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Trudies Ankunft warf von Anfang an einen Schatten auf unsere kleine Gruppe. Auch im wörtlichen Sinn. Sie tauchte eines Nachmittags auf, als wir am Strand saßen, und stand zwischen uns und der Sonne.

Das Erste, was ich von ihr bemerkte, waren ihre Füße. Nackte, braune Füße  –  eher sonnengebräunt als schmutzig  –, die unter der Spitzenbordüre am Saum ihres Maxirocks hervorschauten. Jeder ihrer Zehennägel war in einer anderen Farbe lackiert: Scharlachrot, Schwarz, Pink. Auf einem Nagel schimmerte hellblauer Glitzerlack  –  der Glamrock-Stil hatte inzwischen auch an den Stränden von Wales Einzug gehalten.

»Für einen Moment dachte ich, hier sitzt Cat Stevens«, sagte sie. Sie rollte ihr R in einem weichen, verschwommenen Akzent, den ich nicht richtig zuordnen konnte. Er erinnerte mich an duftende Sommerrosen und Tee mit Scones, Marmelade und Sahne.

Danny hielt mit seinem Geklimper inne, und alle drei blickten wir zu ihr auf. Wenn ich mir die Szene jetzt noch einmal vergegenwärtige, sehe ich Trudie turmhoch über uns aufragen; eine hohe, dunkle Gestalt gegen das wolkenlose Blau. Ich kann die Sonnenstrahlen sehen, die um ihren Kopf herum flimmerten  –  und hinter meiner Stirn setzt Gewitterleuchten ein. Natürlich entspricht das nicht der Situation, wie sie wirklich war. Ich konnte Trudie nicht richtig sehen, weil ich meine Sonnenbrille vergessen hatte. Zweifellos lag es am Fehlen dieser dummen Sonnenbrille, dass mir alles an diesem Tag so unwirklich hell erschien. Für alle anderen war es einfach nur ein herrlicher Tag am Meer.

Danny gefiel der Cat-Stevens-Spruch natürlich. Er sah ihm tatsächlich ein wenig ähnlich  –  und obgleich er es immer leugnete, kokettierte er mit dieser Ähnlichkeit, indem er sich einen kleinen Ziegenbart wachsen ließ. Er hatte das gleiche dunkle Haar und die gleichen melancholischen Augen wie der Sänger. Eine Menge Leute sprachen ihn darauf an. Er und Trudie fingen sofort ein Gespräch an, aber ich war wegen des gleißenden Lichts im Nachteil: gezwungen, den direkten Blick auf den Neuankömmling zu vermeiden, während ich gleichzeitig eine vage, unangenehme Eifersucht darüber verspürte, dass sie in unsere Clique eindrang. Es lag nicht nur daran, dass ich bis zu dem Zeitpunkt das einzige Mädchen war. Selbstbewusste Menschen lösten generell ein Gefühl von Unbehagen bei mir aus. Es wäre mir genauso unmöglich gewesen, auf eine Gruppe aus drei mir völlig fremden Menschen zuzumarschieren, wie mir Flügel wachsen zu lassen und über die Dünen zu fliegen. Aber Trudie  –  Trudie war da völlig anders. Binnen weniger Minuten hatte sie sich neben uns im Sand niedergelassen und sang im Duett mit Danny. Ein Liebeslied, natürlich, was sonst? Irgendein Anne-Murray-Song über ein Kind, das in Liebe empfangen wurde.

Ich wollte ihr ein Signal senden  –  irgendeine beiläufige, besitzergreifende Geste, um ihr klarzumachen, dass Danny bereits vergeben war  –, aber das ist nicht so einfach, wenn das Objekt deiner Zuneigung im Schneidersitz am Strand sitzt und eine Akustikgitarre bearbeitet. Das verflixte Instrument stand zu beiden Seiten von Dannys Körper ein Stück über und verhinderte dadurch jede unauffällige Annäherung. Abgesehen davon wollte ich mir auch keine Blöße geben und uncool erscheinen, und so wartete ich den rechten Moment ab und spielte das dankbare Publikum, während ich sie verstohlen musterte.

