28

Der »Betontyp«, wie Danny ihn nannte, erschien pünktlich um halb neun. Ich war gerade auf halbem Weg nach unten, als ich seinen Pick-up ankommen hörte, doch Simon war vor mir an der Tür. Ich hatte nur einen Arbeiter erwartet, aber der Betontyp wurde von einem Jugendlichen begleitet, der vielleicht zwei, drei Jahre jünger war als ich, und einem Terrier, der sofort losflitzte, um unter dem Flieder herumzuschnuppern. Der ältere Mann hatte schütteres kastanienbraunes Haar und trug ein kariertes Hemd und eine Hose, deren ursprüngliche Farbe nicht mehr zu bestimmen war. Von der Arbeit war sie völlig mit Spritzern übersät. Die Haut in seinem Gesicht war durch jahrelanges Arbeiten im Freien gerötet und mit zahllosen blassbraunen Sommersprossen gesprenkelt. Sein junger Kollege trug Arbeiterjeans und ein Rod-Stewart-T-Shirt, so ausgewaschen, dass der Aufdruck zu einem geisterhaften Grau verblichen war. Sie wirkten völlig normal und konnten unmöglich ahnen, mit welch furchtbarer Angst wir uns nach draußen schleppten, um sie zu begrüßen, widerwillig wie böse Kinder, die zum Direktor geschickt wurden, um sich eine Tracht Prügel abzuholen. Keinem von uns gelang ein Lächeln.

Es war offensichtlich, dass der Betontyp (den Simon als Vic vorstellte) uns auf den ersten Blick misstraute, da seine einleitenden Worte den Satz »bar im Voraus« beinhalteten. Simon versuchte einzuwenden, er habe die Abmachung als Bezahlung nach Fertigstellung verstanden, doch sobald klar wurde, dass Vic nicht beabsichtigte, seine Betonmischmaschine auszuladen, ehe unser Geld sicher in seiner Tasche ruhte, gab Simon klein bei und ging ins Haus, um es zu holen, während der Rest von uns unbehaglich neben dem Pick-up herumstand. Die zufriedenen Blicke, die zwischen Vic und seinem Kumpel gewechselt wurden, waren eindeutig: Spielstand einheimische Bauarbeiter gegen verdächtige Hippies eins zu null.

Vic zählte das Geld betont sorgfältig nach, ehe er es in der Gesäßtasche seiner Hose verstaute. Währenddessen blickte ich von Danny zu Simon und wieder zurück. Wir würden sehr vorsichtig sein müssen  –  spürbare Spannung könnte die Arbeiter misstrauisch machen.

»Gut«, sagte Vic schließlich. »Dann sehen wir uns die Sache mal an.«

Simon führte die Männer um das Haus herum und quer durch den Garten in Richtung des Teichs. Als wir noch etwa zehn Meter entfernt waren, stieß Danny einen Schrei aus und rannte los. Wir hatten alle im gleichen Moment den kleinen Hund gesehen, der nach vorne schoss und in die Grube abtauchte. Sand flog nach oben, während Danny zur Rettung herbeieilte und Vic brüllte: »Raus da, du Mistköter!« Lag es an Dannys Nahen oder an der Stimme seines Herrn, der Hund überlegte es sich jedenfalls anders, sprang mit einem Satz aus der Grube und trottete davon.

»Glaubt wohl, er findet da einen Knochen«, sagte der Jugendliche heiter.

Ich wagte es nicht, Danny anzusehen. Fürchtete, in seinem Gesicht zu lesen, wie viel der Terrier enthüllt hatte. Danny war drauf und dran, in die Grube zu springen, wurde jedoch von Vic gebremst, der sagte: »Keine Bange, das werden wir gleich wieder glätten.« Inzwischen waren wir alle am Teich angelangt, und es war ohnehin zu spät, um irgendetwas zu machen. Ich spähte zu der Stelle hinunter, wo der verfluchte Hund gegraben hatte, aber das Loch, das er gebuddelt hatte, war hinter dem kleinen Sandhaufen versteckt, der durch sein Graben entstanden war. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Simon um den Teich herumging, um eine bessere Sicht zu haben. Ich spürte das verzweifelte Verlangen, mich auf den Boden zu setzen. In meinen Ohren summte es, und vor meinen Augen tanzten Punkte. Das war das Ende. Wir würden entdeckt werden  –  hier und jetzt.

