6
Die Arbeit am Teich begann einen Tag nach Trudies Eintritt in unsere ménage à trois. Bis zum Ende des Vormittags hatte sich die wahre Größe des Unterfangens herauskristallisiert. Simon hatte den geplanten Umriss mit einer langen Schnur begrenzt, die er mit Steinen fixierte. Das Resultat von zwei Stunden anstrengenden Grabens war ein kleines, unregelmäßiges Loch im Zentrum der Fläche, deren größerer Teil nach wie vor aus unbearbeitetem Erdreich bestand.
Nach einer Pause bei Käsebroten und Bier setzten die Jungs ihre Bemühungen fort, während Trudie sich in die Küche zurückzog und Kartoffeln für unser Abendessen schälte. Um nicht als Faulenzerin dazustehen, holte ich ein Staubtuch aus dem Schrank und ging in den vorderen Bereich des Hauses zu dem Zimmer, das wir »die Bibliothek« getauft hatten. Ich begann mit den Gegenständen auf dem Schreibtisch und nahm mir dann den Schreibtisch selbst vor. Auf meinem Staubtuch bildete sich eine Schicht bleicher Staubflocken, die ich auf den Teppich schüttelte, da ich nicht wusste, was ich sonst damit tun sollte. Anschließend wandte ich meine Aufmerksamkeit einem kleinen Bücherregal zu, das unter dem Fenster stand. Die Bücher hatten verblichene braune, blaue und schwarze Buchrücken mit goldgeprägten Titeln. Wahllos zog ich eines heraus und schlug es auf – winzige schwarze Buchstaben auf steifem Papier, vergilbt zu einem edlen Farbton, der an Milchkaffee erinnerte; da und dort waren Flecken in einem dunkleren Braun, als hätten sich manche Kaffeekörnchen nicht richtig aufgelöst. Jemand hatte auf das Deckblatt mit schwarzer Tinte Für meine Enkeltochter Emily von Tante Grace geschrieben. Ich stellte das Buch wieder zurück neben Reisen durch Persien und Kurdistan und arbeitete mich weiter nach unten, indem ich flüchtig über die Bücher in den beiden oberen Regalreihen wischte und mich dann auf den rot-schwarzen Teppich kniete, um besser an die unterste Reihe zu gelangen.
In der unteren Regalreihe lag ein Stapel Zeitschriften, nur unerheblich jünger als ihre gebundenen Gefährten, und die oberste war aufgeschlagen, als hätte jemand darin gelesen und es nicht geschafft, die Lektüre zu beenden, bevor die Zeitschrift weggeräumt wurde. Der erste Artikel trug die Überschrift Ein faszinierendes örtliches Geheimnis, und als ich die Zeitschrift herauszog, um einen besseren Blick darauf zu haben, sah ich, dass das dazugehörige Foto mit Die örtliche Sehenswürdigkeit Bettis Wood überschrieben war.
Das Staubtuch in meiner Hand vergessend, setzte ich mich hin und las.
Ludlow Castle hat seine Weiße Frau, und von Hergest Hall erzählt man sich, es werde von Black Vaughans Geist heimgesucht, aber wie viele Leute wissen, dass auch Bettis Wood einen eigenen Geist hat? Seit Agnes Payne in einer heißen Sommernacht im Jahre 1912 im Wald ermordet wurde, wird regelmäßig von dort auftretenden merkwürdigen Erscheinungen und Geräuschen berichtet, und die Einheimischen meiden den Wald nach Einbruch der Dunkelheit.
Agnes Payne wohnte mit ihrem Gatten Tom und ihren drei kleinen Kindern in einem etwa eine Meile vom Wald entfernten Cottage. Tom war der örtliche Schreiner und stand im Ruf eines Frauenhelden. In jenem Jahr hatte er den ganzen Sommer über für eine wohlhabende Witwe namens Martha Stokesby gearbeitet, und will man dem Dorfklatsch glauben, so waren er und Mrs Stokesby mehr als nur gute Freunde geworden.
Am Abend des 13. August beendete Tom die Arbeit an Mrs Stokesbys Haus etwas später als üblich und kehrte auf dem Heimweg ins Gasthaus zu einem Glas Bier ein. Später an diesem Abend beobachtete eine Nachbarin, wie Agnes das Cottage verließ. Es war nicht das erste Mal, dass sie allein zu einem nächtlichen Spaziergang aufbrach, aber es sollte das letzte Mal sein.
