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Als ich mich bückte, um das Büchereibuch aufzuheben, bemerkte ich unter dem Bett etwas Kleines, Schimmerndes. Ich kniete mich hin, um den Gegenstand besser erkennen zu können, und entdeckte, dass es ein Füllfederhalter war  –  nicht irgendein billiger Füller, sondern ein edles Teil, das durch die nur allzu bekannten eingravierten Initialen T. E. A. F. eine persönliche Note erhielt. War ich eigentlich der einzige Mensch hier im Land, der seine Initialen nicht überall verewigte?

Der Fund machte mich nervös. Ich dachte, ich hätte alles so schlau hinbekommen, und trotzdem war hier ein gefährlicher, verräterischer Gegenstand aus Trudies Besitz, den ich völlig übersehen hatte. Und ich hatte auch keine Ahnung, was ich mit dem Füller anstellen sollte. Weder Feuer noch Müll schienen mir dafür geeignet zu sein.

Mehrere dumme, störende Gedanken überfielen mich, noch ehe ich sie abwehren konnte: Vielleicht hatte Trudie  –  oder gar Agnes  –  das Buch auf den Boden fallen lassen, damit ich den Füller fand. Oder vielleicht war das Finden des Füllers nur nebensächlich, und etwas oder jemand wollte, dass ich das Kapitel über Agnes Payne las. Meine Vernunft sagte mir etwas anderes: Ich hatte das Buch selbst vom Fensterbrett gestoßen. Und natürlich musste es genau an dieser Stelle aufklappen, weil es in der Position mindestens drei Tage lang mit den Seiten nach unten auf dem Boden gelegen hatte. Würde man das Buch hundertmal hinunterwerfen, würde es vermutlich jedes Mal bei Agnes Payne aufklappen.

Als ich das Buch aufhob, fiel mein Blick auf die Anfangszeile: Obwohl der Mord an Agnes Payne offiziell als unaufgeklärt gilt  –  Obwohl? Warum obwohl? Unwillkürlich erwachte meine Neugierde. Eigentlich durfte ich keine Zeit vergeuden, aber ich begann dennoch weiterzulesen.

Obwohl der Mord an Agnes Payne offiziell als unaufgeklärt gilt, ist die ortsansässige Historikerin Maisy Gregson nun mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Mord der Überzeugung, den Täter gefunden zu haben. So viel zu dem Zeitschriftenartikel, dachte ich. Der Autor hatte seine Hausarbeiten offenbar nicht gründlich gemacht. Ich überflog den Rest des Berichts. Es war mehr oder weniger eine Wiederholung dessen, was wir bereits wussten  –  bis ich zu den letzten Absätzen gelangte.

Scotland Yard wurde hinzugezogen, doch die Ermittler aus London kamen auch nicht weiter als die örtliche Polizei. Die Ermittlung verlief im Sande, und der Fall blieb unaufgeklärt. Zumindest bis zum Jahr 1967, als Maisy Gregson damit begann, die Geschichte der Gemeinde niederzuschreiben. Als sie eines Tages über den alten Kirchenbüchern saß, stieß sie auf einige Einträge, die von einem Geistlichen signiert waren, dessen Name ihr vorher noch nie begegnet war  –  ein gewisser R. W. Wilkins-Staunton. In der Folge entdeckte Maisy ein altes Kirchenheft, in dem auf die Tatsache Bezug genommen wurde, dass Reverend Wilkins-Stauntons Berufung ihn durch die ganze Welt geführt hatte  –  zu einem Lehrposten in Nova Scotia und von dort zu einer Kirche in Massachusetts.

Fasziniert von dem weltreisenden Geistlichen, sandte Maisy einige Anfragen an einen freundlichen Bibliothekar in Boston, der ihr in einem Brief mit schockierenden Informationen antwortete. Roger Webb Wilkins-Staunton war in den USA wegen Mordes an einer Frau aus seiner Gemeinde im Jahre 1931 hingerichtet worden. Der Mord wies etliche Parallelen zu dem Agnes-Payne-Fall auf, bis hin zu der Mitgliedschaft des Opfers an Wilkins-Stauntons Bibelgruppe und der Verwendung eines teuren Seidenschals. Lange Zeit glaubte man, man werde nie erfahren, wer Agnes Payne ermordet hatte  –  doch Maisy Gregson ist überzeugt, die Antwort gefunden zu haben.