Simon erschreckte uns alle, indem er in die sandige Grube sprang und mit seinem Stiefel den Sand wieder an seinen Platz kickte. »Verdammter Köter«, sagte er. »Wir haben gestern stundenlang geschuftet, um alles zu glätten.«

Ich bemerkte den seltsamen Blick, mit dem Vic ihn musterte  –  vermutlich wunderte er sich, warum Simon sich wegen so einer Lappalie derart aufregte. Danny ging um den Teich herum und bot Simon die Hand, um ihn nach oben zu ziehen. Ich sah, wie er ihm etwas zuraunte, und Simon daraufhin leicht nickte. Vic schien es nicht zu bemerken. Er machte sich daran, sein Arbeitsfeld zu inspizieren, nahm sich quälend lange Zeit dafür, von allen Seiten in die mit Sand ausgelegte Grube zu spähen, wanderte langsam um den Rand herum, summte und brummelte herum, nörgelte über den Winkel der Seiten und überlegte laut, ob sie zu steil seien, um die Mischung aufzunehmen. Als ich schon fürchtete, er würde sagen, er könne es nicht machen, sprang er in die Grube und landete auf einer Stelle direkt über Trudies Kopf. Voller Entsetzen beobachteten wir, wie er dort herumstampfte und seine großen Stiefelabdrücke überall auf Simons geglättetem Sand hinterließ. Ich stellte mir vor, wie die Erde in Trudies Körper gepresst wurde. Es war alles zu viel. Ich rannte über die Wiese und erbrach mich in das Rosenbeet.

Danny war sofort neben mir, hielt mich an den Schultern fest, gab Laute des Trostes von sich. »Gehen wir ins Haus«, sagte er. »Ich bring dich rein …«

Ich wischte mir mit dem Handrücken den Mund ab, versuchte mich zu beruhigen. Ich zitterte am ganzen Körper. Wie aus weiter Ferne hörte ich Vic fragen: »Was hat sie denn?«, und dann Simons Stimme, diskret gesenkt  –  vermutlich irgendeine Plattitüde über ein Magenproblem.

»Ich gehe rein«, sagte ich. »Du solltest aber lieber mit Simon draußen bleiben.«

Danny überlegte nur einen kurzen Moment, ehe er nickte. »Du hast recht«, sagte er.

Ich wankte in Richtung Küche davon, fühlte mich wie ein Feigling, ein Verräter. Sobald ich drinnen war, stand ich zitternd vor dem Spülbecken und stellte mir vor, was passieren würde, wenn der verdammte Hund wieder in die Grube springen oder Vic es sich in den Kopf setzen würde, herumzubohren oder etwas von dem Sand wegzukratzen. Doch nach einiger Zeit, die mir wie Stunden vorkam, hörte ich das unverwechselbare Rumpeln des Betonmischers. Bis ich mein Gesicht gewaschen und mein T-Shirt gewechselt hatte und mich wieder in der Lage fühlte zurückzukehren, war die Arbeit bereits in vollem Gang.

»Besser?«, fragte Danny, und ich nickte, spürte noch immer den Geschmack von Erbrochenem im Mund, der zu dem schrecklichen Gefühl in meinem Herzen passte.

Der Betonmischer war nahe am Teich aufgestellt worden, wo er seinen Inhalt etwa einen Meter von der Stelle entfernt, wo Vic arbeitete, herausschleuderte. Vic kniete auf einem großen Brett auf dem Grund des Teichs und trug mithilfe einer Maurerkelle und eines Flacheisens eine glatte Betonschicht auf wie ein Chefkoch, der eine riesige umgedrehte Geburtstagstorte glasiert.

Um Vic und seinen Gehilfen nicht unbeaufsichtigt zu lassen, hatten Simon und Danny ihre Hilfe angeboten, unter dem Vorwand, etwas über das Betonieren lernen zu wollen. Vic nahm das Angebot gerne an. Offenbar gefiel ihm die Vorstellung, mehr Hilfskräfte zur Verfügung zu haben, und als ich dazukam, fand er auch für mich eine Aufgabe  –  ich sollte die Rolle der Hausfrau spielen, die die Mannsleute rund um die Uhr mit Tee versorgte.

