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Ich habe Mrs Ivanisovics Brief mitgenommen – vorgeblich als Gedächtnisstütze für ihre Adresse, obwohl diese zusammen mit dem Inhalt ihrer Briefe unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingebrannt ist. Sie lebt in einer Einrichtung namens Broadoaks. Unter dieser Adresse wohnt sie seit ungefähr zehn Jahren, aber da unsere Kommunikation normalerweise auf den jährlichen Austausch von Weihnachtskarten beschränkt ist, habe ich keine Ahnung, was für eine Art Einrichtung das ist. Als ich die Adresse in mein »Monets Garten«-Adressbuch übertrug, habe ich sie mental der Kategorie Altenheim zugeordnet, und da Mrs I. nach wie vor imstande ist, zusammenhängende Sätze zu bilden, wird es vermutlich kein Heim für »ältere verwirrte Menschen« sein – was die euphemistische Umschreibung der Institution ist, in der Hillys Mutter gegenwärtig untergebracht ist.
Während ich über die Tees-Brücke fahre, überlege ich, ob ich Mrs Ivanisovic wohl erkennen werde. Sie wird mittlerweile eine alte Frau sein, mit grauem Haar – vielleicht mit Stock oder Gehwagen. Schon damals, als ich Dannys Mutter das erste Mal traf, habe ich sie als alt empfunden. Mit der Arroganz der Jugend dachte ich, ihr Leben sei bereits so gut wie vorbei. Fünfundzwanzig erschien mir als gesetztes Alter und dreißig definitiv als uralt. Dannys Mutter war groß, schlank, graziös. Sie trug teure maßgeschneiderte Kleidung, ging einmal in der Woche zum Friseur und lackierte sich die Nägel. Wahrscheinlich war sie zu dem Zeitpunkt jünger, als ich es heute bin.
Trotz unseres vorgeblichen Status als radikale Freidenker waren wir unter unseren ausgefransten Jeans und den mit irgendwelchen Sprüchen bedruckten T-Shirts ungeheuer konventionell. Als Danny mich zu seinen Eltern einlud, war ich vorher entsprechend nervös und voller Sorge, was sie wohl über mich denken würden. Die Einladung sollte an einem Sonntag zum Tee stattfinden – damals ein Ritual, das bei der Mehrheit der Haushalte im Land mal im größeren, mal im kleineren Rahmen zelebriert wurde. Als wir am Eingangstor ankamen, stellte ich mit Schrecken fest, dass Dannys Eltern in einem ausgesprochen gediegenen, frei stehenden Haus wohnten, das ein Stück von der Straße zurückversetzt war. Dies signalisierte Geld und eine gewisse Etikette. Ich glitt neben Danny ins Haus und registrierte mit einem flauen Gefühl die massiven Möbel, die gestreiften Vorhänge und die Drucke an den Wänden, die sicher nicht von Woolworth stammten. Hier schien nichts selbst angefertigt oder aus einem billigen Katalog bestellt zu sein.
Ich hatte schreckliche Angst davor, mich zu blamieren, indem ich vielleicht das falsche Besteck benutzte oder bei irgendwelchen exotischen Leckerbissen nicht wissen würde, wie ich sie essen sollte. Aber tatsächlich wurden zum Tee nahezu die gleichen Speisen serviert, die Danny eine Woche zuvor bei meinen Eltern erhalten hatte: Weißbrot mit Schinken, Cocktailzwiebeln, Tee mit Milch. Dazu drei Sorten Kuchen: Schweizer Schokoladenbiskuitrolle, Battenburg-Kuchen mit Marzipanüberzug und Wiener Gebäck mit Buttercreme und Himbeermarmelade – kontinentale Namen, um unsere durch und durch britische Identität zu demonstrieren.
Mr und Mrs Ivanisovic waren sehr nett zu mir, und nach dem Tee ermunterten sie Danny, seine Gitarre zu holen und für uns zu spielen. Sie waren offensichtlich von Dannys Brillanz in jeder Phase seines Könnens überzeugt – was eine Gemeinsamkeit zwischen uns darstellte.
Ob sie sich wohl noch an diese erste Begegnung beim Sonntags-Tee erinnert? Fragt sie sich vielleicht auch, wie sie mich erkennen soll?
Ich finde Broadoaks ohne Probleme. An den offenen Toren ist ein großes Schild angebracht – sehr geschmackvoll, nur der Name in dunkelbraunen, goldumrandeten Lettern auf cremefarbenem Untergrund; nichts von »Heim« oder »Alte«.