Sie war größer als ich, und ihr Haar war viel dunkler, aber ebenso wie ich trug sie es der damals angesagten Mode entsprechend: eine lange Mähne mit Mittelscheitel, die in einem Wasserfall bis zur Rückenmitte fiel und in einem gesplissten Gezipfel endete. Sie hatte eine bestickte indische Baumwollbluse über ihrem bodenlangen Baumwollrock an und zwei Taschen dabei, die sie beim Hinsetzen einfach neben sich in den Sand fallen ließ: eine mit Troddeln verzierte griechische Hirtentasche in Blau- und Brauntönen und eine kleine Gobelin-Reisetasche  –  was als Gepäck für einen Strandbesuch irgendwie seltsam anmutete.

Ich merkte, dass Simon sie ebenfalls musterte. Normalerweise, dachte ich, müsste sich Simon mit Trudie für den Rest des Tages zusammentun. Dann hätten wir eine harmonische Pärchenkonstellation. Es wäre besser, wenn Simon eine Freundin hätte. Es gab keinen erkennbaren Grund, warum er bei Mädchen nicht ankommen sollte, denn er sah keinesfalls schlecht aus. Er hatte dieses glatte blonde Haar, das zur damaligen Zeit sehr gefragt war, blaue Augen und ein offenes Lächeln. Er war nachdenklich und auf eine fast schon altmodische Art höflich; darüber hinaus vermittelte er einen Eindruck von Sanftheit, weil er ziemlich leise redete und eine ungewöhnliche Sprechweise hatte  –  jedes Wort sorgfältig formuliert, als hätte er es eigens aus einem riesigen Lexikon in seinem Kopf herausgesucht. Er wirkte auch sehr ruhig, bis man ihn besser kennenlernte, was unvermeidlich zur Folge hatte, dass man Danny eher wahrnahm als ihn.

Dennoch war es Simon, der Trudie fragte: »Wohnst du hier in der Gegend?«, und auf ihr Nein hin nachhakte: »Wo denn dann?«, um die lässige Antwort zu erhalten: »Da und dort. Nirgendwo speziell.«

Uns irritierte das überhaupt nicht. Es entsprach sehr dem Zeitgeist von 1972, das Image eines geheimnisvollen Hippie-Mädchens zu pflegen, das von Ort zu Ort zog, obwohl man in Wahrheit ein Schulmädchen aus Bristol war, mit einem Samstagsjob bei Woolworth und der Aussicht auf eine ordentliche Bankkarriere, sobald man die höhere Schule absolviert hätte.

Als Trudie uns die gleichen Fragen stellte, erhielt sie natürlich ähnlich nebulöse Antworten. Wir sagten, wir seien aus Herefordshire hierhergefahren, wo wir gegenwärtig zusammen in einem großen Haus mitten in der Pampa lebten. Wir haben womöglich sogar den Eindruck entstehen lassen, es handele sich um eine Art Hausbesetzung oder eine Kommune. Ich glaube nicht, dass unsere Lebensumstände näher spezifiziert wurden, und ganz sicher wurde die Tatsache nicht erwähnt, dass wir in Wahrheit Studenten waren, die dem banalen Alltag aus Geografie-Exkursionen und Lehrerausbildung in ihren Ferien nur vorübergehend entflohen waren.

Letzten Endes lief es darauf hinaus, dass wir Trudie kaum eine halbe Stunde kannten, ehe sie beiläufig vorschlug, »per Anhalter« bei uns mitzufahren. Eine Alarmglocke begann in meinem Kopf zu schrillen, schwach, aber beharrlich. Ich unterdrückte sie. Was konnte es schon schaden, diesem Mädchen einen Lift zu geben (obwohl eine demonstrative Geste der Zuneigung zwischen mir und Danny unumgänglich war, um jegliches Missverständnis von vornherein zu vermeiden). Gleichwohl blieb der Zweifel bestehen  –  wir kannten sie nicht, und sie kannte uns nicht. Meine argwöhnische Mutter hatte mir eingebläut, niemals bei Fremden mitzufahren, geschweige denn, Fremde um einen Lift zu bitten. Umso mehr Grund, es zu tun, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Du bist doch kein Kind mehr, oder?