In Wahrheit beschränkte sich die Arbeit der Hilfskräfte auf ein paar unbedeutende Dienstleistungen, und so gab es immer wieder längere Perioden, in denen Simon, Danny und Gordon (wie der junge Gehilfe hieß) nur untätig herumstanden und dem Boss bei der Arbeit zuschauten. Gordon war ein geschwätziger Typ: gänzlich unempfindlich gegen das Desinteresse, das seine Ansichten über dies und das bei uns hervorrief. Erst versuchte er es mit Fußball, danach mit Popmusik, und als diese Themen nicht ankamen, ging er zu Fernsehsendungen über, doch wir waren keine Fans von The Fenn Street Gang und hatten Top of the Pops seit Wochen nicht gesehen. Sein Verhalten uns gegenüber war eine Mischung aus Neugierde und Verachtung. Wie viele, die mit fünfzehn, sechzehn ins Arbeitsleben eingetreten waren, betrachtete er Studenten als arbeitsscheue Schmarotzer, die lange Ferien auf Kosten der Arbeiterklasse genossen und »von denen die Hälfte anschließend nichts Nützliches arbeitet  –  ich meine, es ist in Ordnung, wenn man Medizin studiert und Arzt wird …« Gleichzeitig repräsentierten wir aber auch eine Art von schillernder Unabhängigkeit, da wir den ganzen Sommer hier verbringen und frei über unsere Zeit verfügen konnten, ohne irgendjemandem verpflichtet zu sein  –  und uns vermutlich allen möglichen Ausschweifungen hingaben  – Orgien und Drogen, wie es immer wieder in The Sun beschrieben wurde.

Instinktiv war uns allen klar, dass wir Gordon bei Laune halten mussten. Er war ein unsägliches Klatschmaul und würde seinen Kumpels bestimmt von der Arbeit am Gartenteich eines komischen alten Hauses erzählen, in dem eine Horde Hippies hauste. Unsere einzige Hoffnung war es, so uninteressant wie nur möglich zu erscheinen, weil Gordon ganz offenkundig annahm, wir würden ständig feiern oder uns sonst wie vergnügen. »Ich wette, ihr habt hier eine Menge toller Partys«, sagte er. »Und an den Wochenenden massenhaft Freunde zu Besuch, was?« Auf diese und andere Fragen antworteten wir mit einem klaren Nein. Wir arbeiteten nur im Garten und hielten das Haus in Ordnung  –  stinklangweilig waren wir.

Die beunruhigendste Frage des Morgens kam indes von Vic. Er kniete auf einem Brett im Teich, strich Beton über die gewölbte Innenseite  –  deren Winkel sich zum Glück nicht als zu steil für das Auftragen des Betons erwiesen hatte. »Wo steckt diese Trudie denn?«, fragte er.

Ein entsetztes Schweigen folgte. Vic konzentrierte sich auf seine Arbeit und sah unsere Gesichter nicht. »Liegt wohl noch im Bett, was?«

Ich unterdrückte mein Tourettesyndrom. Simon konnte den Blick nicht von der Stelle abwenden, wo Vic kniete. Danny erholte sich als Erster. »Sie ist nicht mehr hier«, sagte er. »Sie ist weitergezogen.«

Zunächst wurde nichts mehr zu dem Thema gesagt, doch während Gordon zu einem weiteren Exkurs über Bands wie Slade und T. Rex ansetzte, dachte ich fieberhaft über Vics Frage nach. Woher, zum Teufel, kannte er Trudie? Dann fiel mir ein, dass Trudie Simon an dem Tag, als er sich nach einem Bauarbeiter umsehen wollte, in die Stadt begleitet hatte. Offenbar hatte sie sich Vic vorgestellt  –  und vermutlich auch jedem anderen Bauarbeiter, den sie aufgesucht hatten. Und sie würden sie gewiss nicht vergessen haben. Es passierte schließlich nicht jeden Tag, dass eine Trudie bei dir auftauchte. Es war nur eine Frage der Zeit  –  das war alles. Beinahe wünschte ich, Sergeant Mathieson würde um die Ecke kommen und uns an Ort und Stelle festnehmen  –  einfach nur, um die Sache endlich hinter mich zu bringen. Simon stand direkt vor mir, und ich bemerkte, dass sein T-Shirt, ebenso wie meines, schweißnass war.