Die Zufahrt führt um eine riesige Rasenfläche herum, auf der hohe Eichen stehen, die dem Anwesen den Namen geben und es nach außen hin abschirmen. Es ist ein sonniger Tag, ungewöhnlich warm für die Jahreszeit – ein Umstand, den sich zwei Bewohnerinnen zunutze machen: eine Dame im Rollstuhl mit einer gehäkelten Decke über den Beinen und eine Frau mit gekrümmtem Rücken, die, auf zwei Metallstöcke gestützt, langsam die Zufahrt hinuntergeht. Ich hoffe, keine der beiden ist Mrs Ivanisovic. Es wäre zu peinlich, ohne ein Zeichen des Wiedererkennens einfach vorbeizufahren. Aber da keine der Damen meinem Auto mehr als einen flüchtigen Blick schenkt, scheinen sie niemanden zu erwarten.
Ich stelle den Wagen auf dem Besucherparkplatz ab und gehe zur offen stehenden Eingangstür. Die Eingangshalle erinnert an den Empfangsbereich eines altmodischen Landhotels. Ich hatte damit gerechnet, eine ähnliche funktionelle Modernität vorzufinden wie in dem Heim, in das ich Hilly einige Male begleitet habe, aber Broadoaks ist weitaus gediegener und hat vermutlich auch entsprechend gesalzene Preise. Warum auch nicht? Mrs Ivanisovic hat niemanden, dem sie ihr Geld vermachen könnte.
Ich sehe keinen Empfangstresen, um mich anzumelden, aber noch ehe ich über mein weiteres Vorgehen nachdenken kann, taucht eine Frau auf und fragt, ob sie mir helfen könne. Ich hätte mit Twinset und Perlen gerechnet, doch sie trägt einen modischen Rock mit schickem Oberteil und dazu klobigen Modeschmuck.
»Ich möchte Mrs Ivanisovic besuchen«, sage ich.
»Ah, dann müssen Sie Katy Mayfield sein.« Das Lächeln wird breiter. Dazu ausgebildet, Besucher aufmerksam zu empfangen, kann sie natürlich nicht ahnen, wie sehr mich diese Begrüßung verunsichert. »Nehmen Sie doch bitte Platz. Ich werde nachsehen, ob Betty schon für Sie bereit ist.« Mit einer Handbewegung geleitet sie mich zu einer Gruppe Ohrensessel, die an der Stelle stehen, wo sich die Eingangshalle unterhalb der Treppe verbreitert. Erst als ich in einem der Sessel Platz genommen habe, verschwindet sie durch eine Tür rechts vom Haupteingang.
Mein Besuch ist offenbar angekündigt worden – und ich nehme zur Kenntnis, dass ich für heute Katy zu sein habe. Und Betty – jetzt fällt es mir wieder ein: Ihr Vorname ist Elizabeth, er hieß Stan – wohl eine Kurzform von Stanislaus oder etwas in der Art.
Während ich warte, betrachte ich die cremefarbenen Wände, die Messingtürgriffe, die verräterischen Geländer, Treppenlifts und Rampen. Wie kann ein Mensch, der hier leben muss, irgendeine Bedrohung für mich darstellen?
Die Empfangsdame mit der klobigen Kette ist zurück und nickt mir von der Tür aus auffordernd zu. »Wir wären dann so weit.«
Sie selbst betritt das Zimmer nicht, sondern hält mir die Tür auf und macht sie dann hinter mir wieder zu. Das kommt für mich unerwartet. Mir war nicht klar gewesen, dass die Tür direkt in Mrs Ivanisovics Zimmer führt. Ich bin nicht vorbereitet, bleibe einen Moment erschrocken stehen.
Mrs Ivanisovic sitzt auf dem Bett, gestützt von einem kleinen Berg Kissen. Ihr weißes Haar ist frisch gekämmt, und sie ist vollständig bekleidet – ein lila Cardigan, der farblich zu den Adern auf ihren Handrücken passt, ein grauer Rock, der kurz unterhalb der Knie endet und deshalb nicht die knochigen Schienbeine und Knöchel verdeckt, die mich in ihrer Zerbrechlichkeit an das Porzellan erinnern, aus dem wir einst zusammen Tee getrunken haben. All dies nehme ich mit einem Blick auf, wie auch die Sauerstoffflasche neben dem Bett – ein hässlicher Störenfried inmitten der pastellfarbenen Bettbezüge und dem niedlichen Nippes –, während Mrs Ivanisovic gleichzeitig mich in Augenschein nimmt. Ihre bleichen Lippen formen ein Lächeln, das ihre Augen jedoch nicht erreicht. Sie streckt die Hand aus: »Katy?«
Ihre Haut lässt mich an zerknittertes Seidenpapier denken, doch als ich ihre Hand ergreife, fühlt sie sich zu meiner Überraschung weich und warm an. Ich drücke sie nur ganz leicht, aus Angst, ihre Fingerknöchel könnten unter meiner Berührung zerbrechen.