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Am Vorabend meiner zweiten Reise nach Sedgefield trifft das Ende meines Abendkurses in Italienischer Konversation mit einem Wolkenbruch zusammen. Mein Wagen steht am hintersten Ende des Parkplatzes, und natürlich habe ich meinen Regenschirm im Seitenfach der Tür gelassen und werde bis auf die Haut nass. Zur Krönung dieses wunderbaren Abends klingelt das Telefon, sobald ich zur Haustür hereinkomme.
Es ist meine Schwester. Sie eröffnet das Gespräch, indem sie sich nach meinem Befinden erkundigt, was lediglich als Stichwort für meine Zeile dient, die da lautet: »Gut. Und wie geht es dir?«
Signal für die Hauptdarstellerin, sich in einem langen Monolog über die diversen Probleme zu ergehen, die ihr Leben gegenwärtig belasten. Der geschiedene Immobilienmakler, auf den sie so große Hoffnungen gesetzt hatte, stellt sich als Trottel heraus. Ihre ältere Tochter, Martine, lebt mit irgendeinem »absolut unpassenden« Mann in »irgendeinem grässlich verwahrlosten Teil von Bristol« zusammen – wohingegen ihre jüngere Tochter, Belinda (Binny für ihre Mutter), womöglich eine Essstörung hat. Ihre beiden Exehemänner sind »total nervig« – der eine hat gerade eine sehr viel jüngere Frau geheiratet –, offenbar ein Akt der Provokation. Bilde ich mir das ein oder sagt meine Schwester tatsächlich »er hat das nur getan, um mich zu ärgern«?
Schließlich ringt sie sich zu der Frage durch: »Und wie sieht es bei dir so aus? Hast du mal wieder etwas von Eddie gehört?« In dem dramatischen Film, der das Leben meiner Schwester kennzeichnet, sind meine privaten Aktivitäten völlig nebensächlich und dienen höchstens als Überleitung zu den Neuigkeiten, die es im Leben unseres gemeinsamen Bruders gibt – also der Verknüpfung dieser beiden nicht in Zusammenhang stehenden Fragen.
»Vor ein paar Monaten habe ich mit ihm und seiner Familie einen Ausflug gemacht. Es geht ihnen gut.«
Sie nimmt das als Anlass, um sich nur schlecht verhüllt als vernachlässigtes Opfer darzustellen, indem sie anführt, weder er noch ich machten uns die Mühe, auch einmal einen Tag mit ihr zu verbringen. Das ist teilweise richtig, in meinem Fall jedoch nicht ganz, denn als ich mir einmal die Mühe machte, einen Tag mit ihr einzuplanen, wurde ich knallhart abserviert, weil irgendein Typ mit einem Aston Martin sie zum Mittagessen eingeladen hatte.
Während ich im Notizblock herumkritzele und nur mit halbem Ohr zuhöre, entsteht in meinem Kopf ein Bild von Mrs Ivanisovic: nicht die gebrechliche Bewohnerin von Broadoaks, die wie ein Blätterhaufen im Herbstwind umgepustet werden könnte, sondern eine jüngere, kräftigere Version, deren Körper vor Konzentration und Entschlossenheit angespannt ist, als sie am Bett ihres Sohnes sitzt und immer gefährlichere Fragen stellt, auf die er mit einem Drücken ihrer Hand antwortet. Das Bild zerreißt unvermittelt, als meine Schwester verkündet, sie könne für zwei Wochen die Villa eines Freundes in Portugal haben, und fragt, ob ich sie nicht begleiten wolle. Es gebe einen Pool, ein nettes Restaurant in der Nähe, einen bequem zu Fuß erreichbaren Markt, falls wir uns selbst etwas kochen wollten – und vor allem habe sie genügend Meilen gesammelt, um die Flugkosten praktisch auf null zu senken. »Was hältst du davon?«, fragt sie so herzlich, dass jeder, der uns zuhören würde, der Ansicht wäre, zwei gemeinsame Urlaubswochen seien etwas, wonach wir uns schon seit vielen Jahren verzehrten.
»Wann wäre das denn?«, frage ich. »Ich muss in meinem Terminkalender nachsehen.«
Ich merke, dass sie beleidigt ist. Der Termin ist bereits in wenigen Wochen, aber jemand wie ich sollte verfügbar sein und ein solches Angebot widerspruchslos annehmen. Um den Anschein zu wahren, blättere ich laut raschelnd durch meinen Terminkalender und schlage einen bedauernden Ton an. »Tut mir leid, Amy, ich kann nicht. Ich habe praktisch jeden Tag etwas vor. Zweimal Theater, außerdem bin ich für die Clubmeisterschaften in Badminton eingetragen …«
»Könntest du sausen lassen«, unterbricht sie mich.