»So, junge Dame«, unterbrach Vic Gordons neuesten Monolog  –  redete in der Tat direkt über ihn hinweg. »Wie wäre es mit einer neuen Fuhre Tee?«

Ich kochte innerlich. Außer meinem Vater nannte mich niemand junge Dame  –  und er machte es auch nur, weil er wusste, wie sehr mich das auf die Palme brachte. Ich schluckte meinen Unmut hinunter. Was herablassendes Verhalten betraf, lag der Punktestand zwischen einheimischen Bauarbeitern und Hippies jetzt bei ungefähr dreißig zu null, aber wir wagten es nicht, ihnen ihren Spaß zu nehmen.

»Klaro«, sagte ich.

Gordon stellte sich neben den Betonmischer, etwas abseits von den anderen. Als ich mich ihm näherte, um seine leere Tasse entgegenzunehmen, blinzelte er mir wissend zu und sagte: »Musstest sie wohl loswerden, was?«

»Was soll das heißen?«

»Diese Trudie  –  hat sicher für Probleme gesorgt zwischen dir und den Jungs, stimmt’s?«

»Nein.« Ich wollte die Empörte spielen, nur gelang mir das nicht so recht. Stattdessen kippte meine Stimme in eine grausame Parodie von Mickymaus um. »Wir wollten sie nicht  –  loswerden.«

»Aber er sagte doch, sie ist weitergezogen.«

»Ist sie auch  –  sie hat nur eine Zeit lang bei uns gewohnt.«

»Und wo ist sie hin?«

Darauf war ich nicht vorbereitet. Es war nicht so, dass er misstrauisch gewesen wäre  –  er betrieb lediglich Konversation. Aber wir hatten noch nicht abgesprochen, was wir den Leuten erzählen sollten, und wenn ich jetzt irgendetwas erfände, bestand das Risiko, dass Simon oder Danny später etwas völlig Widersprüchliches behaupten würden  –  und das würde ihn misstrauisch machen. Ich ließ die Tasse, die ich in der Hand hielt, aus den Fingern gleiten. Sie fiel ins Gras und zerbrach nicht, aber es genügte, um Gordon abzulenken und mir die Flucht zu ermöglichen.

Als ich den frisch aufgebrühten Tee nach draußen brachte, wartete Gordon, bis sich alle eine Tasse vom Tablett genommen hatten, und bedeutete mir dann, mich ein Stück mit ihm von den anderen zu entfernen. Mir behagte das gar nicht, aber ich sah keine Möglichkeit, mich ihm zu entziehen, und so folgte ich ihm ein paar Schritte weiter zum Rand der Wiese, als hätten wir unter dem Rankenbogen einer Klematis etwas Interessantes entdeckt.

»Du steckst in Schwierigkeiten, stimmt’s?«, fragte er leise, während er kurz zu den anderen hinüberspähte, um zu sehen, ob sie uns beobachteten.

Der Gedanke, er müsse über Trudie Bescheid wissen, sprang mich förmlich an. Ich verstand nicht, wie es geschehen konnte, aber irgendwie musste er es herausgefunden haben. Vielleicht hatte er sich in jener Nacht im Wald versteckt  –  oder bemerkt, dass irgendetwas mit dem Teichboden nicht stimmte. Irrational wie Betrunkene taumelten diese Gedanken durch meinen Kopf, während er auf eine Antwort wartete. Als keine erfolgte, sagte er: »Es ist okay. Ich werde Vic nichts erzählen.« Wenn er die Stimme senkte, wurde sein lokaler Dialekt stärker.  – Trudie hätte ihn als »Landjungen« oder »Bauerntölpel« bezeichnet.

»Worüber nichts erzählen?«, stammelte ich.

»Über deine Schwangerschaft. Ich kenne die Anzeichen  – morgendliche Übelkeit und launisch wie eine Katze. Meine Schwester hat sich diesen Schlamassel letztes Jahr eingebrockt. Wenn du magst, kann ich dir die Adresse von der Klinik besorgen, in der sie war.«

Nur hochgradige Entrüstung bewahrte mich davor, laut loszulachen. »Ich bin nicht schwanger«, sagte ich und stolzierte mit empörter Miene ins Haus zurück. Sobald ich in der Küche war, begann ich zu lachen. Es kam in einem Schwall aus mir heraus wie Wasser bei einem Dammbruch. Ich musste mich hinsetzen, um nicht zusammenzubrechen; lachte, bis es begann wehzutun, bis sich schließlich das Lachen in ein Schluchzen verwandelte, das in meiner Kehle schmerzte und mir die Brust zusammenschnürte.

