zu, geriet außer Sicht.

Wachsam begann ich die Treppen hinunterzusteigen, zögerte bei jedem Schritt. Ich hörte, wie er wieder und wieder ausrief: »O mein Gott! O mein Gott!«

Als ich unten ankam und mich zur Küche umdrehte, sah ich, was er gesehen hatte. Danny lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, direkt auf der Schwelle zur Küche. In Gedanken sah ich ihn dorthin kriechen, Zentimeter um Zentimeter, in den Augen ein rotes Funkeln.

Der Neuankömmling war nicht zu sehen. Er war offenbar weiter in die Küche hineingegangen, stand wahrscheinlich gerade fassungslos vor Simon, nahm mit einem Blick den Whisky wahr, die Aspirin. »O Gott!«, hörte ich ihn erneut sagen.

Er tauchte in der Tür auf. Sein Gesicht war rot angelaufen, und er schwitzte. »Katy  –  sind Sie Katy? Was, um Himmels willen, ist hier passiert?«

Ich starrte ihn an. Schließlich stammelte ich, dass ich das nicht wisse  –  ich hätte geschlafen.

Danny lag zu Füßen des Fremden. Ich bekam das Bild nicht aus dem Kopf, wie er sich über den Boden schleppte, vielleicht über einen Zeitraum von vielen Stunden. Ich rannte nach draußen und würgte heftig. Es brachte nicht viel. Ich hatte seit beinahe vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen.

»Katy!«, rief der Fremde mit aufgeregter Stimme von drinnen. »Kommen Sie schnell!«

Irgendetwas in seinem Ton ließ mich gehorchen. Von der Haustürstufe aus konnte ich sehen, dass er sich, auf einem Knie kauernd, über Danny beugte.

»Hierher!«, rief er. »Er lebt noch. Bleiben Sie bei ihm, während ich zur Telefonzelle fahre und einen Rettungswagen anfordere.«

»Nein!« Ich schrie das Wort beinahe heraus.

Ich wich auf die Türstufe zurück. Wahrscheinlich dachte er, ich hätte zu viel Angst, um in der Nähe einer Leiche auszuharren. Er zögerte nur einen winzigen Moment, ehe er nachgab. »Natürlich«, sagte er. »Sie müssen nicht allein hierbleiben. Fahren Sie einfach mit mir mit.«

Er führte mich um seinen Wagen herum und hielt mir die Beifahrertür auf. »Schnell, steigen Sie ein, Katy«, sagte er. Er musste selbst unter Schock stehen, nahm aber an, mein Schock sei noch größer. Er setzte sich auf den Fahrersitz und startete den Motor. »Für Simon ist es zu spät«, sagte er finster, »aber vielleicht können wir Danny noch retten. Das ist doch Danny, nicht wahr?«

»Ja«, flüsterte ich.

Während wir durch die Straßen jagten, hielt ich mich mit beiden Händen am Rand des Ledersitzes fest. Wir benötigten nur etwa zwei Minuten bis zur Telefonzelle, eine jener einsamen Zellen, die mitten im Nirgendwo an einer Kreuzung stehen  –  kaum benutzt, außer hin und wieder von einem Autofahrer, der eine Panne hatte. Während der Mann telefonierte, versuchte ich, die Situation einzuschätzen. Bisher war für Erklärungen noch keine Zeit gewesen, aber ich würde eine benötigen, und zwar eher früher als später. Die Lüge, die sich am leichtesten aufrechterhalten lässt, ist immer die simpelste. Ich würde sagen, ich sei am gestrigen Abend früh zu Bett gegangen, während Simon und Danny unten in der Küche blieben. Vor lauter Müdigkeit sei ich tatsächlich vollständig angekleidet auf dem Bett eingeschlafen  –  anders ließe sich mein ramponiertes Erscheinungsbild nicht erklären  –  und erst bei der Ankunft des Mannes aufgewacht.

