27
Jedes Bild erzählt eine Geschichte. Genau in dem Moment, als Schwester Fettsteiß hereinmarschiert kommt, sitze ich an Mrs Ivanisovics Bett und inspiziere ihre Wertsachen, während die arme alte Frau schläft. Im Gesicht der Schwester spiegelt sich eine klare Reaktion. Wir starren einander an – sie fragt sich, wie man mit einem Besucher umgehen soll, der offenbar ans Totenbett gekommen ist, um ein paar Sachen mitgehen zu lassen. Ich wiederum suche nach Worten, um die Situation zu erklären.
Ich öffne das Schmucketui und halte es ihr zur Ansicht hin – damit sie sehen kann, dass sich keine Diamantkette darin befindet. »Sie hat mir signalisiert, das Etui herauszunehmen«, sage ich. »Ich glaube, sie wollte mir das Kreuz zeigen. Es hat ihrem Sohn gehört.«
»Ich wusste gar nicht, dass sie einen Sohn hatte.« In ihrer Stimme liegt hörbarer Zweifel.
»Er ist schon lange tot.«
Sie wirft einen Blick zu den gerahmten Fotos hinüber, und ihr geht ein Licht auf. »Danny«, murmelt sie. »Natürlich – sie hatte einen Sohn, jetzt, da Sie es erwähnen. Der auf den Fotos, ja?«
»Ja.«
Sie reicht mir das Etui zurück, und ich lasse es zuschnappen.
»Was ist mit ihm passiert? Ein Motorradunfall?«
»Selbstmord.« Meine Stimme ist zu einem Flüstern gesunken. Nicht absichtlich.
Ich sehe, ihr Interesse ist geweckt – ihr ursprünglicher Verdacht der Möglichkeit untergeordnet, etwas Klatsch über die Familie einer Patientin zu erfahren. Selbstmord wird weit mehr als ein bloßer Motorradunfall mit Tragödie und Drama assoziiert. Sie beugt sich über mich, um den Sitz von Mrs Ivanisovics Sauerstoffmaske zu überprüfen, ein Manöver, bei dem ihr ausladender Hintern in den Raum eindringt, den ich als mein Territorium beansprucht habe. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück, eingehüllt in einen Duft aus antiseptischer Handwaschlotion und frühlingsfrischem Weichspüler.
»Wie lange ist das alles her?« Ihr Akzent geht in Richtung des Singsangs, den ich mit Newcastle verbinde. Er erinnert mich an Josser.
»1972.«
»Oh – eine lange Zeit. Es muss der armen Frau das Herz gebrochen haben.« Sie nickt mir zu, versucht eine Atmosphäre von gegenseitigem Verständnis zu suggerieren, die zum Austausch von Vertraulichkeiten ermuntert – hat es nicht eilig, zur alltäglichen Routine der Patientenversorgung überzugehen, solange etwas derart Interessantes im Themenmenü zu finden ist. »Warum hat er sich das Leben genommen?«
Ich werfe einen Blick zu Mrs Ivanisovic. Sie scheint zu schlafen, aber wie kann man das sicher sagen? »Das weiß man nicht«, antworte ich. »Bei der gerichtlichen Untersuchung wurde angedeutet, es könne etwas mit seinem Schwulsein zu tun gehabt haben.«
»Oh.« Sie stockt. »Wusste sie, dass er schwul war?«
»Er war es ja gar nicht«, sage ich. »Er hatte einen Freund, der schwul war, weshalb manche Leute das auch von ihm gedacht haben – aber er selbst war nicht schwul.«
»Aah.« Ein selbstgefälliger, wissender Ausdruck tritt in ihre Miene. »Nun, vielleicht war er es, hat sich aber nicht geoutet. Das war damals noch nicht so üblich. Vielleicht hat er sich deshalb umgebracht – verstehen Sie –, weil er nicht imstande war, sich zu seiner Veranlagung zu bekennen.«
Normalerweise halte ich einfach den Mund. Lass die Leute denken, was sie wollen, aber etwas in ihrem Ton erbost mich. Wie kann sie es wagen zu glauben, sie habe die Sache durchschaut – sie, die überhaupt erst vor einer halben Minute von Dannys Tod erfahren hat?
»Er war nicht schwul«, sage ich.
»Nun, das weiß man nie …«
»Ich weiß es. Ich war mit ihm verlobt, als er starb.«
Als ihr Gesicht rot anläuft, schäme ich mich über mich selbst. Sie hat meinen ringlosen Eheringfinger registriert, meine Anwesenheit am Krankenbett seiner Mutter, und ist wegen ihres unschuldigen, aber taktlosen Geplappers peinlich berührt. Darüber hinaus habe ich nicht einmal die Wahrheit gesagt. Ich war nicht mit Danny verlobt – was immer er oder seine Eltern geglaubt haben mochten, was immer ich gesagt haben mag, um einen billigen Punkt gegen Schwester Fettsteiß zu erzielen –, eine solche Abmachung hat nie zwischen uns existiert.