Das Brummen des Betonmischers hielt den ganzen Tag an. Mein Kopf war so voll von diesem Geräusch, dass sich irgendwann jede neue Drehung der Maschine in mein Hirn zu schneiden schien. Die Außentemperatur war inzwischen zu Backofenwärme angestiegen, wob eine Decke aus Hitze, die schwer über allem lastete. Es hatte bereits mehrere Gewitter gegeben, und ich nahm an, dass ein weiteres bevorstand. Mein Kopf begann im Gleichklang mit dem Betonmischer zu pochen, aber als ich Zuflucht in der Küche suchte, verfolgte mich das Geräusch sogar bis dorthin. Auf eines der Küchenregale hatten wir ein Transistorradio gestellt, und in einem verzweifelten Versuch, das Geräusch der Maschine zu überdecken, drehte ich am unteren der beiden Knöpfe. Mit einem lauten anklagenden Knacken ging das Radio an, und es ertönte Johnnie Walkers Stimme, die von einer Postkarte berichtete, die er von irgendwelchen urlaubenden, aus Manchester stammenden Radiohörern erhalten hatte: eine willkommene Erinnerung daran, dass irgendwo in der Welt Menschen sich mit ganz normalen, heiteren Dingen beschäftigten statt mit Geheimnissen und Tod.

»Und jetzt«, sagte Johnnie, »singt Anne Murray für uns Danny’s Song

Fasziniert wartete ich neben dem Radio. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es einen Song für Danny gab. Einen Moment später hätte ich vor lauter Hast, das Radio auszuschalten, beinahe den Knopf abgebrochen. Ich erkannte das Stück wieder, nur war mir dessen Titel nicht bekannt gewesen. Es war der Song, den Trudie und Danny an jenem ersten Nachmittag am Strand im Duett gesungen hatten. Der erste Song, den sie überhaupt zusammen gesungen hatten. Eine schreckliche Perspektive tat sich wie ein gähnender Abgrund vor mir auf  –  von einer Welt, in der alles immer nur zu einem einzigen Ereignis zurückführte.

Nachdem ich das Radio wieder ausgeschaltet hatte, schien der Betonmischer lauter denn je zu dröhnen. Mir fiel ein, dass wir noch irgendwo ein Fläschchen mit Aspirin-Brausetabletten hatten: Trudie hatte es vor einigen Wochen gekauft, genervt darüber, die größere Menge nehmen zu müssen, weil in der Apotheke am Ort die kleineren Fläschchen ausgegangen waren. Ich kramte herum, bis ich es gefunden hatte, drehte die Verschlusskappe auf und zog das Baumwollläppchen aus dem Flaschenhals. Als ich die Flasche kippte, purzelten, ehe ich es verhindern konnte, ein halbes Dutzend Tabletten auf meine Handfläche. Ich füllte sie bis auf zwei Stück zurück, die ich in einem Glas Wasser auflöste, das ich sachte hin und her bewegte, um den Vorgang zu beschleunigen. Sie hatten sich gerade vollständig aufgelöst, als Danny den Kopf zur Tür hereinstreckte.

»Bist du okay?«, fragte er. »Ich wollte dir nur sagen, dass der Teich fertig ist.«

»Warum läuft dann diese verdammte Maschine noch weiter?«

»Er reinigt sie. Das wird mit Steinen gemacht.«

Kein Wunder, dass es lauter klang als vorhin. Danny ging wieder zu den anderen zurück. Nach einer Weile verstummte die Maschine endlich. Eine längere Stille trat ein, ehe ich dann den Motor des abfahrenden Pick-ups vernahm. Als das Geräusch in der Ferne verhallte, überfiel mich eine merkwürdige Trostlosigkeit. Ich hatte Gordon und Vic nicht gemocht, aber ihre Abreise gab mir das Gefühl festzusitzen. Sie konnten mit ihrem Pick-up einfach wegfahren, zurück in jene andere Welt, die Welt des normalen Lebens, in der normale Leute normale Dinge taten. Doch für mich gab es kein Entkommen.

Es ist die Hitze, sagte ich mir. Die drückt auf das Gemüt.

Ich ging nach draußen, um die Jungs zu suchen. Sie standen neben dem Teich.

»Er meint, wir können schon morgen das Wasser einfüllen«, sagte Simon mehr zu sich selbst als zu uns.

