9
Der Abend, als die Vase zerbrach, markierte den ersten offenkundigen Bruch in unserer kleinen Gruppe. Bis dahin war es uns allen gelungen, richtigen Streitigkeiten auszuweichen. Wie Kinder, die fest entschlossen sind, auf einer Geburtstagsparty ihre besten Manieren an den Tag zu legen, wollte keiner von uns Ärger machen und »die Stimmung verderben«; und bis dahin hatten wir auch sorgfältig darauf geachtet, auftretende Unstimmigkeiten sofort zu entkräften, indem wir einen Rückzieher oder einen Witz machten. Nur haben leider selbst die besten Partymanieren eine begrenzte Lebensspanne.
Ich war wegen der Entscheidung, eine Séance abzuhalten, in heller Aufregung, und der Anblick von Trudie, wie sie um Danny herumschwänzelte, als sie die Teller am Ende unserer Mahlzeit einsammelte, brachte mich noch mehr auf die Palme. Schweigend folgte ich ihr in die Küche. In der Regel machten wir uns keine Mühe mit Nachtisch, doch früher am Tag hatte ich beim Einkaufen eine Packung Vanilleeis mitgenommen, die ich nun aus dem Kühlschrank holen wollte, während Trudie das Geschirr abstellte. Sobald ich den Kühlschrank öffnete, sah ich, dass das Eis auf das Gitter statt ins Eisfach gelegt worden war. Aus der Packung waren bereits dicke Kleckse Vanilleeis ausgetreten, die auf die darunterliegenden Lebensmittel tropften.
»Trudie, du Idiotin, du hättest das Eis ins Eisfach stellen müssen.«
»Ich habe das Eis nicht eingeräumt.«
»Tja, ich auch nicht.«
»Reg dich ab. Das schmeckt auch so.«
»Von wegen. Es ist total zerlaufen.«
Simon kam herein. »Was ist denn los?«
»Trudie hat das Eis auf das Gitter statt ins Eisfach gelegt«, sagte ich anklagend.
»Das war ich nicht«, wiederholte Trudie.
»… und jetzt ist es völlig ungenießbar.«
Simon griff nach einer Flasche Bier und öffnete sie mit einer schwungvollen Bewegung. »Das ist doch kein Weltuntergang.«
»Aber eine irre Geldverschwendung«, wandte ich ein.
»Nun, es ist ja nicht nur dein Geld, oder?«, entgegnete Simon mit ungewohnter Schärfe. »Und ich glaube auch nicht, dass Trudie das Eis ins Fach gestellt hat.«
Im ersten Moment war ich so verdutzt, dass mir die Worte fehlten. Trudie war mit dem schmutzigen Geschirr beschäftigt, und Simon öffnete eine zweite Flasche Bier. Beide standen mit dem Rücken zu mir.
»Aber Trudie hat die Einkaufstaschen ausgeräumt.« Sogleich wünschte ich, ich hätte das nicht gesagt. Ich hörte selbst, wie ich in ihren Ohren klingen musste – ein bockiges Kind, das versucht, sich herauszureden, obwohl jeder weiß, dass es schuld ist.
»Das wäre nicht weiter verwunderlich«, sagte Simon. »Schließlich macht Trudie die gesamte Hausarbeit.«
»Das ist nicht fair«, protestierte ich. »Heute Abend habe ich gekocht.«
»O ja, stimmt«, sagte Simon. »Unser exquisites Mahl hatte ich schon völlig vergessen – verbrannte Fischstäbchen und Bohnen – die Ausnahme, die die Regel bestätigt.«
Er marschierte aus der Küche, und Trudie rauschte hinter ihm her, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen. Aufgewühlt blieb ich zurück. Ich wischte das geschmolzene Eis aus dem Kühlschrank und ließ mir dabei so lange wie möglich Zeit. Schließlich kam Danny herein, um zu sehen, wo ich blieb.
»Was haben die anderen über mich gesagt?«, fragte ich.
