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Die Schwester kommt von Zeit zu Zeit zurück, um kurz nach Mrs Ivanisovic zu sehen. Bei einem dieser Besuche schaltet sie die Nachttischlampe an und zieht die Vorhänge zu, erzeugt damit sogleich eine behagliche und einlullende Atmosphäre. Bilder von Gutenachtgeschichten und Bechern mit heißem Kakao schleichen sich ungebeten in meine Gedanken.

»Sie ist so friedlich, nicht wahr?« Mit wohlwollendem Lächeln bewegt sich Fettsteiß durch das Zimmer; erstaunlich leichtfüßig für jemand mit ihrem Gewicht.

Auf diese Weise würden wir alle gern verscheiden, denke ich; in gestärkter Bettwäsche und einem frischen Nachthemd  –  vergesst all das Aufbegehren gegen das Ersterben des Lichts, gebt mir einfach nur ein bequemes Bett und genügend Schmerzmittel.

Der Lampenschirm hat ein Muster aus Gänseblümchen  – das fällt mir erst auf, als die Lampe eingeschaltet ist. Lead kindly light, amid th’encircling gloom. The night is dark and I am far from home  –  Führe mich, freundliches Licht, durch die aufsteigende Dunkelheit. Die Nacht ist finster und ich bin fern von zu Haus  –  ist das nicht eine geeignete Hymne? To rest forever after earthly strife, In the calm light of everlasting life  –  Um nach der irdischen Unrast für immer zu ruhen, im stillen Lichte der Ewigkeit. Obwohl meine Generation Mrs Ivanisovic wohl eher Led Zeppelins Stairway to Heaven, die Himmelstreppe, erklimmen lassen würde.

Fettsteiß verschwindet auf Zehenspitzen, schließt die Tür hinter sich mit einem kaum hörbaren Klicken. In diesem Moment öffnet Mrs Ivanisovic die Augen und bemüht sich, ihren Blick zu fokussieren. Sie sagt etwas, aber ihre Stimme ist schwach und heiser, und die Worte werden von der Sauerstoffmaske verschluckt.

»Ich bin es, Katy«, sage ich. »Ich bin immer noch hier.«

»Katy.« Es klingt sehr gedämpft, aber sie hat mich eindeutig verstanden. Ihr Blick geht über mich hinweg, sucht nach irgendetwas (oder irgendjemand?) hinter meiner rechten Schulter. Ich zwinge mich eisern, mich nicht umzudrehen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass da niemals jemand ist. Nur die Folgen unserer eigenen Handlungen können uns heimsuchen.

Mrs I. sucht mit den Augen die unmittelbare Umgebung ab, bis ihr Blick beim Nachttisch hängen bleibt. »Das Kreuz? Wollen Sie das Kruzifix haben?«

Ich ergreife das abgewetzte braune Schmucketui und öffne es, überreiche ihr Kreuz und Kette so ehrerbietig, als wäre es eine heilige Reliquie. Sie nimmt es auf die gleiche Art in Empfang: hält es eine Weile in der geschlossenen Hand und bedeutet mir dann, es wieder zurückzunehmen. Als ich die Hand danach ausstrecke, legt sie das Kreuz mit der Kette vorsichtig auf meine Handfläche, schließt danach meine Finger darum. Ihre Absicht ist klar. Sie übergibt es meiner Obhut. Die Zeit steht still, während sie ihren schwachen Griff um meine Hand beibehält, in deren Innerem ich das kühle Gewicht des Schatzes fühle, den sie mir vermacht hat. Es ist wie eine Geste der Vergebung  –  eine Segnung.

Ich weiß, es wird keine Fragen mehr geben. Spüre ich eine Anwandlung von Schuldgefühl, weil ich sie bis zuletzt täusche? Nein  –  denn ich bewahre sie vor einer Wahrheit, die vernichtender ist als alles, was sie sich jemals vorgestellt hat.

Als sie ihren Griff löst, ziehe ich meine Hand zurück und lasse ihren Inhalt in meine Jackentasche gleiten. Ihre Augen sind wieder geschlossen, ihre Atmung geht flach. Die Uhr tickt jetzt lauter, übernimmt den führenden Part in dem Duett.

Mein Handy piepst leise aus der Tiefe meiner Handtasche heraus, informiert mich über das Eintreffen einer Nachricht. Falls Mrs I. es gehört haben sollte, so lässt sie es nicht erkennen. Ich angle das Handy heraus und lese die Nachricht:

Wie geht es Dir? Ruf mich später an, wenn Du kannst.

Natürlich Hilly. Wir achten auch bei unseren SMS immer auf ordentliche Orthografie und Interpunktion. Zwei Ex-Lehrerinnen  –  was soll man da anderes erwarten? Ich antworte:

Bin immer noch bei Mrs I. Ihr Zustand ist sehr schlecht, deshalb werde ich noch eine Weile bleiben.

Hillys Antwort kommt nahezu sofort.

Du Arme. Ich denke an Dich. Ruf nicht an, wenn Du zu müde bist.

Während ich die Nachricht lese, höre ich in meinem Kopf ihre Stimme, wie sie die Worte sagt. Teure Hilly  – die mich als Freundin liebt, aber mich nicht auf jene andere Weise lieben kann. »Ich bin nicht so veranlagt«, sagte sie vor vielen, vielen Jahren  –  ziemlich die gleichen Worte, die ich damals zu Trudie gesagt hatte. Der Unterschied ist freilich, dass sie bei Hilly der Wahrheit entsprechen. Manchmal verlieben wir uns in den falschen Menschen, aber es ist gut, sie zur Freundin zu haben  –  seit über dreißig Jahren.