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Ich bin sehr gut darin geworden, interessierte Aufmerksamkeit vorzutäuschen, wenn ich in Wahrheit nur mit halbem Ohr zuhöre. Während Marjorie also empört über irgendjemanden namens George zwitschert, sinne ich über das Problem des kleinen weißen Kuverts nach, das seit zwei Tagen hinter meiner Uhr steckt: außer Sicht, doch niemals außerhalb meiner Gedanken. George ist zweifelsohne einer jener Menschen, über die ich Bescheid wissen sollte  –  ein Mensch, den Marjorie wahrscheinlich früher schon mehrfach erwähnt hat und um dessen Rolle in ihrem Leben ich selbstverständlich wissen müsste.

»Ich erklärte Mary Goldinghey, sein Protokoll habe nichts mit dem zu tun, was tatsächlich in der Ausschusssitzung gesagt wurde  –  und dass dies auch nicht das erste Mal war.«

Ich gebe angemessene Unmutslaute von mir, während ich mich zu erinnern versuche, um welchen Ausschuss es sich handeln könnte  –  jedenfalls nicht um den der Frauenfreizeiteinrichtung, es sei denn, man hätte inzwischen Männer aufgenommen. Heutzutage können ja auch Mädchen bei den Pfadfindern eintreten, also wer weiß?

Soweit ich mich entsinne, sitzt Marjorie in mehreren Komitees. In der Tat scheint die halbe Welt ihre Zeit in irgendwelchen Komitees zu verbringen  –  vermutlich, um das Leben der anderen Hälfte der Welt zu organisieren. Ich gehöre definitiv der anderen Hälfte an  –  nicht, weil ich mein Leben nicht selbst organisieren könnte, sondern weil ich Komitees grundsätzlich misstraue. Komitees basieren auf Diskussionen, in denen die Redegewandtesten ihre Meinungen kundtun, ehe sie zu einer Mehrheitsentscheidung gelangen, die für alle verpflichtend ist. Eine überstimmte Minorität zu sein hat mein Leben ruiniert.

Ich nehme mein Shampoo (garantierte Revitalisierung von gefärbtem Haar) mit in die Dusche, was mir Gelegenheit gibt, dem Gejammer für eine Weile zu entrinnen. Das Wasser strömt hervor, überlagert alles andere: Marjories Stimme, den Chlorgeruch, das Musikgeriesel aus der Konserve. Heute Morgen gibt es Musicalhits: enthusiastische Sänger, die Das Phantom der Oper schmettern, als ginge es um ihr Leben. Als ich meinen Kopf direkt unter die feinen Wasserstrahlen halte und die Augen schließe, ist auch das harte Neonlicht ausgeblendet und damit die Realität meines Adergeflechts und meiner Cellulite. 1972 hatte ich keine Cellulite. Und ich glaube, auch sonst niemand. Ist das nicht eines dieser Dinge, die seither erfunden wurden? Damals waren zelluläre Angelegenheiten für uns kein Thema: Cellulite, Mobiltelefone, Stammzellenforschung  –  dies alles lag in ferner Zukunft.

Während ich mich abtrockne, setzt Marjorie ihre Schimpftirade fort. »Im Grunde ist es doch so: Wenn man etwas protokolliert und dies nicht genau dem Wortlaut dessen, was gesagt wurde, entspricht, dann ist das, tja, glatter Betrug, oder?«

Ich lege einen weiteren Satz, der mit Liebe Mrs Ivanisovic beginnt, im Hinterkopf ab, ehe ich laut sage: »Ich glaube, bei einer schwierigen Diskussion kann sich im Protokoll auch mal ein Fehler einschleichen.« So bin ich: immer darauf bedacht, im Zweifelsfall zu jemandes Gunsten zu entscheiden. Immer diplomatisch. Immer bestrebt, nicht verletzend zu sein. Und deshalb endet man dann auch eingequetscht auf der Rückbank eines Ford Anglia neben einem Mädchen, das man erst ein paar Stunden kennt. Nur weil man zu höflich ist, um zu widersprechen. Jemand anderer hätte vielleicht behauptet, es sei nicht genügend Platz im Wagen  –  aber die gute alte Katy rutscht einfach zur Seite, drückt sich wie ein Möbelstück in die Ecke eines backofenheißen Wagens, dessen hintere Fenster sich nur einen Zentimeter weit öffnen lassen. Klimaanlage? Soll das ein Witz sein? Im Jahr 1972?