»… und ich kann meine Partner nicht hängen lassen«, fahre ich glattzüngig fort, als hätte sie nichts gesagt. »Ich würde zwei Wochen Abendschule verpassen – was ich in diesem Stadium vermutlich nie mehr aufholen könnte; und mein Literaturkreis fällt ebenfalls in diese Zeit.«
»Davon ist nichts wirklich lebenswichtig, oder?«
»Nun – nein. Aber ich würde eine Menge Leute enttäuschen – und ich mag es nicht, wenn ich mein Wort nicht halte und Menschen im Stich lasse.« (Nicht einmal für eine Spritztour in einem Aston Martin.)
Ich erzähle ihr nicht, dass ich tatsächlich viel lieber in den Literaturkreis gehe, wo Wein und Gespräche fließen werden, wo sich Hilly ganz ernst geben und unsere irische Freundin Brenda uns zum Lachen bringen wird, und deshalb versuche ich eine besänftigende Strategie. »Fahr doch allein«, schlage ich vor. »Sieh es als Gelegenheit, dich mal richtig zu verwöhnen. Dir etwas Muße zu gönnen, dich zu entspannen.«
»Du hast leicht reden, Kate«, fährt sie mich an. »Du bist an das Alleinsein gewöhnt.« Ihre Vorstellung einer einsamen alten Jungfer dringt ebenso klar und deutlich durch die Telefonleitung wie ihre begleitenden Worte. Sie hat wirklich keine Ahnung.
»Tja, ich bin mir sicher, du wirst jemand anderen finden. Es gibt bestimmt eine Menge Leute, die liebend gern mit dir verreisen würden.« In der Tat habe ich den begründeten Verdacht, dass sie bereits alle anderen, die sie kennt, gefragt hat – sonst würde sie nämlich nicht mich fragen. »Wirklich schade, dass ich keine Zeit habe. Vielleicht das nächste Mal.«
Kurz darauf beendet sie das Gespräch, und ich verabschiede mich mit einem munteren: »Viel Spaß in Portugal.«
Sobald ich aufgelegt habe, scheint sich die Stille in der Wohnung zu verdichten. Ich streife durch die Räume, krame herum und gehe dann früh zu Bett, nur um mich unruhig von einer Seite auf die andere zu wälzen, während meine inneren Dämonen mit mir Fangen spielen. Gegen fünf Uhr morgens schlafe ich endlich ein, was unvermeidlich zur Folge hat, dass ich viel zu spät aufwache. Als eine Art Bestrafung zwinge ich mich dazu, die ganze Strecke bis nach Ferrybridge ohne Pause durchzufahren.
Die Tankstelle in Ferrybridge ist ziemlich überlaufen. Es sind keine Schulferien, aber dennoch sind verblüffend viele Kinder zu sehen – wahrscheinlich vorzeitig aus der Schule genommen von Eltern, die glauben, ein Tag in einem Themenpark sei ebenso lehrreich wie das, was der staatliche Lehrplan zu bieten hat. Ich bemühe mich, einen Tisch zu finden, der möglichst weit von diesen kreischenden Kindern und ihren zänkischen Eltern entfernt ist. Pam und Marjorie bedauern mich, weil ich keine Kinder habe – aber ich habe die Mutterschaft nie als meine Bestimmung gesehen: Ich bin von Natur aus nicht der mütterliche Typ.
Offen gestanden glaube ich nicht, dass ich Lehrerin geworden bin, weil ich Kinder besonders mochte und gern mit ihnen arbeiten wollte. Als meine Schulzeit sich dem Ende zuneigte und mein Mangel an klaren Zielvorstellungen immer augenfälliger wurde, beschränkten sich die Möglichkeiten auf Universität oder Hochschule. Meine Eltern waren der Ansicht, die Universität biete für einen verantwortungslosen Taugenichts wie mich zu viele Freiheiten. Die Hochschule hingegen hatte den Vorteil, dass sie nah genug für mich war, um noch einige Jahre zu Hause wohnen zu bleiben, wo man ein Auge auf mich haben konnte. Die höhere Handelsschule war ein wenig unter unserer Würde – meine Mutter hatte nicht in Schuluniformen und Käse und Wein bei den Eltern-Lehrer-Organisationen investiert, damit ihre Tochter als Stenotypistin endete –, also fiel die Wahl auf die Pädagogische Hochschule. Für mich war das in Ordnung – ich habe mir damals keine großen Gedanken um meine Zukunft gemacht, und auf der Lehrerseite des Pults zu stehen kam mir wesentlich attraktiver vor als auf der Schülerseite.