Simon bot an, für uns alle Eiscreme zu holen. Er sprach es Icescream aus. Das ist Birmingham-Slang. Trudie war begeistert. Natürlich redete Simon nicht in diesem Slang: Seine Ausdrucksweise war vielmehr geschliffen genug, um als »Snob« verspottet zu werden, aber wir sagten immer Icescream  –  es war ein Insider-Gag.

Danny sagte, er wolle Schokomint, und ich bat um Tuttifrutti. In jenen Prä-Magnum-Tagen, als das Angebot an Eiscreme kaum über Vanille und Erdbeere hinausging, war Tuttifrutti noch immer ein wenig exotisch.

»Ooh  –  ich finde es süß, wie du das sagst«, rief Trudie aus. »Tuttifrutti  –  los, sag es noch einmal.«

Der Witz ging eindeutig auf meine Kosten, und ich fand es gar nicht komisch, wie sie meinen Midland-Akzent nachäffte. »Er weiß, was ich meine«, erwiderte ich und versuchte mit einem Lächeln meine Verärgerung zu überspielen.

»Komm schon, Katy«, stimmte Danny mit ein. »Sag Tuttifrutti für uns.«

»Tüttüfrüttü«, sagte ich übertrieben affektiert. »Warte, Si, ich helfe dir tragen.«

Simon und ich standen auf und stapften durch den weichen Sand am oberen Teil des Strandes. Barfuß durch den Sand zu gehen wie Trudie war zweifellos am klügsten, und nach wenigen Schritten zog ich meine Badeschlappen aus und kam sofort besser voran.

Wir stellten uns an der kurzen Schlange vor dem Eisstand an.

»Meinst du wirklich, wir sollten Trudie einen Lift geben?« , fragte ich. »Wir wissen doch gar nichts über sie. Wir wissen nicht einmal, wie alt sie ist.«

Bei Simon konnte man davon ausgehen, dass er generell einen vernünftigeren Standpunkt vertrat als Danny. Danny neigte dazu, den Augenblick mit jenem selbstbewussten Enthusiasmus eines Menschen zu umarmen, dem Fortuna wohlgesinnt ist. Simon überlegte kurz, ehe er sagte: »Ich glaube nicht, dass sie so alt ist, wie sie aussieht  – aber ich nehme an, sie ist um die achtzehn.«

Es war halb als Frage formuliert, und so gab ich vor, darüber nachzudenken, während ich mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne spähte, um zu sehen, was sie und Danny gerade machten. »Vielleicht sollten wir sie fragen«, schlug ich vor.

»Mmm.« Wir waren die nächsten in der Schlange, und Simon war ganz von der Aufgabe beansprucht, Münzen aus seiner Jeanstasche herauszufischen  –  kein leichtes Unterfangen bei derart eng sitzenden Jeans.

»Wenn sie noch Schülerin ist, könnten wir Probleme kriegen.« In meinen Worten schwang all die geheuchelte Sorge von jemandem mit, der selbst noch nicht mal die zwanzig erreicht hatte, . »Wir wollen doch nicht, dass es heißt, wir hätten sie entführt oder so was.«

»Aber sie kommt doch aus freien Stücken mit. Es war ihre Idee. Einmal Schokomint, einmal Rumrosine und zweimal Tuttifrutti, bitte«, bestellte er und fügte gutmütig hinzu: »Ich werde sie fragen, wenn du dich damit wohler fühlst.«

Wir konnten nicht länger über die Angelegenheit diskutieren, denn sobald Simon die ersten beiden Eistüten erhielt, trat er den Rückweg an. Also trottete ich hinter ihm her über den Strand, wobei das Eis der beiden anderen Eistüten auf meine Finger tropfte.

»Iih«, sagte ich und leckte meine Hände ab. »Das klebt.«

»Hey, Trudie«, sagte Simon und gab ihr ihre Eistüte. »Wie alt bist du überhaupt?«

Ach, diese wundervolle Mischung aus Taktlosigkeit und Unschuld, wie sie nur jungen Männern zu eigen ist!

Trudies Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Alt genug«, sagte sie mit einem Augenzwinkern, was den anderen ein Grinsen entlockte.

Also war die Sache erledigt. Wir würden Trudie einen Lift nach Herefordshire geben. Ihr Schicksal war bei einem Tuttifrutti-Eis besiegelt worden.