Marjorie will den Hinweis auf ein versehentliches Missverständnis nicht gelten lassen. Das Protokoll wurde gefälscht. Sie ist dadurch in ihrem tiefsten Inneren gekränkt. Müßig frage ich mich, worum es wohl ging  –  eine öffentliche Danksagung? Jemand, der ein halbes Dutzend mehr Briefmarken für sich beanspruchte, als ihm rechtmäßig zustand? »Ich habe noch nie im Leben betrogen«, sagt sie affektiert. »Und ich will mit keiner Art von Betrug in Verbindung gebracht werden  –  oder mit Menschen, die lügen.«

Der verrückte Drang überkommt mich, ihre Hand zu nehmen und ihr feierlich Lebewohl zu sagen. Wenn sie ihren Ruf schon durch die Verbindung mit George und seiner zweifelhaften Protokollführung in Gefahr sieht, o Mann, wie würde sie dann erst ausflippen, wüsste sie ein wenig mehr über die Bekannte, mit der sie ihre täglichen Schwimmrunden absolviert. Natürlich halte ich mich zurück. Ich werfe ihr lediglich mein übliches »Also dann, bis morgen« zu.

Auf dem Heimweg kann ich mich wieder ungestört dem Problem mit Mrs Ivanisovic zuwenden. Sie kennt meine Adresse seit Ewigkeiten  –  warum hat sie mir also nicht schon vorher einen Brief geschrieben? Ist irgendetwas geschehen, das sie gerade jetzt dazu veranlasst hat? Die Existenz dieses unbekannten Faktors beunruhigt mich mehr als alles andere. Ist irgendeine alte Erinnerung aufgetaucht  –  ein Teil des Puzzles, das sich nicht richtig einfügen lässt? Und falls ja, würde sie es jemand anderem gegenüber erwähnen? Oder könnte es etwas mit dem Ort selbst zu tun haben? Weiß sie etwas, das ich nicht weiß? Wurde irgendetwas gefunden? Ich bekomme die Zeitung nicht regelmäßig  –  eine kleine Meldung könnte mir durchaus entgangen sein. Heutzutage kann man ja mit extrem wenig extrem viel herausfinden. Nicht nur das Wissen über Zellen ist sprunghaft angestiegen, es gab auch riesige Fortschritte in der forensischen Medizin  –  Zeug, wovon wir uns niemals hätten träumen lassen, wie zum Beispiel die DNA: was natürlich, wie mir bei genauerem Nachdenken klar wird, auch wieder mit Zellen zu tun hat.

Vielleicht sollte ich hinfahren und mal einen Blick darauf werfen. Ich nehme an, der öffentliche Spazierweg verläuft nach wie vor direkt entlang der Grenze zum Grundstück. Sollten dort irgendwelche Aktivitäten stattgefunden haben, würde es mir auffallen. Dort befindet sich auch der Wald, Bettis Wood. Ich möchte nicht dorthin zurück, aber vielleicht sollte ich es dennoch tun. Der Gedanke flackert gefährlich. Ich lege ihn auf Eis, während ich weiterhin über Mrs Ivanisovics Brief nachsinne. Es ist keine gute Idee, ihn zu lange unbeantwortet zu lassen. Eine glatte Absage könnte womöglich verheerende Folgen haben, da ich nicht weiß, welche Trümpfe sie in der Hand hat.

Wäre es ein gewöhnliches Problem, könnte ich mit Freunden darüber reden. Im Lauf der Jahre habe ich einige gute Freunde gewonnen  –  Menschen, die über alle möglichen Arten von Wissen und Lebenserfahrung verfügen und die einander über alle möglichen Dinge beraten können, von der Einkommenssteuer bis hin zur Geranienzucht. Aber dieser Teil meines Lebens ist für sie ein Buch mit sieben Siegeln, und ich würde auch nicht im Traum daran denken, mich meinem Bruder anzuvertrauen, geschweige denn meiner Schwester.