Es gab natürlich einen Einschnitt – unmittelbar nach Dannys Tod wurde ich zu meinen Eltern zurückgeschickt, zu traumatisiert, um mein Studium fortsetzen zu können: eine Situation, die sie mit einer Art grimmiger Resignation hinnahmen. Ich war immer das schwierige mittlere Kind gewesen, wurde stets negativ mit meinen Geschwistern verglichen – das Kind, das sich nie richtig einfügte und immer ein wenig lästig war. Es war so typisch Katy, ihre akademische Laufbahn (oder wie immer man das nennen wollte) zu vermasseln, indem sie sich mit einem labilen Jungen einließ, der Selbstmord beging. Natürlich haben sie das nicht offen gesagt – aber ich wusste, was sie dachten. Mein Bruder und meine Schwester hätten ihnen nie solche Probleme bereitet. Sie verkehrten mit normalen, vernünftigen Leuten, die nicht für Schlagzeilen sorgten und keinerlei Gedanken an Selbstmord verschwendeten. Aber Katy musste sich natürlich einen Psycho schnappen.
Schlussendlich kehrte ich auf die Pädagogische Hochschule zurück und beendete dort die Lehrerausbildung. Unterrichten ist ein gefräßiger Beruf. Er kann, wenn du es zulässt, dein Leben verschlingen, große Brocken deiner Zeit abbeißen, deine ganze Hingabe fordern. Zum Glück brauchte ich diese totale Vereinnahmung. Als ich mich für den vorzeitigen Ruhestand entschied, waren alle überrascht. »Aber Sie unterrichten doch leidenschaftlich gern«, sagte jemand. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das tatsächlich so war. Indem ich mich voll und ganz auf den Beruf konzentrierte, gelang es mir, viele andere Dinge, über die ich nicht nachdenken wollte, auszublenden. Vielleicht war das Unterrichten auch wie eine Art Mission, die reuige Sünder sich auferlegen, wenn sie beispielsweise in einer Leprakolonie arbeiten. Jedes Kind in jeder Klasse wurde für mich eine spezielle Art von Mission – aber nach Schulschluss gingen sie nach Hause, und am Ende des Schuljahrs rückten sie eine Klasse vor. Ich war nur ein Teil ihres Lebens, niemals das ganze. Ich glaube, das ist der Unterschied zwischen mir und Mrs Ivanisovic, deren uneingeschränkte Energie nur auf ein einziges Kind konzentriert war.
Sie hatten in der Tat eine sehr enge Bindung – Danny und seine Mutter. Das macht es leichter, an die angebliche Sterbelagerkommunikation zwischen den beiden zu glauben. Sie hat Danny vergöttert. Vielleicht hat der Verlust dieses anderen Kindes ihre Verbindung so eng zusammengeschweißt. Kein Wunder, dass sie nach Dannys Tod am Boden zerstört war. Und jetzt hat auch noch Stan sie verlassen – Betty Ivanisovic ist die einsame Überlebende; hält sich an hauchdünnen Fäden am Leben fest. Ein Schnippen der kosmischen Schere, und es ist vorbei.
Ich trinke meinen Latte (warum kriegt man nirgendwo mehr eine ganz normale Tasse Kaffee?) und sinne über den Inhalt ihres ersten Briefes nach – ihrer Forderung nach der Wahrheit. Ich muss die Wahrheit erfahren, sagt sie. Warum muss sie das? Warum glauben die Menschen immer, es sei besser, wenn sie die Wahrheit wüssten? Ist es manchmal nicht besser, sie nicht zu kennen? Trudies Mutter kennt die Wahrheit nicht. Sie wurde ihr erspart, und ist es nicht besser so? Sie kann sich noch an die Hoffnung klammern, Trudie sei am Leben. Sie kann sich ihre Erinnerung an eine lachende, dunkelhaarige Nymphe bewahren – unberührt von der Wahrheit eines verwesenden, vergessenen Leichnams, der weit von zu Hause entfernt unter der Erde liegt, ohne eine würdige Grabstätte.