»Entschuldigen Sie«, sagt sie, und in ihrem Ton schwingt Reue. »Aber jetzt muss ich Sie bitten, ein paar Minuten draußen zu warten, während ich mich um Mrs Ivanisovic kümmere.«
Ich verlasse das Zimmer mit dem Gefühl, dass eigentlich ich diejenige bin, die sich entschuldigen sollte. Die Frau mit den rosa Steinsplittern um den Hals durchquert gerade die Eingangshalle.
»Wollen Sie draußen etwas frische Luft schnappen?«, fragt sie. »Ich glaube, der Regen hat aufgehört.«
»Nein, danke, ich werde hier warten. Die Schwester ist gerade im Zimmer.«
Die Steinsplitterfrau bleibt stehen, nickt mitfühlend. »Sie ist eine bemerkenswerte alte Dame, nicht wahr?«
Ich entscheide mich für simple Zustimmung, da ich mir unsicher bin, worauf sich ihr Urteil über Mrs I. bezieht.
»In dieser Woche hat Dr. Brownlow jeden Tag, wenn er bei ihr war, gesagt, er rechne nicht damit, dass sie den folgenden Tag noch unter uns weilen wird.« Während ich in der Halle stehe und mich frage, ob Dr. Brownlow für derart aufbauende Worte allgemein bekannt ist, zwitschert die Steinsplitterfrau ungerührt weiter über den bemerkenswerten Lebenswillen mancher Menschen. Vielleicht glaubt sie, ich könne daraus etwas Trost ziehen – oder vielleicht argwöhnt sie insgeheim, ich sei eine frustrierte Testamentsbegünstigte, die sich fragt, wie lange Mrs Ivanisovic noch in Broadoaks herumliegen und ihr Vermögen mit jedem Tag, der verstreicht, um hundert Pfund oder mehr verringern wird. Ich erinnere mich an die Situation, die ich mit meiner Mutter erlebt habe – die Knappheit von Krankenhausbetten, das Warten auf einen geeigneten Pflegeheimplatz. Ohne Zweifel wartet irgendwo bereits eine andere reiche alte Dame – ihr Name auf der Anmeldeliste unter dem von Mrs Ivanisovic –, wartet auf dieses nette Zimmer mit dem großen Erkerfenster, dem Blick in den Garten. Ihrer Familie hat man wahrscheinlich bereits mitgeteilt, dass in Kürze ein Zimmer frei werden würde. Die Familie wird es kaum erwarten können – niemand gesteht sich ein, dass dies die Hoffnung auf den baldigen Tod von jemand anderem beinhaltet.
Denkt die Schwester über so etwas nach, wenn sie ihre sterbende Patientin versorgt? Fragt sie sich, wer der nächste Bewohner sein wird? Oder macht sie sich vielleicht Gedanken über einen anderen Widerspruch: der gesunde junge Sohn, der es nicht erwarten konnte, aus dem Leben zu scheiden, und im Gegensatz dazu die uralte Mutter, die sich so hartnäckig daran klammert.
So viele Leute, die alle auf den Tod einer alten Dame warten. Ein Leben flackert seinem Ende entgegen. Eine zitternde Flamme, die jeden Moment erlöschen könnte.
Als ich zurückkehren darf, finde ich Mrs Ivanisovic wach vor. Ihr Blick folgt meinem Gang von der Tür zu dem Stuhl neben ihrem Bett. Ich stelle fest, dass sie ein klein wenig aufrechter gegen die Kissen gestützt ist und einen Block mit Kugelschreiber griffbereit auf dem Bett liegen hat. Sie muss der Schwester bedeutet haben, die Sachen herauszuholen. Sie wirkt munterer – ich frage mich, ob die Schwester ihr irgendetwas verabreicht hat.
»Sie sehen ein wenig besser aus«, sage ich.