 

Am Ende des Kapitels stand der Hinweis: siehe Abbildung VIII., und so blätterte ich folgsam durch die glänzenden mittleren Seiten, in der Erwartung, ein Foto von Maisy Gregson zu finden. Der Text unter Abbildung VIII. identifizierte die Frau auf dem Foto jedoch als Agnes Payne. Es war eine ziemlich körnige Kopie einer alten Fotografie, die eine unscheinbare Frau in einer strengen Stehkragenbluse zeigte. Obwohl Agnes einen Hut aufhatte, war ihr helles Haar zu erkennen. Sie sah ganz und gar nicht wie Trudie aus.

Mit einem merkwürdigen Gefühl der Enttäuschung schloss ich das Buch. Im Zimmer war es völlig still, dennoch kam es mir vor, als würden Trudie und Agnes mir beide etwas zurufen und versuchen, mir mitzuteilen, was ich übersehen hatte.

Ich ließ Buch und Füller auf dem Bett liegen, während ich einen letzten Rundgang durch das Zimmer machte. Die Entdeckung des Füllers machte mich so nervös, dass ich noch einmal alle Schubläden herauszog, hinter der Kommode und der Truhe nachsah, sogar die Oberseite des Schranks überprüfte und dabei an dem Staub, den ich aufwirbelte, fast erstickte; doch ich machte keine weiteren Entdeckungen.

Als ich endlich beruhigt war, ging ich mit dem Buch und dem Füller in mein Zimmer hinüber. Ich holte das Geld aus dem hinteren Bucheinband, steckte zwanzig Pfund in meine Geldbörse und den Rest in die Innenseite meines Anoraks, der seit meiner Ankunft ungetragen im Schrank gehangen hatte. Dann sammelte ich meine Sachen zusammen, stapelte sie auf dem Bett, damit ich sie binnen Minuten in meinen Rucksack packen könnte.

Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Trudies Büchereibuch irgendeinen Hinweis für mich enthielt, doch meine Vernunft sagte mir, das Buch beweise nur, wie unsinnig und weit hergeholt Trudies Ideen gewesen seien. Die ermordete Agnes war eindeutig nicht mit Trudie in Kontakt getreten. Wozu auch? Ihr Geheimnis war von dieser Maisy Dingsda enthüllt worden. Darüber hinaus war ihr zu guter Letzt auf heftigste Weise Gerechtigkeit widerfahren: Der mörderische Pfarrer war für seine Taten hingerichtet worden.

Ich legte das Buch zur Seite, um es später mit hinunterzunehmen, war mir jedoch unschlüssig wegen des Füllers. Er würde sich nur sehr schwer vernichten lassen, aber Wegwerfen wäre zu gefährlich. Nicht viele Menschen hatten vier Initialen. Vielleicht hatte außer Trudie niemand diese besondere Kombination. Die beiden Jungs würden bestimmt auch keine sichere Lösung finden, also beschloss ich, den Fund für mich zu behalten, und steckte den Füller in meinen Anorak zu Trudies Geld.

Die Diele war so düster, dass ich das Licht anknipste, als ich die Treppe hinunterging. Doch das verstärkte nur noch das Gefühl von Depression, das über dem Haus hing, beleuchtete die Fetzen eines von der Decke herunterhängenden Spinnennetzes und enthüllte die Staubschicht, die über allem lag. Es kam mir vor, als würde das Haus selbst Staub produzieren: über Nacht die abgestandene Luft einatmen, um sie am folgenden Morgen als Staub auszuatmen, sodass jegliches Bemühen, jemals damit fertigzuwerden, von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Aus irgendeinem Grund erinnerte mich das an den Wasserschlauch, der langsam den Teich füllte. Doch dieser Gedanke an den Teich aktivierte sofort eine Flut von Assoziationen, die ich die ganze Zeit zu vermeiden versucht hatte. Ich hielt das nicht länger aus. Ich musste weg von hier.

Als ich die Küche betrat, kam Simon gerade durch die Hintertür herein.

»Hi«, sagte ich. »Hast du rausgekriegt, wie lange es noch dauert, bis dein Onkel kommt?« (Mir fiel leider zu spät ein, dass ich das anhand von Trudies Tagebuch hätte herausfinden können, wenn ich die Zeit nicht mit Herumschnüffeln vergeudet hätte.)