Meine Schwester gehört zu jenen Menschen, mit denen man zunächst viel Nachsicht übt, weil sie doch erst sechs Jahre alt sind, und eines Tages wird einem dann schlagartig bewusst, dass man es immer noch tut, obwohl sie bereits munter auf die fünfzig zumarschieren. So war es immer zwischen meiner Schwester und mir gewesen. Sie war von klein auf daran gewöhnt, keine familiäre Verantwortung übernehmen zu müssen, und gelangte dadurch zu der Überzeugung, automatisch davon befreit zu sein. Abgesehen davon gibt es in ihrem Leben ständig irgendwelche Katastrophen: Probleme mit einem Mann oder Probleme, weil sie keinen Mann hat  –  dann gab es diese fixe Idee, in Spanien ein neues Leben zu beginnen, was allerdings niemals realisiert wurde, danach das Trauma ihrer ersten Scheidung, das Drama ihrer zweiten …

Aufgrund irgendeiner unerklärlichen Wahrnehmungstrübung meiner Familie hat die absolute Unzuverlässigkeit meiner Schwester bei jeder Art von Krise außer mir nie jemanden verärgert. Die Rolle meiner Schwester war es stets, die Jüngste zu sein. Ich war diejenige, auf die sich unvermeidlich alle Erwartungen konzentrierten, trotz der Tatsache, dass ich, zumindest in den Augen meiner Eltern, das schusselige, emotional auffällige Kind war, auf das man sich nicht ganz verlassen konnte  –  ein eklatanter Widerspruch, der offenbar außer mir auch keinem auffiel.

Aber vielleicht kann mir meine Familie in der gegenwärtigen Situation doch irgendwie nützlich sein, weil ich mich urplötzlich an meinen Vater und das Gartenhausprojekt erinnere. Meine Mutter hasste unser baufälliges Gartenhäuschen, und so versprach mein Vater nach langem Zögern, es durch ein neues zu ersetzen  –  doch irgendwie wurden die Pläne, die er zu diesem Zweck machte, immer wieder auf geheimnisvolle Weise durchkreuzt. Er bestellte Material, bekundete regelmäßig seine besten Absichten, und trotzdem wollte das neue Häuschen einfach nicht Gestalt annehmen. An dem Wochenende, das schließlich für den Baubeginn dieses lang erwarteten Projekts festgelegt worden war, wurde er in letzter Minute unerklärlicherweise telefonisch in die Arbeit bestellt, und die Sache musste erneut verschoben werden. Ich habe mich oft gefragt, wie es ihm gelungen war, diesen Telefonanruf zu arrangieren  –  oder vielleicht waren die Götter ja wirklich auf seiner Seite. Das neue Gartenhäuschen wurde jedenfalls nie gebaut.

Und genauso wird es sich mit meinem Besuch bei Mrs Ivanisovic verhalten. Nach dem Frühstück formuliere ich meine Antwort.

 

Liebe Mrs Ivanisovic,

es war eine nette Überraschung, von Ihnen zu hören, und ich hoffe, Sie sind wohlauf. Ich würde Sie sehr gern besuchen, aber leider ist mir das in den nächsten Wochen aufgrund diverser Termine nicht möglich. Da Sie offenbar am Telefon Schwierigkeiten mit dem Hören haben, werde ich Ihnen ein paar Zeilen schreiben, wenn mein Terminkalender nicht mehr so voll ist. Ich freue mich auf ein Wiedersehen in der nahen Zukunft.

 

Mit freundlichen Grüßen
Katy Mayfield

 

Katy? Gut, warum nicht?