»Da passt ganz schön was rein«, bemerkte Danny. »Was schätzt du, wie lange es dauern wird, Si?«

Mir fiel auf, dass sich Danny beinahe fröhlich anhörte. Der Anblick des fertigen Teichs hob vorübergehend auch meine Stimmung. Immerhin hatte sich jetzt die Chance, entdeckt zu werden, radikal zu unseren Gunsten verringert. Im Gegensatz dazu klang Simons Stimme völlig flach. »Ewig«, sagte er. »Wahrscheinlich den ganzen Tag.«

»Kann sein«, stimmte Danny zu. »Wie fühlst du dich?«, fragte er mich.

»Ein wenig besser  –  vor allem jetzt, wo sie weg sind.«

»Wenn du heute nicht kochen willst, kann ich uns irgendetwas zum Abendessen machen.«

Ich war drauf und dran, das Angebot anzunehmen, bemerkte dann aber, wie müde Danny aussah. Vom Schweiß verfilzte Locken klebten an seiner Stirn. Seine Kleidung war bleich vom Staub aus den Säcken mit Sand und Zement. »Mir geht es schon viel besser«, sagte ich rasch. »Kochen ist kein Problem.«

»Super«, sagte er. Als wir zum Haus gingen, legte er den Arm um meine Taille. »Jetzt ist es vorbei, Babe«, wisperte er in mein Haar. Ich wünschte, ich könnte ihm glauben, aber ich wusste, dass er sich irrte. Es war zu heiß für körperliche Nähe, und nach einigen Anstandssekunden löste ich mich unauffällig von ihm.

Nach dem Essen saßen wir draußen, weit entfernt von dem frisch betonierten Teich. Ein Gewitter lag in der Luft  –  der Himmel war zu Schattierungen von Mauve und Grau verblasst, und obgleich wir keinen Blitz sahen, ertönte von Zeit zu Zeit ein langgezogenes Donnergrollen aus dem entfernten Welsh-Gebirge, manchmal gefolgt von einer Brise, die durch den Garten fegte und den Bäumen und Büschen ein nervöses Flüstern entlockte.

Danny hatte in der hinteren Ecke der Vorratskammer eine Flasche Limonade entdeckt, die er zum Verdünnen meines Whiskys verwendete. Ich trank ziemlich schnell, musste einfach irgendet was mit meinen Händen machen. Unsere kläglichen Konversationsversuche waren von langen Schweigepausen durchbrochen. Es war, als wäre zwischen uns bereits alles gesagt worden  –  oder als wäre das, was noch blieb, unaussprechlich. Mehrmals ertappte ich Simon dabei, wie er mich nachdenklich musterte, doch jedes Mal, wenn sich unsere Blicke trafen, sah er rasch wieder weg. Es begann mir unheimlich zu werden. Als Danny ins Bad ging, hielt ich es nicht länger aus. »Hör auf, mich anzustarren. Das ist mir unheimlich.«

Mein schriller Protest schien ihn zu reizen. Er fixierte mich weiterhin. »Du bist verrückt nach Danny, nicht wahr? Mich interessiert, wie weit du für ihn gehen würdest. Wo liegt deine Grenze, Katy?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte ich. In meiner Stimme lag ein Zittern, und ich rutschte im Gras ein Stück zur Seite, um mehr Abstand zwischen uns zu schaffen. Rachel Hewitt war verrückt nach Danny gewesen, und was ist mit ihr passiert? Sie war mit Simons Schraubenzieher erstochen worden  –  nein, Moment, das war nicht richtig. Sie war erwürgt worden  –  mit Trudies Schal. Ich drehte langsam durch, starrte ins Gebüsch, wollte Simon nicht direkt ansehen. Aber mir war bewusst, dass er mich nach wie vor beobachtete.

Danny ließ sich zwischen uns ins Gras fallen. »Ich schätze, im Haus sind es noch weit über zwanzig Grad«, sagte er.

Ich hörte ihn, ohne seine Worte aufzunehmen. Verstohlen blickte ich erneut zu Simon hinüber, aber der entblätterte ein Gänseblümchen, das er in der Wiese gepflückt hatte: zupfte mit hässlich abgebrochenen Nägeln Blütenblatt um Blütenblatt aus. Aus dem Nichts kam mir in den Sinn, wie perfekt geformt seine Nägel zu Beginn des Sommers gewesen waren, bevor sie durch das Schaufeln kaputtgingen. Was hatte Simon vorhin gesagt  –  hatte er überhaupt etwas gesagt?