»Nichts. Wieso?«
»Das Eis ist geschmolzen. Ich sagte, das sei Trudies Schuld, und daraufhin ist Simon auf mich losgegangen.«
Dannys besorgter Ausdruck wich einem Grinsen. »Ist das alles? Na komm, wegen einem bisschen geschmolzenen Eis musst du doch nicht weinen. Simon hat sich vermutlich nur für Trudie eingesetzt, weil sie ihm schöne Augen macht. Denk nicht weiter darüber nach.«
»Aber …«
»Kein Aber. Komm, du liegst mindestens drei Biere hinter uns zurück. Simon und Trudie sind in Ordnung. Du solltest dir so unwichtiges, blödes Zeug nicht so zu Herzen nehmen.« Er umarmte mich, und wir gingen hinaus. Während wir Hand in Hand über den Rasen spazierten, überlegte ich, dass er, was Trudie anging, recht hatte. Es stimmte, sie hatte Simon von Anfang an angehimmelt – ihr kokettes Verhalten gegenüber Danny war lediglich ein Trick, um Simon eifersüchtig zu machen. Als wir uns den beiden näherten, grapschte Simon gerade spielerisch nach ihr, und Trudie sprang auf und rannte, kreischend vor Lachen, auf das Haus zu. Simon rappelte sich hoch und folgte ihr. Er konnte viel längere Schritte machen und hatte Trudie bald an den Rand des Rosenbeets getrieben, das sie mit ihren bloßen Füßen nicht betreten wollte.
»Komm, Danny!«, rief er. »Wir schmeißen sie in unsere Grube.«
Danny schrie als Ausrede zurück, er sei zu müde, und so packte Simon Trudie und schleppte sie quer über den Rasen, während Trudie zappelte und kreischte, obwohl sie eindeutig jeden einzelnen Augenblick genoss. Sie plumpsten uns gegenüber ins Gras und begannen Witze über Gärtnerjungen und Küchenmädchen zu reißen. Ich versuchte zu lächeln und gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber im Inneren fühlte ich eine wachsende Unsicherheit. Ich war einer der ursprünglich drei Musketiere gewesen, doch meine Wahrnehmung bezüglich unserer jeweiligen Stellung innerhalb der Gruppe war erneut erschüttert worden.
Einen Trost gab es freilich: Wenn Danny recht hatte, legte sich Trudie einzig und allein wegen Simon derart ins Zeug. Am folgenden Tag beobachtete ich Trudie und Simon, aber ungeachtet Dannys beruhigender Worte konnte ich nicht wirklich einschätzen, wie die Dinge zwischen ihnen standen. Einerseits zogen sie sich zum Reden oft zu zweit in den Garten zurück, andererseits war kein Knistern zwischen ihnen zu spüren. Trudie berührte Simon zwar immer wieder einmal am Arm, aber das war nicht mehr als eine freundschaftliche Geste. Ich beruhigte mich damit, dass es bei zwei gut aussehenden Menschen, die sich obendrein prächtig zu verstehen schienen, nur eine Frage der Zeit sei, bis ihre Beziehung eine andere Ebene erreichen würde. In der Zwischenzeit behielt Mrs Geheimnisvoll ihre Rolle bei; denn obwohl Trudie mittlerweile eine Menge über uns erfahren hatte, blieb sie selbst ein Rätsel und antwortete auf unsere Fragen nach wie vor äußerst vage. »Ich ziehe einfach herum«, sagte sie einmal. »Ich bin von überall und nirgends. Wie in dem Song.«
Als ich schließlich einen Hinweis auf Trudies Hintergrund erhielt, geschah das aus heiterem Himmel. Die verblüffende Enthüllung fand auf dem Bürgersteig vor der Buchhandlung W. H. Smith in Hereford statt. Wir waren an diesem Nachmittag alle vier in die Stadt gefahren, um Ersatz für Dannys gerissene Gitarrensaite zu besorgen. Während Danny und Simon den Einkauf im Musikgeschäft erledigten, nutzte Trudie die Gelegenheit, kurz bei W.H. Smith wegen einer Zeitschrift vorbeizuschauen. Im Laden war es voll, und so wartete ich draußen vor der Tür, nahm mir müßig eine Zeitung vom Ständer und blätterte sie flüchtig durch.