»Nein, damit habe ich mich noch nicht befasst.«

Das kam mir seltsam vor. Simon musste sich doch fragen, was sein Onkel dazu sagen würde, dass ein Großteil des Gartenprojekts noch immer nicht fertig war. Er schien meine Gedanken lesen zu können, denn er fügte hinzu: »Im Moment kann ich an gar nichts denken  –  ich kann überhaupt nicht klar denken.«

Ein mehrmaliges scharfes Klopfen unterbrach uns. Jemand war an der Haustür  –  jemand, der das traditionelle Rat-a-tat-tat bevorzugte, um sich Gehör zu verschaffen. Simons Augen weiteten sich, und er umfasste die Lehne des am nächsten stehenden Stuhls, als suchte er nach einem Halt. Ich musste wohl selbst am Rand der Hysterie gewesen sein, weil mir diese ganze Situation plötzlich extrem witzig vorkam. »Das wird die Avon-Beraterin sein«, sagte ich. »Soll ich aufmachen?«

Simon kapierte den Witz offensichtlich nicht. Er starrte mich einige Sekunden lang an, ehe er sagte: »Sieh du nach, wer es ist. Ich werde hier warten.«

Ich hüpfte nahezu durch die Diele, war völlig aufgekratzt. Wir hatten bereits die Bauarbeiter hier gehabt, die Polizei und den Postboten. Was mochte das Schicksal jetzt noch für uns bereithalten?

Der Mann, der auf der Treppenstufe vor der Tür wartete, war groß und dünn. Er trug einen altmodischen, tweedartigen Anzug und hatte absurd breite graue Koteletten. In den Händen hielt er einen Hut, den er wahrscheinlich gerade erst abgenommen hatte. Eigentlich war es eher eine Mütze mit Ohrklappen, wie Sherlock Holmes sie zu tragen pflegte. Ein wilder Drang loszuprusten überkam mich, den ich nur mühsam unterdrücken konnte. Offenbar waren den Göttern die Tricks ausgegangen, sodass sie uns nun Sherlock Holmes persönlich schickten.

Der Mann betrachtete mich auf eine Art, wie jemand eine Nacktschnecke beäugen würde, die in sein Treibhaus eingedrungen ist. Er hielt sich nicht mit Begrüßungsfloskeln auf. »Ist Trudie da?«

Aha, die Überrumplungstaktik  –  der Versuch, mich unvorbereitet zu erwischen. »Nein«, sagte ich zurückhaltend, während ich weiterhin gegen mein Verlangen zu lachen ankämpfte. »Sie wohnt nicht mehr hier.«

Ungläubig sah er mich an. »Sind Sie sicher? Sie hat mir aber ausdrücklich diese Adresse genannt.«

Allmählich kam ich wieder zur Vernunft. »Wieso? Ich meine  –  wer sind Sie?«

Er griff in sein Jackett und zog eine Visitenkarte hervor, die er mir reichte. Der Karte konnte ich entnehmen, dass es sich bei dem Mann um einen Antiquitätenhändler aus Leominster handelte. Unschlüssig, wie ich darauf reagieren sollte, gab ich ihm die Karte zurück. Er blieb unverdrossen auf der Türstufe stehen, erwartete offensichtlich, ins Haus gebeten zu werden. Als keine Einladung erfolgte, begann er sein Anliegen vorzubringen; sein Ton war ungeduldig, seine Miene angewidert, als würde er etwas Ekliges riechen. »Trudie kam letzte Woche in meinen Laden und zeigte mir etwas recht Wertvolles. Es lag nicht in meinem Fachbereich, deshalb sagte ich, ich würde bei einem Freund nachfragen, und wie sich herausstellt, ist er tatsächlich interessiert. Und deshalb bin ich jetzt hier.«

»Um welchen Gegenstand handelt es sich denn?«

»Ich denke, das ist eine Sache zwischen Trudie und mir.«

»Nun ja, es ist durchaus möglich, dass dieser Gegenstand gar nicht ihr gehört, verstehen Sie? Er könnte jemand anderem gehören. Jemandem, der  –  hier wohnt.«

»Verstehe. Ich erklärte der jungen Dame, dass sich vor einem Verkauf unvermeidlich die Frage nach der Herkunft des Objekts stellen würde. Wissen Sie denn etwas über den fraglichen Gegenstand?«

O Gott. Wahrscheinlich glaubte er jetzt, wir seien eine Bande Antiquitätendiebe oder etwas in der Art. »Kommt darauf an«, wich ich aus, »um welchen Gegenstand es sich handelt. Es ist nicht zufällig eine Teekanne mit Rosen darauf?«