Laut Tom Paynes Aussage fand er bei der Ankunft zu Hause seine Kinder schlafend vor, doch seine Gattin war unerklärlicherweise fort. Er ging ein Stück die Straße hinunter, kehrte jedoch, als er sie nicht fand, ins Cottage zurück. Beim ersten Morgengrauen weckte er seine nächsten Nachbarn und durchkämmte mit ihnen die Gegend. Agnes wurde in Bettis Wood gefunden, erdrosselt mit einem Seidenschal. Payne sagte aus, der Schal habe seiner Frau nicht gehört, und seine Herkunft wurde nie aufgeklärt.
Tom Payne war der Hauptverdächtige und hatte kein Alibi vorzuweisen – doch dann tauchte ein neuer Zeuge auf, ein Hausierer namens Joel Rimey, der in der Mordnacht am Waldrand kampiert hatte. Rimey sagte aus, er habe eine Frau in Gesellschaft eines Mannes beobachtet, den er auch beschreiben könne. Die beiden seien auf einem Fußweg in den Wald gegangen, an einer Stelle unweit jener, wo man Agnes gefunden hatte. Seine Beschreibung der Frau traf genau auf Agnes zu, bis hin zu ihrem paisleygemusterten Schultertuch; doch der Mann, den er beschrieb – ein bärtiger Mann mit dunklem Mantel und Hut –, hatte nichts mit Tom Payne gemein, der glatt rasiert war.
Es kam nie zu einer Festnahme, und das Geheimnis bleibt bis heute ungelöst, aber manchmal, spätnachts …
»Was hast du da?«, fragte Trudie.
Ich stieß einen kleinen Schrei aus. »Gott, hast du mich erschreckt. Ich lese gerade diese Zeitschrift, die ich gefunden habe. Es geht um den Wald da hinten. Dort soll es spuken.«
»Wow!«, rief Trudie. »Zeig mal her.«
Ich überflog den letzten Satz, ehe ich ihr die Zeitschrift reichte; dann wartete ich schweigend, bis sie den Artikel gelesen hatte. Als sie fertig war, sah sie mich mit großen Augen an. »Deshalb also«, sagte sie.
»Was?«
»Seit ich hier bin, macht mir der Wald so ein komisches Gefühl – ich kann ihn von meinem Zimmerfenster aus sehen, und manchmal kommt es mir vor, als würde mich irgendetwas dorthin ziehen. Das muss sie sein – Agnes.«
»Jetzt mach mal halblang«, sagte ich. »Bis jetzt hast du das noch nie erwähnt.«
Trudie zuckte die Achseln, als wäre ihr egal, ob ich ihr glaubte oder nicht. »Ich habe es dir doch erzählt – ich habe eine besondere Gabe.« Sie glitt aus dem Zimmer, noch ehe ich etwas erwidern konnte.
Wieder meinem Staubwischen überlassen, wedelte ich ein paarmal flüchtig um die Bilderrahmen herum, bis mir plötzlich einfiel, dass ich Trudie hätte warnen sollen, sie möge Danny gegenüber den Mord an Agnes Payne besser nicht erwähnen. Ich ging in die Küche, doch die geschälten Kartoffeln lagen schon in ihrem mit Wasser gefüllten Topf, und Trudie hatte sich aus dem Staub gemacht.
Als ich sie im Garten aufspürte, war es bereits zu spät. Nachdem sie mich verlassen hatte, war sie offenbar schnurstracks in die Küche zurückgekehrt, hatte für die Arbeiter eine Kanne Tee aufgebrüht und war damit nach draußen gegangen. Das Haus von Simons Onkel war so altmodisch ausgestattet, dass es keine robusten Becher, sondern nur Tassen mit Untertassen in langweiligem Grün und Weiß gab und ein feines Porzellanservice mit einem Muster aus rosafarbenen Rosen. Letzteres kam mir gefährlich dünn vor, aber natürlich war es das Service, das Trudie für die nachmittägliche Teepause im Garten ausgewählt hatte.