Der Schock kam auf Seite fünf. Wachsende Sorge um die vermisste Schülerin Trudie Finch. Es war das Foto, das meinen Blick auf sich gezogen hatte. Ein normales Schulfoto, auf dem Kopf und Schultern eines Mädchens in Schuluniform – Pullover mit V-Ausschnitt, Bluse, gestreifte Krawatte – zu sehen waren. Das lange dunkle Haar war zu zwei Rattenschwänzen hochgebunden. Es war unverkennbar Trudie.
Genau diesen Moment wählte sie, um unbekümmert aus dem Laden herauszuschlendern. Ich brachte kein Wort hervor, deutete nur auf das Foto. Trudie blieb völlig ruhig. Sie nahm mir die Zeitung aus der Hand, faltete sie zusammen und schob sie in den Ständer zurück. Dann fasste sie mich sanft am Arm und dirigierte mich ein paar Meter die Straße hinunter.
»Tu so, als hättest du das nicht gesehen«, sagte sie.
»Aber ich habe es gesehen.«
»Vergiss es einfach. Wenn du es nicht gesehen hast, hat sich nichts geändert und du brauchst dir keine Gedanken darüber zu machen oder es den anderen gegenüber zu erwähnen.«
»Hast du keine Angst, dass dich jemand erkennen könnte, wenn du ständig in die Stadt fährst?«
Trudie zuckte die Achseln. »Von einem Schulfoto? Jetzt mach aber mal halblang. Du verrätst mich nicht, oder? Du bist doch meine Freundin.«
»Klar bin ich das«, sagte ich. »Aber …«
Sie packte mich am Arm und legte den Finger auf die Lippen. »Schhh.« Sie hatte die Jungs erspäht, die nur wenige Schritte entfernt aus dem Musikgeschäft kamen. Für weitere Diskussionen war jetzt keine Zeit mehr. Ohne ein Wort oder eine Geste des Einverständnisses zu geben, war ich unversehens zu ihrer Komplizin geworden.
Ich nehme an, es hat etliche Dinge gegeben, die ich an dieser Stelle hätte sagen oder tun können – und irgendetwas davon hätte vielleicht zu der sicheren Heimkehr der vermissten Schülerin Trudie Finch geführt. Ich weiß, ich hätte an die Angst ihrer Eltern denken müssen, aber ohne irgendwelche Fakten zu kennen, wanderten meine Sympathien zielsicher in Richtung der Ausreißerin. Es war nicht nur die normale Verschwörung der Jugend gegen die ältere Generation: in meinem Fall ging die Sache tiefer. War ich nicht selbst eine Art Ausreißerin, die sich eine heimliche Pause von der strengen Aufsicht der Eltern gönnte? Wenn Trudies Eltern auch nur annähernd so waren wie meine, dachte ich, dann war es kein Wunder, dass sie abgehauen war. Außerdem sah sie aus, als sei sie mindestens sechzehn, sogar auf dem Schulfoto.
»Können wir jetzt in die Kirche gehen?«, fragte Trudie. »Mir gefällt es dort wahnsinnig gut.«
Trudie hatte recht. Ich musste nichts darüber wissen. Ich würde so tun, als hätte ich diese untätigen Momente niemals dazu genutzt, durch die Zeitung zu blättern. Nichts hatte sich geändert. Und sollte irgendjemand zufällig herausfinden, dass Trudie bei uns gewohnt hatte (was höchst unwahrscheinlich war, da wir kaum Kontakt mit der Außenwelt hatten), könnte man uns daraus keinen Strick drehen, da wir sie ja nicht, wie Simon an jenem ersten Nachmittag am Strand sagte, gegen ihren Willen entführt hatten.
Sobald wir aus Hereford zurück waren (wieder ein Tag ohne jede Arbeit am Teich), machte ich mich zum zweiten Mal in Folge daran, unser Abendessen zu kochen – einfach, um Simon zu demonstrieren, wie unrecht er hatte. Währenddessen streifte Trudie durch sämtliche Zimmer, um zu entscheiden, welches wohl die verheißungsvollste Atmosphäre für eine Kontaktaufnahme mit der Geisterwelt hatte. Ich beäugte diese vorbereitende Aktion mit einiger Skepsis, argwöhnte, Trudie wolle nur eine möglichst gruselige Stimmung erzeugen, um uns Angst einzujagen. Das Zimmer, das schließlich für die Séance ausgewählt wurde, war ein großer, unbewohnter Raum im vorderen Bereich des Hauses. Darin befanden sich nicht nur ein Doppelbett, ein altmodischer Kleiderschrank und eine Kommode, sondern auch eine Chaiselongue, die auf einem runden Teppich zwischen Kommode und Fußende des Bettes stand.