In diesem Moment dämmerte mir, dass es sich bei dem Mann um Simons Onkel handeln musste. Wie sonst hätte er Hausschlüssel haben und unsere Namen kennen können? Folglich musste heute der Neunte sein  –  der Tag, an dem Simons Onkel Arthur, wie er uns in dem Brief angekündigt hatte, zurückkommen wollte. Ich zwang mich, wieder zu wichtigeren Dingen überzugehen. Danny war noch am Leben. Er würde alles erzählen  –  nun, wenigstens alles darüber, warum er halb tot auf dem Küchenboden gelegen hatte. Ich könnte versuchen, es abzustreiten, aber meine Fingerabdrücke waren überall. Und ich würde mir auch keinen Gefallen tun, wenn ich der Polizei im Nachhinein erzählte, was ich über Trudie Finch und Rachel Hewitt wusste. Danny würde vermutlich irgendeine schlaue Ausrede finden, irgendeine Geschichte, die darauf abzielte, dass Simon und ich die alleinige Verantwortung für alles trugen.

»Der Rettungswagen ist unterwegs«, verkündete Simons Onkel, als er sich wieder ans Steuer setzte.

Stumm saß ich neben ihm, gab während der gesamten Rückfahrt (die nur unwesentlich langsamer als die Hinfahrt verlief) keinen Mucks von mir. Er schien meinem Schweigen zu entnehmen, dass ich nicht ins Haus zurückkehren wollte.

»Möchten Sie gern hierbleiben?«, fragte er, als er vor der Haustür anhielt.

Ich nickte, und so ging er allein ins Haus. Reglos saß ich da und betrachtete das Armaturenbrett. Es war mit poliertem Holz verkleidet, mit einer Reihe kleiner schwarzer, mit Chrom eingefasster Knöpfe. Ich prägte es mir ein wie ein Diagramm, das ich für einen Mathetest benötigte. Das schien im Moment wichtiger zu sein, als mir darüber Gedanken zu machen, was meine Eltern sagen würden, wenn man mich wegen Mordes verhaftete.

Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis der Rettungswagen mit heulender Sirene eintraf und bei der Einfahrt durch das Tor an den Lilien und Rhododendren vorbeischrammte. Die Rettungsmannschaft blickte kurz in meine Richtung, doch Simons Onkel winkte die Leute von der Haustür aus zu sich, und so ließen sie mich allein. Nach einer Weile trugen sie die erste Bahre heraus. Ich wandte den Blick bewusst ab. Ich hörte, wie die Türen des Rettungswagens geschlossen wurden und das Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit davonraste.

Simons Onkel kam heraus und stellte sich neben den Wagen. »Sie schicken noch einen Wagen für Simon«, sagte er. »Und auch einen für Sie. Ich habe ihnen erzählt, dass Sie unter Schock stehen.«

Nach einem kurzen Schweigen fragte ich kläglich: »Lebt Danny noch?«

»Ja. Keine Bange. Sie werden alles Menschenmögliche für ihn tun.«

Der Polizeiwagen kam als Nächstes  –  brauste mit noch höherer Geschwindigkeit als der Rettungswagen an und blieb in einer Staubwolke stehen. Zuerst redeten sie mit Simons Onkel, danach mit mir. Ich nannte ihnen meinen Namen und meine Adresse und sagte, ich wisse nicht, was passiert sei. In der Nähe nahm ich eine Art Besprechung wahr, aber ich schaute mich nicht um. Das Armaturenbrett beanspruchte einen Großteil meiner Aufmerksamkeit. Die kleinen Symbole gaben mir Rätsel auf  – ich würde im Test nie die volle Punktzahl erzielen. Ich schnappte die Worte Suizid, geschlafen und Schock auf. Wie es dann weiterging, weiß ich nicht mehr genau. Ich glaube, als Nächstes kam ein zweiter Polizeiwagen, aber vielleicht war es auch ein Rettungswagen. Ich wusste, es war nur die Ruhe vor dem Sturm. Sie mochten jetzt glauben, es sei Selbstmord gewesen, aber sobald sie Fingerabdrücke genommen hätten … sobald Danny aufwachen würde …

»Sie waren sehr eng befreundet  –  seit der Schulzeit …« Die Worte schwebten wie aus einem Traum zu mir herüber. »Ja, ja  –  mit meiner ausdrücklichen Erlaubnis  –  sie haben einen Gartenteich angelegt …«

Die Aufmerksamkeit wandte sich nun mir zu. »Ich gehe nicht ins Krankenhaus«, protestierte ich. »Ich muss einen Zug nach Frankreich erwischen.«

Gleichwohl fand ich mich kurze Zeit später im Krankenhaus wieder. Ich schlief sehr lange. Dann wurde ich wach und wünschte, ich wäre es nicht. Meine Mutter und mein Vater standen an meinem Bett. Mein Vater sagte: »Du hast einiges zu erklären, junge Dame.«

Ich wollte schon sagen, dass ich mir das für den Richter aufheben wolle, als meine Mutter sich einmischte und fragte, wie ich mich fühle. Ich beschloss, es sei das Beste, die Augen zu schließen und mich schlafend zu stellen.