In Wahrheit steht kaum etwas in meinem Terminkalender, das nicht im Bedarfsfall verschoben werden könnte. Ich bin vor achtzehn Monaten, als meine Mutter starb, in den Vorruhestand gegangen. Ich kann also frei über meine Zeit verfügen, was bedeutet, dass ich heute Nachmittag nach Herefordshire fahren, meinen Wagen abstellen und den Fußweg entlangspazieren kann, der vom Haus in den Wald führt  –  vorausgesetzt, ich will das wirklich.

Jahrelang hatte ich mir vorgemacht, ich könne tun und lassen, wie es mir beliebt, doch in Wirklichkeit sind die Fäden der Marionette erst in den letzten achtzehn Monaten gekappt worden  –  bis dahin war es immer meine Aufgabe gewesen, mich für meine Eltern auf Abruf verfügbar zu halten. Ich habe nie ein tiefes Gefühl für sie entwickelt  –  eine zu hohe Mauer aus Vermutungen und Geheimnissen trennte uns  –, aber ich war gefügig und gefangen durch die geografische Nähe und komplexe Loyalitätsgefühle. Vielleicht bin ich niemals die vage Empfindung losgeworden, meinen Eltern etwas schuldig zu sein, weil ich solch eine Enttäuschung für sie war. Oder vielleicht hoffte ich auch vergeblich, mich selbst zu erlösen? Wiewohl es so oder so keine Rolle spielte  –  das Bild »ihrer« Katy war unauslöschlich gezeichnet, zu starr, um verändert zu werden. Auch für meine Geschwister bin ich, wie ich glaube, eher eine Präsenz als eine Person  –  ihre Schwester Katy, die da ist, um familiären Pflichten nachzukommen, Bargelddarlehen zu vergeben oder ein mitfühlendes Ohr zu leihen (meiner Schwester). Eine Schwester, mit der man hin und wieder etwas unternehmen muss, ein wenig so, wie man mit einem Hund Gassi geht, nur wesentlich seltener (mein Bruder).

Einer dieser seltenen Familienausflüge fand letzten Sommer statt, als ich mit meinem Bruder, dessen Frau, Kindern und Enkeln ein Automuseum besuchte. Ich bin an diesen Ausflügen nicht sonderlich interessiert und glaube auch nicht, dass meine Anwesenheit für die anderen das Vergnügen vergrößert; aber diese gelegentlichen Zusammenkünfte lassen sich nicht vermeiden  –  wie Zahnarztbesuche muss man sie stoisch und mit starrer Miene hinter sich bringen und tapfer lächeln, wann immer jemand einen Witz macht. Eine Sache, die ich von diesem Ausflug mitnahm, war die Feststellung, wie klein und beengt die Autos meiner Jugend gewesen sind.

Ein Ford Anglia befand sich nicht in der Ausstellung, aber dafür andere Marken und Modelle ähnlicher Jahrgänge, und ich staunte über die engen Rücksitze, auf die man gelangte, indem man einen Vordersitz nach vorn klappte und sich dann durch einen schmalen Spalt zwängte, der auch einen Schlangenmenschen in Nöte gebracht hätte. Die Leute prahlten häufig damit, wie sie damals auf den Rücksitzen gevögelt hatten, aber Gott allein weiß, wie ihnen das gelungen sein sollte.

Die Autos waren zu jener Zeit langsamer und hatten weniger zweispurige Fahrbahnen zur Verfügung, was bedeutete, dass jede Strecke, die außerhalb der eigenen Ortschaft lag, zu einer endlosen Ochsentour wurde. Als ich ein Kind war, wurde eine längere Autoreise wie ein Feldzug geplant; der Kofferraum war mit überlebensnotwendigen Dingen beladen: in Butterbrotpapier gewickelte belegte Brötchen, Thermoskannen mit Tee, Decken gegen mögliche Unterkühlung, Ersatzdachgepäckträger. Mit der Unbesonnenheit der Jugend hatten Simon, Danny und ich keine derartigen Vorbereitungen getroffen, bevor wir zur Küste aufbrachen, sondern führten kaum mehr mit als das, was wir am Leibe trugen, und natürlich Dannys Gitarre. Es gab keine Notrationen, wir hatten uns die Strecke nicht vorher in Großbuchstaben herausgeschrieben und auch keine Taschenlampe griffbereit neben uns, um die Route nach Einbruch der Dunkelheit noch lesen zu können. Wir hatten uns überhaupt kaum Gedanken darüber gemacht, wie lange die Reise dauern würde. Detailliertes Planen war etwas für Eltern, nicht für Freigeister wie uns.