Er richtete sich auf, als sei er durch die Frage gekränkt. »Es ist eine Briefmarke. Eine hawaiianische Missionsbriefmarke, wenn Sie es genau wissen wollen. Also  –  ist dieses Mädchen, das sich Trudie nennt, nun da oder nicht?«

Ich starrte ihn an. War das alles ein Scherz? Was sollte dieses Gerede? Was hatten Missionare mit Briefmarken zu tun? Ich kam mir vor, als wäre ich in einen Monty-Python-Sketch hineingestolpert. Dann dämmerte es mir. »Die Briefmarke klebte auf einem Umschlag, richtig? Das muss das Erbe ihrer Großmutter sein.«

»Das hat sie auch behauptet. Obwohl mein Freund dafür natürlich irgendeine Art von Beweis verlangen würde. Aber Ihren Worten zufolge wohnt sie gar nicht mehr hier. Können Sie ihr vielleicht eine Nachricht zukommen lassen oder mir verraten, wo ich sie finde?« Sein Ton wurde zunehmend ungehalten. Zweifellos hatte er meine Belustigung gespürt und argwöhnte, ich wolle ihn an der Nase herumführen. Seine Gereiztheit machte mich nervös, dennoch schaffte ich es nicht, mich zusammenzureißen. Ich dachte an dieses Kuvert  –  das schäbige, alte Kuvert, das ich nicht für wert erachtet hatte, ihm einen zweiten Blick zu schenken. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie es an den Rändern schwarz wurde, als die Flammen darauf zukrochen, um es gierig zu verschlingen: und mit ihm seine wertvolle Fracht.

»Sie sagen also, sie ist nicht hier?« Er wiederholte sich. Ein winziger weißer Fleck tauchte auf seiner Nasenspitze auf. Ich merkte, dass er kurz davor war, die Geduld zu verlieren.

»Nein. Sie ist weggegangen.«

»Und Sie wissen nicht, wohin?«

»Nein. Das hat sie nicht gesagt, wusste es wohl selbst noch nicht genau.«

»Dann habe ich hier meine Zeit verschwendet«, sagte er, wandte sich abrupt zu seinem Wagen um und murmelte dabei irgendetwas Unverständliches vor sich hin.

Das Blut pochte in meinem Kopf. Wem mochte Trudie sonst noch von ihrem Aufenthaltsort erzählt haben? Sie war gerade zwei Tage tot, und schon jetzt konzentrierte sich die Suche nach ihr in unsere Richtung. Angenommen, der Mann hatte Trudies Namen in der Zeitung gelesen? Obwohl sie von zu Hause ausgerissen und bei uns untergetaucht war, gab sie jedermann ihre Adresse. Sie hatte ihm sogar ihren Namen verraten. Zumindest ihren Vornamen. Trudie  –  er hatte nach Trudie gefragt. Vielleicht hatte sie ihren Nachnamen Finch nicht angegeben, sich nur als Trudie vorgestellt oder als Trudie Eccles oder mit einem anderen bescheuerten Namen. Und was, wenn sie sich auch in anderen Antiquitätenläden vorgestellt, mit anderen Händlern gesprochen hatte?

Einen irren Moment lang überlegte ich, ob ich ihn am Gehen hindern sollte: ihn ins Haus locken, mit einem leckeren Essen vergiften und ihn dann neben Trudie begraben. Vielleicht wurde man so zum Massenmörder  –  eine Sache führte unvermeidlich zur anderen, weil es keine Rückkehr gab, wenn man einmal begonnen hatte … Aber ich hatte mein Opfer entkommen lassen. Ich schloss die Haustür und fand mich mit der Tatsache ab, dass ich mich nicht zum Massenmörder eignete.

Simon hatte das Gespräch vom anderen Ende der Diele aus mit angehört. Als ich mich ihm näherte, ging er vor mir in die Küche und fragte, während ich ebenfalls eintrat: »Was wollte er?«

Verdutzt sah ich ihn an, denn er musste jedes Wort gehört haben. Ehe ich jedoch zu einer Antwort ansetzen konnte, kam Danny aus dem Garten herein und sagte, er habe das Wasser abgedreht, doch das Ganze sähe bestimmt besser aus, wenn um den Rand herum einige Pflanzen stehen würden. »Vielleicht sollten wir morgen in die Gärtnerei fahren und ein paar besorgen.«

Das gab mir das Stichwort. »Liegt die Gärtnerei in Richtung Leominster? Ich habe mir nämlich überlegt, es wäre wegen der Rückkehr von Simons Onkel wahrscheinlich das Beste, wenn ich doch noch zu Ceciles Familie fahren würde  –  und von Leominster aus käme ich mit dem Zug weiter.«

»Was redest du da?« Danny versuchte gar nicht erst, seine Verärgerung zu überspielen. Ich erkannte, dass ich ihn mit meinem Plan zu schnell überfallen hatte.