Der Arzt meinte, ich könne am nächsten Tag entlassen werden. Die Stationsschwester rief meine Eltern an, um ihnen die frohe Botschaft zu überbringen, und es wurde ausgemacht, dass meine Eltern von Birmingham anreisen würden, um mich abzuholen. Danach legte sich eine Art von Frieden über die Station, da die Ärzte ihre Visite beendet hatten und die Besucher noch nicht eingetroffen waren. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und schnappte mir eine der Schwestern  –  eine nette in einer dunkelblauen Tracht, deren Stimme einen unverkennbar walisischen Tonfall hatte.

»Der Junge, der am selben Tag wie ich eingeliefert wurde  –  Danny Ivanisovic –, lebt er noch?«

Traurig sah sie mich an. »Er liegt im Koma, Katy.«

»Glauben Sie, er würde mich erkennen?«

»Nein, Liebes. Er erkennt niemanden. Soll ich Sie zu ihm bringen?«

»Ja, bitte«, erwiderte ich. Es war nicht Sentimentalität, die mich antrieb, sondern vielmehr das Bedürfnis, mich auf eine Erkundungsmission zu begeben.

Die nette Schwester bestand darauf, dass ich die Reise im Rollstuhl antrat. Sie schob mich den Flur hinunter, durch einige Schwingtüren hindurch und schließlich in ein Seitenzimmer. Danny lag mit geschlossenen Augen in einem Krankenhausbett. Ein neben dem Bett angebrachter Monitor zeichnete mit einer kontinuierlichen Reihe hörbarer Pieptöne sein Festhalten am Leben auf. Er sah verblüffend sauber und ordentlich aus. Irgendjemand hatte ihn gewaschen und seine dunklen Locken gekämmt.

»Seine Eltern sind die ganze Zeit bei ihm«, sagte die walisische Schwester. »Sie werden kurz rausgegangen sein, um etwas frische Luft zu schnappen.«

Ich war zutiefst dankbar dafür. Ich wollte Dannys Eltern auf keinen Fall begegnen.

»Ich verstehe das nicht«, sagte ich langsam. »Wie kann es sein, dass Simon tot ist, aber Danny noch lebt?«

»Das ist gar nicht so ungewöhnlich«, sagte sie. »Überdosierungen sind eine sehr unzuverlässige Methode, um sich umzubringen.«

»Ich dachte, man schläft einfach ein  –  und stirbt irgendwie.«

»Genau das ist das Problem«, erwiderte sie. »Etliche dieser Leute sterben nur irgendwie. Sie enden wie hier im Koma.«

»Werden sie wieder gesund?«

»Manche ja«, sagte sie.

»Und wie ist es bei Danny?«

»Das kann ich Ihnen nicht beantworten, Kindchen. Kommen Sie jetzt, ich bringe Sie besser auf die Station zurück.«

Meine Eltern holten mich noch am selben Tag ab. Der Arzt hatte mir Beruhigungsmittel verschrieben, und ich war dankbar für die Zuflucht, die sie boten. Sie ermöglichten mir, all die Fragen zu ignorieren, die vorwurfsvollen Blicke. Mit offenem Tadel hielten sich meine Eltern zurück, weil ich offiziell noch »krank« war. Aber ich hatte keinen Zweifel an ihren wahren Gefühlen. Ich war eben »ihre« Katy  –  diejenige, die schon immer aus der Reihe getanzt war.

Danny lag noch weitere zwölf Tage im Koma. Er starb, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Dennoch lebte ich weiterhin in Angst vor einem Klopfen an der Tür, einer uniformierten Gestalt im Hausflur. Bei unerwarteten und unklaren Todesfällen würde die Polizei doch sicherlich Ermittlungen aufnehmen?