Sie hebt die Augenbrauen – ein wenig besser, ein wenig schlechter, was macht das schon aus? Sie führt den Kugelschreiber zum Block. Der Block ist bei einer freien Seite aufgeschlagen und die Kappe des Kugelschreibers bereits abgenommen, sodass sie jederzeit zu schreiben beginnen kann, doch als sie nun anfängt, tut sie sich schwer. Sie braucht eine halbe Ewigkeit, um ein einziges Wort entstehen zu lassen: Warum. Die Buchstaben sind übergroß und ungleichmäßig. Sie hält sich nicht mit einem Fragezeichen auf.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antworte ich kopfschüttelnd, täusche Ratlosigkeit vor, indem ich mich jener doppeldeutigen Ausdrucksweise bediene, wie man sie Kindern in Kriegszeiten als Antwort lehrte. Es ist eine Ausweichtaktik, die mich erheitert, seit ich das erste Mal darüber gelesen habe – ein sorgfältig konstruiertes, typisch britisches Hintertürchen. Während sich Mrs Ivanisovic wieder mit ihrem Kugelschreiber abplagt, denke ich über diese Geschichte nach: Wie man in Kriegszeiten, als Straßenschilder entfernt wurden, um die erwartete Invasion zu vereiteln, die Kinder dazu angehalten hatte, auf Fragen von Fremden, die sich nach dem Weg erkundigten, mit der geschmeidigen Mittelklasseformulierung »Das kann ich nicht sagen« zu antworten – und somit die Worte »das weiß ich nicht« zu vermeiden, die eine Lüge gewesen wären. Auf diese Weise konnte der Feind überlistet werden, ohne dass jemand gegen das achte Gebot verstieß.
Mrs Ivanisovic wird sich allerdings nicht so einfach abspeisen lassen. Sie ist keine als Nonne verkleidete deutsche Fallschirmspringerin. Mrs. Ivanisovic ist eine bemerkenswerte alte Dame – waren das nicht die Worte der Steinsplitterfrau? Sie ist entschlossen, sich nicht eher vom Leben zu verabschieden, bis sie die Wahrheit herausgefunden hat. Jetzt hat sie ihren nächsten mühsamen Versuch vollendet und hält den Block hoch. Die Buchstaben schlängeln sich quer über die Seite; manche sehen aus, als versuchten sie wie in einem Wettrennen über die anderen drüberzuklettern, um schneller am Rand des Blattes anzukommen. Gab es Streit.
»Natürlich haben wir uns manchmal gezankt.«
Sie sticht mit dem Kugelschreiber in die Seite, hält ihre Frustration nicht mehr zurück.
»Bitte, Mrs Ivanisovic. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich sagen kann. Wenn Sie wissen wollen, ob Danny sich umgebracht hat, weil wir Streit hatten, so kann ich Sie diesbezüglich beruhigen. Meinen Sie nicht, ich hätte das bei der gerichtlichen Untersuchung angegeben, wenn so etwas vorgefallen wäre?«
Sie lehnt sich gegen die Kissen zurück. Das Wispern ihres Atems pulsiert sanft durch das Zimmer, mischt sich mit dem weichen, langsamen Ticken des Weckers auf ihrem Nachttisch. Ein neuer Regenguss prasselt gegen die Fensterscheiben. All die Jahre hat sie über diese Frage nachgesonnen, hat sich gefragt, wie es dazu gekommen sein konnte, dass ihr kluger, witziger, talentierter Sohn – ein attraktiver junger Mann mit blendenden Zukunftsaussichten, den sie zuletzt in ausgelassener Stimmung erlebt hatte, glücklich und verliebt – Selbstmord begangen hatte. Ohne ein Wort der Erklärung, ohne einen Abschiedsbrief. Es beruhigt mich, dass sie offenbar keine Antworten hat. Ihre Theorien beruhen lediglich auf wilden Vermutungen: Sie stellt sich vor, wir hätten uns gestritten und daraufhin hätte Danny sich umgebracht – aus einer gekränkten Laune heraus nach einem Zank zwischen Liebenden. Oder hat sie noch bessere Theorien im Kopf?
Ich bemerke, dass meine Finger schmerzen. Ohne es zu merken, hatte ich meine Hände im Schoß zu Fäusten geballt und die Nägel dabei in die Handflächen gebohrt. Ich stelle mir ihre Stimme vor, wie sie ihm Frage um Frage stellt. »Hatte es etwas mit Katy zu tun? Hatte es etwas mit Trudie zu tun?« Aufgrund einer Eigenart in der Broadoaks-Klimaanlage bläst mir ein eisiger Luftzug über den Nacken.
Sie beugt sich nach vorn und müht sich erneut mit dem Kugelschreiber ab. Er droht ihren Fingern zu entgleiten, wackelt und schleppt sich über das Blatt, als sei er versucht, eigene Gedanken auszudrücken. Ich beobachte, wie sie Buchstaben bildet, dem Kugelschreiber ein S abringt, dann ein I. Das M ist geradezu kläglich.
»Simon?«, frage ich.