Das Gewitter rückte langsam näher, bis der Donner uns aus der Nähe bedrohte, den Abhang von Bettis Wood hinaufrollte und uns erschrocken zusammenzucken ließ. Wir hörten sie, bevor wir sie sahen: riesige Tropfen in Golfballgröße, die die Pflastersteine der Terrasse bereits dunkel färbten, noch ehe wir aufspringen und ins Haus flüchten konnten. Unsicher wankte ich in die Küche, stieß mir den Arm am Türpfosten und hielt mich Halt suchend am Tischrand fest. Du bist betrunken, sagte ich im Stillen zu mir. Widerlich, ekelhaft betrunken. Der Gedanke war seltsam angenehm.

»Hui«, stieß Danny aus. »So wie es jetzt schüttet, werden wir den Gartenschlauch morgen gar nicht brauchen, um den Teich zu füllen.«

Ein Sperrfeuer aus Donner übertönte Simons Antwort. Instinktiv presste ich die Hände auf die Ohren, spürte währenddessen, wie das Haus unter meinen Fußsohlen vibrierte.

»Ich habe Gewitter noch nie so erlebt wie hier«, schrie ich  –  meine Worte klangen unnatürlich laut in der Pause zwischen den Donnerschlägen. Ein weiteres anhaltendes Getöse  –  als würden Riesen in einer Wohnung über uns ihre Möbel verrücken  –  machte jede Antwort unmöglich. Einige Sekunden lang war das Gewitter direkt über uns: dann hörte der Regen so abrupt auf, wie er begonnen hatte. Gleichzeitig klang der Donner ab, als hätte er das Interesse an dem Spiel verloren. Es war so heiß wie immer  – im Haus war es nach wie vor stickig, und draußen verdunstete der Regen bereits.

Ich blickte zu Simon hinüber. In seinem Gesicht lag ein verzweifelter Ausdruck. »Gott, was ist das nur für ein grässlicher Ort«, platzte er heraus.

»Wir hatten schon schlimmere Gewitter«, begann ich. »An dem Abend der Séance …«

»Halt die Klappe!«, brüllte Simon. »Halt einfach nur die Klappe, okay?«

»Wir müssen das Zimmer noch aufräumen«, sagte ich starrköpfig. Eine Kombination aus angetrunkenem Mut und der Unterstützung durch Danny an meiner Seite führte dazu, dass ich nicht bereit war, klein beizugeben. »Dort liegen immer noch Kerzen herum  –  und Trudies Sachen sind überall in ihrem Zimmer verstreut. Jemand muss sie entsorgen.«

Simon packte den am nächsten stehenden Stuhl und schleuderte ihn quer durch die Küche. »Hör auf damit!«, kreischte er.

Ich schob mich näher an Danny heran, wollte noch immer nicht nachgeben. »Ich sage nur, dass es getan werden muss.«

Danny drückte meinen Arm. »Lass gut sein«, sagte er. Er ging durch die Küche zu dem Stuhl, der mit dem Rücken an der Waschmaschine lag, hob ihn gelassen auf und stellte ihn wieder an seinen ursprünglichen Platz am Tisch zurück, ehe er sagte: »Komm, Si, krieg dich wieder ein. Du weißt, Katy meint es nur gut. Wir sitzen hier alle im selben Boot.«

»Ach ja?« Simon starrte uns an wie ein in die Enge getriebenes Tier, das einen Angriff erwartet. Nervös beobachtete ich ihn, fragte mich, was er als Nächstes tun würde, aber Danny schien diesbezüglich keine Befürchtungen zu hegen. Er legte den Arm um Simons Schultern und sagte: »Komm, Alter. Lass uns hinsetzen und noch etwas trinken. Am besten werden wir über alles hinwegkommen, wenn wir nicht mehr darüber nachdenken.«

Simon ließ sich zu einem Stuhl am Tisch dirigieren. Als er wieder das Wort ergriff, war seine Stimme wesentlich ruhiger. »Nun, ich habe tatsächlich nachgedacht  –   über einen gewissen Schraubenzieher.«

Ich erschauerte, als hätte mir jemand den kalten Metallstab des Schraubenziehers an den Rücken gepresst. Aber die beiden merkten nichts davon.