Das geschah jedoch nicht  –  die gerichtliche Untersuchung zur Feststellung der Todesursache erkannte in beiden Fällen auf Selbstmord. Danny und Simon waren zusammen in einem Zimmer aufgefunden worden, mit klaren Hinweisen auf Medikamenten- und Alkoholkonsum und ohne ein Anzeichen von äußerer Gewalteinwirkung. Sie hatten, wie es bei Gericht beschrieben wurde, eine »abnorm enge Freundschaft« gehabt, und Simon sei bekanntermaßen homosexuell gewesen. Es wurde sogar angedeutet, Danny habe seine eigene Veranlagung zu bekämpfen versucht, indem er sich auf »normale« Beziehungen mit dem anderen Geschlecht einließ. Man vermutete einen Selbstmordpakt. Unfassbar, wie leichtgläubig Menschen sein können. Biete ihnen eine simple Lösung an, und sie stürzen sich darauf wie ein Trunkenbold auf eine Bar.

Ich schluckte wochenlang Beruhigungsmittel. Meine Mutter beklagte sich bei ihren Freundinnen darüber, dass ich jedes Mal, wenn ich mich zu erholen schien, durch irgendetwas wieder zurückgeworfen wurde. »Wir behandeln sie wie ein rohes Ei«, brummte sie. Das war richtig. So sorgfältig sie auch darauf achteten, mich abzuschirmen, ständig schien irgendetwas dazwischenzukommen. An einem Oktobertag wollte ich einen Spaziergang machen, und da es kalt war, zog ich meinen Anorak über. Ich hatte ihn nicht mehr getragen, seit er mir von Simons Onkel zusammen mit meinen anderen Sachen gebracht worden war. Meine Mutter nahm an, dieser Faktor allein habe genügt, um mich aus der Fassung zu bringen: der bloße Anblick des Kleidungsstücks habe die schrecklichen Erinnerungen wieder in mir aufsteigen lassen. Sie hatte keine Ahnung, dass mich nicht der Anorak in einen schwarzen Abgrund taumeln ließ, sondern der kühle schmale Gegenstand, den meine Finger in der Innentasche ertasteten.

»Deshalb beschloss ich, es sei das Beste, den Anorak für den Pfadfinder-Flohmarkt zu spenden«, erklärte meine Mutter später. »Aber als Katy das herausfand, hat sie, ob ihr es nun glaubt oder nicht, wieder einen hysterischen Anfall gekriegt. Ständig löcherte sie mich, ob ich auch die Taschen überprüft hätte, doch wenn ich sie fragte, was denn darin gewesen sei, sagte sie jedes Mal: Nichts. Man gibt sich solche Mühe, alles richtig zu machen, und dann ist es doch wieder falsch.«

Meine Mutter kaufte mir einen neuen Mantel als Ersatz für den Anorak, den sie für den Flohmarkt gespendet hatte. Sollte der neue Besitzer des Anoraks jemals versucht haben, die Spende zurückzuverfolgen, so ist das nicht bis zu uns durchgedrungen. Ich nehme mal an, der Käufer hielt hübsch den Mund über den Geldsegen und den schönen Füller.

An Weihnachten stürzte der Himmel dann wirklich ein. In der irrigen Annahme, es sei ein guter Zeitpunkt, wählte ich den Weihnachtsabend, um meinen Eltern zu eröffnen, dass ich schwanger sei. Ihre Reaktionen als hysterisch zu bezeichnen wäre komplett untertrieben. Die Toleranz der Sechzigerjahre hatte um unserer Familie einen weiten Bogen gemacht, und die Aussicht auf ein uneheliches Enkelkind versetzte meine Mutter in eine Raserei von operettenhaften Ausmaßen. Bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag war ihr Zorn einer eisigen Entschlossenheit gewichen. Von Zeit zu Zeit gab es noch Tränen und Anklagen, aber der Mund meiner Mutter hatte sich zu der harten, schmalen Linie verfestigt, die im Alter für sie typisch sein sollte, und eine Entscheidung wurde getroffen: Ich sollte wie in früheren Zeiten weggeschickt werden. Offiziell auf Erholungsurlaub bei Verwandten, sollte ich mein Kind in der heimlichen Schande eines Heims für unverheiratete Mütter zur Welt bringen. Das Ganze wurde derart gründlich vertuscht, dass ich mir bis jetzt unsicher bin, wer von unseren engsten Verwandten davon Wind bekommen hatte. Nach meiner Rückkehr nach Hause wurde weder über die Schwangerschaft noch über das Baby jemals wieder gesprochen  –  vermutlich weniger, um meine Gefühle zu schonen, als um meine Geschwister vor moralischer Verseuchung zu bewahren  –  vor allem meine jüngere Schwester. Es war das heikle Thema, das permanent im Raum stand, aber gewohnheitsmäßig umgangen wurde.