Sie nickt. Ich schweige, versuche mich ihrer Worte während meines letzten Besuchs zu entsinnen. Wie ein Studienkollege von Danny sie besucht hatte, aber der Tür verwiesen wurde. Die Schwester hat mir Josser bereits ungebeten ins Gedächtnis gerufen. War er es, der unangemeldet bei den Ivanisovics aufgetaucht ist? Es würde Josser ähnlich sehen, einfach auszuprobieren, ob sich aus seiner angeblichen Freundschaft mit Danny und Simon Kapital schlagen ließe. Als das missglückte, hat er womöglich auf irgendwelche Andeutungen zurückgegriffen. Vor der gerichtlichen Untersuchung war mir nicht klar gewesen, dass Simons Homosexualität für einige seiner Kommilitonen kein Geheimnis war. Vermutlich war ich davon ausgegangen, dass alle anderen Leute eine ebenso lange Leitung wie ich selbst hatten.
»Es stimmt, was man über Simon gesagt hat«, taste ich mich vorsichtig weiter. Ich will sie nicht quälen. »Und auch – und auch, dass er Danny liebte. Aber er liebte ihn als Freund – nicht auf sexuelle Weise.«
Ich versuche, ihren Ausdruck aus dem wenigen, was ich von ihrem Gesicht sehen kann, zu entschlüsseln. Sie hilft mir mit einer Bewegung, die ich als Nicken interpretiere. Sie versteht, und – wichtiger noch – sie glaubt, was ich sage. Ich sehe, dass sie wieder wegdämmert. Ihre Hände rutschen von den Schreibutensilien ab, also lege ich sie beiseite. Beobachte, wie der Regen Muster an die Scheiben wirft. Nach einer Weile kommt die Schwester herein, um zu fragen, ob ich Tee wolle. Als ich bejahe, nickt sie und geht wieder; keine von uns spielt in irgendeiner Weise auf die Situation von vorhin an. Sie kehrt mit einem Tablett zurück, auf dem sich nicht nur die für mehrere Tassen Tee notwendigen Utensilien befinden, sondern auch ein Teller mit vier Eier-Kresse-Sandwiches sowie ein Stück Madeirakuchen, alles säuberlich unter einer Frischhaltefolie angerichtet.
»Was ist mit Mrs Ivanisovic?«, frage ich.
»Ich bin mir sicher, sie will im Moment nichts haben.«
Ich begutachte diese unerwartete Fülle, entsinne mich noch rechtzeitig daran, »Vielen Dank« zu sagen.
Sobald sie gegangen ist, krame ich aus meiner Handtasche eine Packung Paracetamol. In Mrs Ivanisovics Zimmer ist es ziemlich stickig, und ich spüre eine Andeutung von Kopfweh. Das waren noch Zeiten, als man ein anständig großes Fläschchen mit Schmerzpillen kaufen konnte, die den ganzen Winter über gereicht haben, doch inzwischen gesteht einem der überfürsorgliche Vater Staat kaum eine ausreichende Menge zu, um eine Erkältung durchzustehen. Ich drücke die Pillen durch die Folie, hole sie vorsichtig heraus und lege sie, ohne den Blick von der im Bett liegenden Gestalt abzuwenden, auf das Nachtkästchen. Weiß sie etwas oder nicht? Wie kann ich da jemals sicher sein? Mrs Ivanisovic gibt ein leises Geräusch von sich – zu verhalten, um als Schnarchen bezeichnet zu werden. Alles an ihr schwindet: Die Flamme, die einst so hell loderte, ist schwach geworden. In Gedanken stelle ich mir eine Rauchsäule vor, die von einer gelöschten Kerze aufsteigt. Ich merke, dass ich gar nicht darauf geachtet habe, was ich tue – dass ich geistesabwesend weiterhin die Tabletten aus der Folie drücke, sodass sich inzwischen auf dem Nachttisch ein kleines Häufchen angesammelt hat.
Ich schlucke zwei Paracetamol mit meiner ersten Tasse Tee. Die zweite Tasse wird von den Sandwichdreiecken begleitet, die dritte spült den Madeirakuchen hinunter. Kurz nachdem ich fertig bin, taucht eine Angestellte auf, die ich bisher noch nicht gesehen habe – eine hübsche junge Frau mit kastanienbraunem Haar und einem mintgrünen Overall –, um das Tablett abzuholen. Ich kann gerade noch mit der Hand das kleine Häufchen weißer Tabletten abdecken, das die ganze Zeit über neben Mrs Ivanisovics Plastikspender mit Süßstoff gelegen hat.
»Wenn Sie noch eine Tasse Tee oder irgendetwas anderes haben wollen, dann klingeln Sie einfach«, sagt die Frau.
Ganz offensichtlich geht man davon aus, dass ich einige Zeit hierbleiben werde.