Derart unbekümmert trieben wir uns bis zum frühen Abend am Strand herum, ohne darüber nachzudenken, welche Erwartungen Trudie an uns haben könnte. Als wir schließlich in den Wagen stiegen, sinnierte Simon laut nach, wie lange die Fahrt wohl dauern würde. Doch als er und Danny sich nicht darüber einigen konnten, wie lange wir für die Hinfahrt gebraucht hatten, kamen sie schließlich in beidseitigem Einvernehmen zu dem Schluss, dass die Rückreise schneller sein würde als die Hinreise. Ich beteiligte mich nicht an der Diskussion. Ich war müde und sonnenverbrannt, und jeder Atemzug, den ich nahm, schmeckte nach überhitztem Vinyl.

Dank eines Missverständnisses zwischen dem Fahrer und dem Navigator verfuhren wir uns hoffnungslos in einem Gewirr kleinerer Straßen, deren Schilder alle zu Orten führten, die mit einem doppelten L begannen und die wir weder aussprechen noch in unserem einfachen Straßenatlas finden konnten. Trudie fand das lustig, ebenso wie Danny und Simon. Ich saß stumm in meiner Ecke und kochte  –  im wahrsten Sinne des Wortes.

Als wir schließlich auf die richtige Straße gelangten, schlug Danny vor, an einem Pub zu halten. Sobald ich aus dem Wagen stieg, merkte er, dass etwas nicht stimmte.

»Bist du okay?«, fragte er und legte kurz seine kühle Hand auf meine Stirn. »Du bist ja ganz heiß.«

»Ich habe schreckliche Kopfschmerzen«, sagte ich.

»Wahrscheinlich zu viel Sonne. Außerdem hast du den ganzen Tag über kaum etwas gegessen. Wir werden dich mit ein paar Bieren und Sandwiches wieder aufpäppeln.«

Im Pub gab es nur Knabberzeug, dafür stieg mir der Alkohol sofort in den Kopf, und bereits nach kurzer Zeit war ich wesentlich besser gelaunt und stimmte in das Gelächter mit ein, das uns missbilligende Blicke seitens der Einheimischen einbrachte. Wir waren inzwischen an die Feindseligkeit gewöhnt, die unser langes Haar und die Holzperlenketten bei den meisten Männern über sechzig auslösten (hatten sie etwa im Krieg gekämpft, nur damit wir zottelig und ungepflegt in Pubs herumlungern konnten?), und unser Lachen wurde nur noch lauter. Wir waren jung und frei, die Welt gehörte uns.

Der Pub lag schon einige Meilen hinter uns, als ich Trudies Bemerkungen zerstreut entnahm, dass sie nicht die geringste Idee hatte, wo wir waren, und ebenso wenig wusste, wohin wir fuhren. Erst als sie mit kaum mehr als träger Neugierde fragte: »Was ist in Hereford überhaupt?«, dämmerte mir, dass wir womöglich ein echtes Problem hatten. Ich war gerade zu dem Entschluss gelangt, eine direkte Frage, wo sie abgesetzt werden wolle, sei jetzt mehr als überfällig, als der Wagen plötzlich beunruhigender als gewöhnlich zu ruckeln begann und Simon sich gezwungen sah, an den Straßenrand zu fahren.

Trudie und ich saßen auf dem staubigen Grasstreifen, während die Jungs sich daranmachten, den platten Reifen zu wechseln. Die Dämmerung senkte sich auf uns herab, und die wenigen Wagen, die an uns vorbeifuhren, hatten die Scheinwerfer angeschaltet. Trudie begann zu summen. Wieder ein Cat-Stevens-Song  –  sie war eindeutig ein Fan.