Meine Eltern bezahlten meine sechsmonatige Unterbringung in einem großen alten Haus in Shropshire, wo es beinahe eine Art Erleichterung war, meine Schwangerschaft in anonymer Umgebung durchzustehen. Ich teilte mir das Zimmer mit der kettenrauchenden Sharon und der dicken Deirdre, beide Frauen wie Klischeefiguren aus einem Fernsehdrama.

Heutzutage besteht die Adoptionsgeschichte früherer Zeiten aus einer heulenden Teenagermutter, der ihr Baby von einer strenggesichtigen Nonne entrissen wird, doch in meiner Geschichte kamen keine Nonnen vor. Keine Nonnen, keine Priester, keine Gebete, keine Engel. Nur Dämonen, die nachts kamen, um mir etwas ins Ohr zu flüstern; boshafte Andeutungen über das Kind, das ich in mir trug.

Er war ein sehr ruhiges Baby. Er lag in meinen Armen und versuchte, den Blick auf mein Gesicht zu fokussieren, beinahe so, als verstünde er, dass er es sich einprägen musste, solange er dazu noch Gelegenheit hatte. Ich wusste, unsere Beziehung wäre niemals lebbar gewesen  –  welch schrecklichen Einfluss würde es auf jemanden haben zu entdecken, dass er der Sohn eines Mörderpaares ist?

Hilly gehört zu den wenigen Menschen, denen ich je etwas über das Baby erzählt habe. Sie reagierte mit einem typischen Hilly-Spruch. »Du hast ihm das Leben geschenkt«, sagte sie. »Und seine Adoptiveltern werden ihm Liebe geben, und er wird ihnen Glück bereiten, was sie sonst vielleicht nie erlebt hätten  –  es ist ein doppeltes Geschenk, wirklich.«

Ich wünschte, ich könnte ihre Zuversicht teilen. Ich dachte oft an ihn, fragte mich, wie es ihm wohl gehen mochte. Ich wünschte, er könnte verstehen, dass Ablehnung manchmal eine Gefälligkeit ist, keine Grausamkeit. Ich wünschte, er könnte verstehen, dass es zu seinem Besten geschah.

Dann sah ich ihn eines Tages auf dem Schulhof. Nicht zum ersten Mal hatte ich das verstörende Gefühl, ich könnte gerade, ohne es zu wissen, mein eigenes Kind betrachten  –  aber diesmal war es mehr. Dieser kleine Junge, acht Jahre alt und neu in die Gegend gezogen, hatte die Mayfield-Nase und das Mayfield-Kinn. Er ähnelte meinem Bruder Edward in dem Alter  –  und sah zum Glück kein bisschen aus wie Danny. Er war nicht meiner Klasse zugewiesen worden, aber das Namensverzeichnis war mühelos erhältlich, und darin stand sein Geburtsdatum: 1. Mai 1973. Seine Schulakte beseitigte jeden noch verbliebenen Zweifel  –  es stand eine Notiz von den Eltern darin, die bestätigte, dass er gleich nach seiner Geburt adoptiert worden war.

Von allen Schulen der Welt ist er ausgerechnet in meine gekommen.