Auf Trudies Anweisungen hin schoben Simon und Danny die Chaiselongue an eine Wandseite und rollten den Teppich zusammen. Dadurch entstand auf dem grüngrauen Linoleum eine große leere Fläche, in deren Zentrum Trudie ein leeres Marmeladeglas platzierte, in dem zwei Räucherstäbchen standen. Angeblich waren sie nötig, um den Raum zu reinigen, aber ich war überzeugt, dass sie lediglich dazu dienten, eine exotische Stimmung zu erzeugen. In der Vorratskammer hatte sie ein paar Kerzen aufgetrieben – diese weißen Stumpen, die in jedem ordentlichen Haushalt für etwaige Stromausfälle aufbewahrt werden –, die sie mit einigen Tropfen flüssigem Wachs auf Untertellern befestigte. Nachdem alle Kerzen sorgfältig aufgestellt und die Kerze, die zum Träufeln gedient hatte, ausgeblasen war, erklärte Trudie die Vorbereitungen für beendet. Bis auf eine letzte Sache – ein Kruzifix.
Alle sahen wir Danny an. Er trug immer ein kleines goldenes Kruzifix an einer dünnen Halskette, die lang genug war, um das Kruzifix unter seiner Kleidung zu verbergen. Nur wenn er sein Hemd auszog, blitzte es zwischen seinen Brusthaaren hervor. Und da wir alle ihn nahezu täglich mit freiem Oberkörper sahen, wussten wir um dessen Vorhandensein.
»Vielleicht finden wir im Haus etwas anderes, das wir benutzen können«, sagte Simon, der Dannys Widerwillen offenbar spürte.
Trudie ließ sich bereitwillig auf den Vorschlag ein, aber obwohl wir von Zimmer zu Zimmer wanderten, die überall verstreuten Objekte genau begutachteten, in Schränke spähten und hohe Regalbretter absuchten, fanden wir kein geeignetes religiöses Artefakt.
Zu guter Letzt landeten wir wieder im Séance-Zimmer. »Dann muss es wohl Dannys Kruzifix sein«, sagte Trudie.
Einen Moment sagte niemand etwas, dann brach Danny selbst das Schweigen. »Machst du mir die Kette auf, Katy? Ich nehme sie so gut wie nie ab.«
Um die Sache zu erleichtern, drehte er sich mit dem Rücken zu mir. Ich musste sein Haar ein wenig zur Seite schieben, um an den Verschluss zu gelangen. Er hatte sich vor Kurzem beklagt, der Verschluss sei kaputt und ginge manchmal von selbst auf, aber heute Abend schien es ewig zu dauern, ihn zu öffnen, als weigerte sich die Kette, den Hals ihres Besitzers zu verlassen.
Trudie nahm mir das Kruzifix ab und legte es beinahe ehrfürchtig auf das Linoleum, direkt neben das Marmeladeglas mit den beiden friedlich brennenden Räucherstäbchen.
»Und jetzt?«, fragte Simon.
»Jetzt lassen wir alles so, bis es dunkel wird«, sagte Trudie. »Bis es Nacht wird«, verbesserte sie sich. »Mitternacht wäre wahrscheinlich die beste Zeit, also schlage ich vor, wir kommen um Viertel vor zwölf zurück und machen uns bereit.«
Sie scheuchte uns hinaus und schloss die Tür hinter uns. Niemand sagte etwas: Wir schlichen tatsächlich auf Zehenspitzen davon. Ich musste mit aller Macht gegen die Vorstellung ankämpfen, dass in diesem Raum bereits etwas anderes war – etwas, das in dem Moment eingetroffen war, als die Tür ins Schloss fiel.