Ich packte die Gelegenheit beim Schopf. »Wohin willst du eigentlich genau?«

Das Summen hörte auf. Sie hatte den Einsatz des Wagenhebers beobachtet, doch jetzt wandte sie sich mir zu. Es war bereits zu dunkel, um ihren Ausdruck erkennen zu können. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie. »Ich glaube, ich gehe einfach dahin, wo ihr mich hinbringt. Als ich euch am Strand sitzen sah, wusste ich sofort, dass mein Schicksal mit eurem verbunden ist. Ich bin nämlich medialistisch, weißt du. Manchmal weiß ich Sachen. Das ist eine Gabe. Ich habe sie von meiner Großmutter geerbt.«

Ich war mir nicht sicher, ob es ein Wort wie medialistisch wirklich gab, dennoch verstand ich ihre Botschaft. Ich war diesen gerade angesagten Hellsehertypen mit ihren geheimnisvollen Gaben und Intuitionen schon öfter begegnet.

»Ich kann aus der Hand lesen«, fuhr sie fort. »Komm  – gib mir deine Hand.« Sie streckte ihre Hand aus, und ich fügte mich; legte meine umgedrehte Hand auf ihre langen, schlanken Finger, während mein skeptischer Verstand mir sagte, es sei viel zu dunkel, um etwas sehen zu können, selbst wenn es etwas zu sehen gäbe.

Doch Trudie versuchte gar nicht, meine Lebenslinie zu erkennen. Stattdessen strich sie mit den Fingerspitzen ihrer freien Hand zart über meine Handfläche und sah nicht mich an, sondern den bleichen Mondsplitter, der gerade am Himmel erschienen war. Ein Kribbeln lief über meine Kopfhaut, und die dünnen Metallarmreife an meinem Handgelenk klirrten gegeneinander, umkreisten in einer Serie kaum wahrnehmbarer Vibrationen unsere Hände wie tausend winzige Glöckchen, die eine Warnung aus einer fernen Welt verkündeten. Als sie wieder sprach, war es mit einer weichen, vollen Stimme und zu leise, um für die Reifenwechsler hörbar zu sein.

»Du hast einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester«, sagte sie. »Du bist also das mittlere Kind, was nicht leicht ist. Du magst Kinder  –  du willst mit ihnen arbeiten. Du würdest gern Lehrerin werden, aber ich kann dir nicht sagen, ob das eintreffen wird oder nicht. Irgendetwas steht dir im Weg  –  irgendein Hindernis –, es liegt an dir, ob du es überwindest oder nicht.«

So viel zu diesem Thema, dachte ich. Da wir stundenlang über alles Mögliche gequatscht hatten, waren mir wahrscheinlich irgendwelche Hinweise auf meine Familie und meine Lehrerausbildung entschlüpft.

»Ich nehme an, du willst etwas über dein Liebesleben erfahren.« Ich glaubte, in ihrer Stimme eine Spur von Boshaftigkeit wahrzunehmen. »Das interessiert die Leute immer.«

Meine Hand war warm unter ihrer Berührung; der Druck ihrer Finger war zu einer Liebkosung geworden. »Danny ist deine erste große Liebe  –  aber es wird nicht von Dauer ein.«

»Das reicht«, sagte ich ziemlich scharf und zog meine Hand weg.

Trudie schien nicht beleidigt zu sein. Sie behielt ihren träumerischen Ton bei. »Da war noch etwas. Etwas Dunkles, das ich nicht deuten kann.«

Meine sonnenverbrannte Haut reagierte auf die kühlere Luft. Gänsehaut überzog meine bloßen Arme. »Dauert es bei euch Jungs noch lange?«, rief ich.

»Wir tun unser Bestes«, erwiderte Simon kurz angebunden.

Ein einzelner strahlender Stern war über dem Horizont aufgegangen.

»Ich finde den Mond faszinierend, du auch?«, fragte Trudie. »Hast du bemerkt, dass es, als wir im Auto fuhren, so aussah, als würde er uns folgen?«

Ich bastelte noch an einer Antwort, als sie leise zu singen begann.

»Oh, I’m being followed by a moonshadow, moonshadow, moonshadow …«