Als ich mich näherte, hörte ich sie sagen: »… und jetzt spukt ihr Geist im Wald herum. Ich glaube, sie wird niemals Frieden finden, solange die Tat nicht gesühnt ist.«
»Das ist nicht mehr sehr wahrscheinlich«, erwiderte Simon. »Wann, sagtest du, ist es passiert – 1912? Das war vor sechzig Jahren! Der Typ wird mittlerweile tot sein.«
»Wenn es ein Typ war«, bemerkte Trudie. »Da ist noch die andere Frau.«
»Sagtest du nicht, sie sei beobachtet worden, wie sie mit einem Mann in den Wald ging?«
»Gut, ja – aber es könnte auch eine als Mann verkleidete Frau gewesen sein.«
»Es könnte ihr Mann gewesen sein, der sich einen falschen Bart angeklebt hat«, sagte ich, während ich mich ins Gras neben Danny warf, der sich zu mir beugte und mich mit einem Kuss auf die Wange begrüßte.
»Glaube ich nicht«, sagte Trudie. »Ich meine, ihren eigenen Ehemann hätte sie ja wohl erkannt.«
»Ein Grund mehr für sie, mit ihm in den Wald zu gehen.«
»Aber warum der falsche Bart?«
»Warte«, sagte Simon. »Ich hab’s. Was ist mit dem Wilderer? Vielleicht war er es. Und hat dann behauptet, er habe sie mit jemand anderem gesehen, um alle auf die falsche Fährte zu locken.«
»Hausierer«, warf ich ein. »Er war Hausierer.«
Insgeheim war ich einfach nur erleichtert über das eher scherzhafte Interesse, das die Geschichte hervorgerufen hatte – denn bis dahin hatte ich mich an die Vermeidenvon-bestimmten-Themen-Devise gehalten. Ich war nicht gerade auf den Spuren des speziellen Tons gewandelt, hatte aber sorgsam darauf geachtet, weder plötzliche Todesfälle noch den Timmins-Preis zu erwähnen. Vermutlich war ich übervorsichtig, doch die Umstände von Dannys Preisverleihung waren von einer Tragödie überschattet gewesen, und ich spürte, wie unangenehm ihm das war. Der Preis wurde von der Fakultät jährlich an einen Geografiestudenten verliehen, der in den Examina, die die Mitte des Studiengangs markierten, die höchste Punktzahl erreicht hatte. In der Endphase der Prüfungen war allgemein bekannt gewesen, dass in diesem Jahr nur zwei Studenten ernsthaft im Rennen waren – Danny Ivanisovic und ein Mädchen namens Rachel Hewitt.
Rachel Hewitt war ein wahres Glückskind: diese seltene Mischung aus analytischem Verstand und freundlichem Wesen – beliebt, lebhaft, klug. Als sie eines Montagmorgens nicht in der Vorlesung erschien, waren alle überrascht, aber nicht übermäßig beunruhigt. Rachel hatte erwähnt, sie spiele mit dem Gedanken, am Wochenende zu ihren Eltern zu fahren, und als Freunde an ihre Tür im Studentenwohnheim klopften und keine Antwort erhielten, nahmen sie an, sie habe nach dem Besuch am Sonntagabend ihren Zug zurück verpasst. Diese Theorie geriet freilich ins Wanken, als sie auch am Montagnachmittag nicht auftauchte, und am Dienstagabend war jemand besorgt genug, um bei ihren Eltern anzurufen – die sagten, Rachel sei überhaupt nicht da gewesen. Nun wurde der Sicherheitsdienst informiert. Als man Rachels Tür mit dem Hauptschlüssel öffnete, fand man sie auf dem Bett liegend vor, noch immer in derselben Kleidung, in der man sie am vergangenen Freitag gesehen hatte. Sie war erwürgt worden.
Ihr Zimmerfenster, das nur ein Stockwerk hoch lag, stand offen. Es befand sich in einem Gebäudetrakt unmittelbar über einem Flachdach – ein leichter Zugangs- und Fluchtweg für ihren Mörder; wenngleich er genauso gut über den Flur hätte verschwinden können. Die Türen hatten Yale-Schlösser, die zufielen, wenn man keinen Keil dazwischenschob.