Als er auf die weiterführende Schule überwechselte, begann ich damit, das Haus zu beobachten. Es fing mit einem einzelnen neugierigen Besuch an, der sich nach und nach zu einer Gewohnheit entwickelte. Das Wissen um seine Lebensumstände linderte meine Besorgnis darüber, in welcher Familie er aufwachsen mochte; doch die unerwartete räumliche Nähe vergrößerte gleichzeitig meine Angst um ihn. Er schien ein glückliches, gesundes Kind zu sein. Er war intelligent, beliebt, gut eingegliedert. Doch das Gesetz, das einst meine Anonymität garantiert hatte, wurde geändert, noch während er ein Kind war. Ich wusste, mit Beginn seines achtzehnten Lebensjahres hätte er das Recht, seine Akte einzusehen  –  und seine Geburtsurkunde anzufordern. Mayfield ist kein verbreiteter Name. Er würde sich bestimmt daran erinnern, dass in seiner Grundschule eine Miss Mayfield unterrichtet hatte. Als Vorsichtsmaßnahme ließ ich meine Nummer aus dem Telefonbuch streichen, doch ich wusste, wenn er es wirklich wollte, könnte er mich relativ rasch ausfindig machen.

Ich fürchte nicht die Folgen, die diese Entdeckung für mich haben könnte  –  das Eingeständnis, man habe einst ein uneheliches Kind geboren, ist heutzutage kein Skandal mehr. Wenn überhaupt, so gilt das jetzt eher als etwas Heroisches. Unserem Zeitgeist entsprechend, hat sich die unverheiratete Mutter vergangener Zeiten in die Ränge der Opfer eingereiht. Nein, meine größte Angst war, es würde ihm, sobald er nachzuforschen begänne, nicht genügen, nur den Namen seiner Mutter zu erfahren. Auf seiner Geburtsurkunde war die Stelle für den Namen des Vaters leer geblieben, doch wenn er mich ausfindig machen würde, könnte ich kaum vorgeben, den Namen seines Vaters nicht zu kennen  –  und selbst wenn ich mich weigerte, ihn preiszugeben, würde er womöglich bei anderen Leuten nachfragen. Mein Bruder, meine Schwester; irgendein wohlmeinender Trottel mit einem drei Dekaden umfassenden Gedächtnis könnte ihn geradewegs zu Mrs Ivanisovic schicken  –  und heraus käme die Geschichte über Dannys Tod. Und er würde immer mehr Fragen stellen, eine Vorstellung, bei der sich in meinem Kopf alles zu drehen begann wie ein Karussell, das immer schneller und schneller kreist, bis man an seinen eigenen Schreien erstickt.

So viele Fragen, die ich niemals beantworten könnte. Was wollte ein Kind wissen? Ob ich je in seinen Vater verliebt war? So einfach wäre es jetzt, dies zu verneinen  –  die besten Zeiten zu verneinen im Wissen um die schlimmsten. Vielleicht können manche Fragen einfach nicht beantwortet werden. Vielleicht kommt es darauf an, wann man sie stellt. Alles verändert sich. Selbst Cat Stevens ist nicht länger Cat Stevens. Solche Gedanken sind es, die mir durch den Kopf gehen, wenn ich vor dem Haus seiner Eltern in der Menlove Avenue sitze. Wie leicht könnte selbst jetzt noch jemand ein Streichholz entzünden und damit in Richtung der Wahrheit leuchten. Wenn ich eines für ihn tun kann, so ist es, meine Last allein zu tragen. Soll er doch glauben, die Teenagermutter sei von Nonnen eingeschüchtert worden oder die Eltern seien bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen  –  einfach irgendeine nette kleine Geschichte. Er soll zufrieden sein, keine quälenden Fragen auf dem Herzen haben, während ich die Geheimnisse für uns beide bewahre.

Mit dem Verstreichen der Jahre fühle ich mich sicherer. Hätte er gewollt, hätte er mich mittlerweile längst gefunden. Und es zieht mich nach wie vor zu dem Haus, obwohl ich weiß, dass er dort gar nicht mehr wohnt. Seine Eltern sind noch da, und vielleicht gibt es irgendwo tief in den unbekannten Bereichen meines Inneren die Hoffnung, ich könnte einen Blick auf ihn erhaschen. Die schwache Möglichkeit, einer meiner Besuche könne mit einem seiner Besuche zusammentreffen. An einem Abend im letzten Jahr hatte ein fremder Wagen in der Einfahrt geparkt. Ich wartete über eine Stunde, aber als der Besitzer dann auftauchte, war es ein Fremder  –  zu alt, um ihr Sohn zu sein  –  ihr Sohn und meiner.