»Ich weiß, ich könnte bei dir wohnen  –  aber so wäre es sicherer.«

»Nein«, entgegnete Danny schroff. »Das wäre es nicht. Wir müssen zusammenbleiben.«

In diesem Moment wurde mir mehr als jemals zuvor bewusst, dass »zusammenbleiben« keine Option war. Ich musste mich von diesem Haus und von Danny komplett befreien. Ich musste eine Möglichkeit finden, dieses schreckliche Geschehen in eine Kammer zu sperren, die ich niemals mehr öffnen würde.

»Gerade war ein Mann da«, berichtete Simon. »Er hat nach Trudie gefragt. Katy hat ihn weggeschickt.«

Danny wandte sich mir zu. »Wer war das?«

»So ein alter Kauz  –  ein Antiquitätenhändler. Trudie war in seinem Laden und hat wegen einer Briefmarke nachgefragt.«

»Was für eine Briefmarke?«

»Puh, keine Ahnung. Irgendeine Briefmarke, die ihre Großmutter ihr vermacht hat. Ist auch egal  –  wir haben sie sowieso verbrannt. Ich habe dem Typ gesagt, dass Trudie nicht mehr hier wohnt.«

Danny stieß einen Pfiff aus. »Scheiße! Fragt sich nur, wie viele Leute noch hier auftauchen und nach ihr fragen werden.«

»Genau das ist der Punkt«, sagte ich. »Wenn wir nicht hier wären, könnten wir auch nicht gefragt werden.«

»Wir müssen hier sein, um die richtigen Antworten zu geben, wenn jemand fragt.«

»Nein«, sagte ich, »ich glaube, das siehst du falsch. Verstehst du denn nicht  –  solange wir alle hier sind, werden wir ständig daran erinnert, was passiert ist. Die Rückkehr von Simons Onkel ist das Beste, was passieren konnte. So muss keiner von uns den restlichen Sommer über hierbleiben, wir können alle woanders hingehen.«

»Du musst bei mir bleiben«, beharrte Danny. »Ich will nicht, dass du nach Frankreich fährst.«

»Das wäre aber das Beste«, wandte ich ein.

Simon hatte den Blick die ganze Zeit über schweigend zwischen uns hin und her wandern lassen. Nun sprach ich ihn direkt an. »Wirst du mich nach Leominster mitnehmen, Si?«

Danny gab ihm keine Gelegenheit zu antworten. »Du fährst nicht«, sagte er. »Das geht nicht. Wir müssen zusammenbleiben. Was ist sonst mit uns  –  mit unserer Zukunft?«

»Es gibt kein uns  –  wir haben keine Zukunft. Siehst du das denn nicht ein? Wenn ich weiterhin mit dir zusammen wäre, würde ich ständig an das, was hier geschehen ist, erinnert werden. Wir haben nur eine Chance, dies alles irgendwann zu vergessen, wenn wir uns voneinander fernhalten  –  und selbst dann …« Ich brach ab, ließ Danny erneut zu Wort kommen.

»Du spinnst ja total. Sag ihr, dass sie spinnt, Si. Wir müssen zusammenbleiben, alles andere ist Blödsinn.«

Ich wandte mich Simon zu, ignorierte Danny bewusst. »Bitte, wirst du mich nach Leominster fahren  –  noch heute Nachmittag oder gleich morgen früh?«

»Tu das nicht«, warf Danny ein. »Sie weiß nicht, was sie redet. Bis morgen hat sie sich wieder eingekriegt.«

Wir sahen Simon an, zwangen ihn, sich zwischen uns zu entscheiden.

»Die Gärtnerei liegt nicht auf dem Weg nach Leominster«, sagte er. Es klang nicht so, als hätte er sich entschieden; es war lediglich eine Feststellung.

Ich interpretierte seine ausweichende Antwort als Absage. »Okay«, sagte ich. »Dann werde ich mich eben allein auf den Weg machen.«

Danny versuchte, mir beschwichtigend den Arm um die Schultern zu legen. »Warum schläfst du nicht einfach eine Nacht darüber?«, schlug er in einem sehr viel freundlicheren Ton vor.

Ich schüttelte ihn ab. »Ich gehe packen.«