In der letzten Zeit hatte es Meldungen über eine verdächtige Person gegeben, die sich auf dem Campus herumtrieb. Ein Mädchen gab an, ein schemenhaftes Gesicht am Fenster gesehen zu haben, als sie unter der Dusche stand; jemand anders hatte spätabends einen Typ gesehen, der bei den geparkten Autos herumlungerte. Während des restlichen Jahres patrouillierten männliche Studenten nachts über das Gelände, entdeckten aber nichts Auffälliges. Die Polizei verhörte Dutzende möglicher Verdächtiger und Zeugen, doch die Ermittlungen schienen ins Leere zu laufen. Die ganze Fakultät war in heller Aufregung, und natürlich erhielt Danny den verdammten Timmins-Preis, den er, wie Simon hervorhob, wahrscheinlich ohnehin gewonnen hätte. Doch Rachel Hewitts Tod verlieh der ganzen Angelegenheit einen bitteren Beigeschmack und ließ jegliche Art von Feier als unangemessen erscheinen. Für meine Eltern war diese Geschichte die Bestätigung für ihren weisen Entschluss, darauf zu beharren, dass ich zu Hause in Birmingham studiere. Zu den Gefahren der laschen Moral in Studentenwohnheimen konnten nun auch die Gefahren der laschen Sicherheitsvorkehrungen hinzugefügt werden. Sie hatten immer Angst gehabt, ihre Katy könnte, behielte man sie nicht scharf im Auge, in irgendwelche Schwierigkeiten geraten.
Danny und Simon verloren bald das Interesse an der Geschichte von Agnes Payne, und keiner von beiden erwähnte Rachel Hewitt – es gab auch wirklich keinen Grund, weshalb sie das tun sollten. Sobald sie ihren Tee getrunken hatten, nahmen sie ihre Grabungsarbeiten wieder auf, und keiner wollte der Erste sein, der zugab, dass er genug für heute hatte oder dass die Arbeit anstrengender war als ursprünglich gedacht. Doch als ich später am Nachmittag zu ihnen hinausging, um ihnen mitzuteilen, dass das Essen gleich fertig sei, streckte Simon Danny seine mit Blasen übersäten Handflächen und die abgebrochenen Fingernägel entgegen.
»Herrgott«, sagte Danny, »sei doch nicht so ein Mädchen.«
Beide lachten, aber ich sah Simon an, dass er sich in Wahrheit über seine zerschundenen Hände ärgerte.
»Los, kommt«, sagte ich. »Hört mit dem Rumgeblödel auf. Das Mahl ist angerichtet.« Das Wort »Mahl« war ein Kompromiss, weil ich wusste, dass Simon es Dinner nannte, wohingegen es für mich einfach ein warmes Abendessen war.
»Wir kommen gleich«, sagte Danny. »Aber du siehst auch zum Anbeißen aus.« Mit einer kräftigen Bewegung zog er mich an sich, fing an, an meinem Hals zu knabbern, und kitzelte mich, während ich kreischte und erfolglos versuchte, mich aus seiner Umarmung zu befreien.
An diesem Abend saßen wir im Garten, bis es stockfinster war. Danny spielte auf der Gitarre, und wir sangen: manchmal alle zusammen, manchmal nur er allein.
»Du hast eine irre Stimme«, sagte Trudie zu ihm. »Und du siehst gut aus. Ich wette, du könntest Popstar werden. Simon, meinst du nicht, dass Danny sich bei Tops of the Pops toll machen würde?«
Simon gab keine Antwort, weil er gerade eine Spinne vertrieb, die Interesse an seiner Bierdose bekundete.
»Mach weiter«, drängte Trudie. »Sing noch etwas.«
»Sollen wir die Mädels mit Bridge over Troubled Water beglücken, Si?«, schlug Danny vor.
Ob sie nun Simon and Garfunkel oder das Komikerpaar Morecambe und Wise nachahmten, sie waren ein perfekt aufeinander eingespieltes Duo. Sie kannten sich schon sehr lange – eine enge Freundschaft mit ihren eigenen privaten Witzen, was unvermeidlich zur Folge hatte, dass sie oft auf Menschen oder Ereignisse Bezug nahmen, von denen ich noch nie gehört hatte. Ich versuchte verzweifelt, mich nicht darüber zu ärgern, dass Simon so viel mehr über Danny wusste als ich, rief mir immer wieder ins Gedächtnis, dass es ohne Simon auch kein Haus eines reichen Onkels gäbe und ohne das Haus keine Gelegenheit, den ganzen Sommer mit Danny zu verbringen. Doch wann immer Simon in der Nähe war, wurde ich das Gefühl nie ganz los, dass ich in unserem Trio der Neuankömmling war. Und deshalb wurmte es mich auch maßlos, als ich am Ende unseres ersten Tages als Quartett feststellte, dass Trudie sich benahm, als würde sie die anderen schon seit Jahren kennen.