»Du konntest die Sache mit dem Schraubenzieher doch erklären. Also brauchst du dir darüber keine Sorgen zu machen  –  absolut keine.« Danny sprach über die Schulter hinweg, während er die Tür zur Vorratskammer öffnete und die Limonadenflasche herausholte. Er brachte sie zum Tisch mit und sagte: »Los, Leute. Genehmigen wir uns noch einen Schlummertrunk.«

Simon antwortete nicht sofort. Als er dann sprach, kramte Danny gerade auf der Suche nach irgendetwas in einem Schrank herum und hörte deshalb seine Worte nicht, die er an niemanden direkt zu richten schien: »Manchmal kann man genau das nicht sehen, was sich direkt vor der eigenen Nase befindet.«

»Ich möchte nichts mehr trinken«, sagte ich zu Danny. »Lass uns ins Bett gehen.« Ich wollte vor Simon flüchten. Mir gefiel es nicht, wie sein flackernder Blick ständig zwischen Danny und mir hin und her wanderte.

Danny willigte ohne weitere Diskussion ein, und wir gingen zusammen nach oben, ließen Simon allein in der Küche zurück. Danny wünschte ihm noch »Gute Nacht«, doch Simon hatte sich in sich selbst zurückgezogen, brütete stumm vor sich hin. Sobald wir im Bett lagen, begann Danny mit den üblichen Annäherungsversuchen, hörte jedoch sofort damit auf, als ich ihm sagte, ich würde mich nicht danach fühlen.

»Entschuldige. Ich habe vergessen, dass du nicht ganz auf dem Damm bist.« Er rollte sich von mir hinunter auf den Rücken, den angewinkelten Arm unter dem Kopf.

»Danny«, sagte ich, »was war es, das Josser über Simon herausgefunden hat?«

»Was?«

»Josser  –  du sagtest, er habe etwas über Simon herausgefunden. Was war das?«

»Wie kommst du denn jetzt auf Josser? Vergiss ihn. Er wird uns nicht wieder belästigen.«

Wir schwiegen eine Weile. Er hatte nicht abgestritten, dass Josser irgendwelche Dinge über Simon wusste. Ich hätte gern gefragt, ob es lediglich darum ging, dass Simon schwul war, fürchtete jedoch, Danny würde mich fragen, woher ich das wüsste, und darauf wollte ich im Moment nicht eingehen.

Während ich noch zögerte, ergriff Danny wieder das Wort. »Ich finde, wir sollten unsere Heiratspläne ein wenig vorantreiben.«

Da das Licht ausgeschaltet war, war er nur ein schattenhafter Umriss in der Dunkelheit. Sein Ton war so beiläufig, dass ich mir, ohne sein Gesicht zu sehen, nicht sicher war, ob das ein Scherz war oder nicht. Es musste ein Scherz sein, sagte ich mir dann.

»Welche Heiratspläne?« Ich gab ein halbherziges Lachen von mir. »Wir haben doch gar keine Heiratspläne.«

»Dann lass uns welche machen.«

»Einfach so?«

»Einfach so.«

»Aber wir haben nie von Heirat gesprochen. Ich meine …« Ich war mir nach wie vor unschlüssig, ob er Spaß machte oder nicht, also setzte ich weiterhin auf Humor. »Ich habe mir doch noch gar kein Kleid ausgesucht und so.«

»Das ist nur ein Detail«, sagte er, und in diesem Moment entnahm ich seiner Stimme, dass es keineswegs ein Scherz war. »Dafür hast du Zeit, sobald wir einen Termin festgelegt haben. Lass es uns bald machen, Katy. Es gibt nichts, was uns daran hindert …« Sein Tonfall hatte eine Dringlichkeit bekommen, die mich nervte.

»Meine Eltern«, warf ich rasch ein und fand sie ausnahmsweise einmal nützlich. »Meine Eltern werden sagen, ich sei zu jung.« Und das stimmt sogar, dachte ich verzweifelt. Ich bin zu jung. Ich hatte kaum damit begonnen, die Fesseln abzustreifen, die sie mir angelegt hatten, und jetzt konnte ich aus nicht allzu weiter Ferne bereits das Klappern der ehelichen Gefängnistore vernehmen.

»Na und? Du bist über achtzehn. Du gehörst zu mir, Katy. Nichts steht uns im Weg  –  nichts kann sich zwischen uns drängen. Lass es uns besiegeln  –  es offiziell machen. Wir werden in der Kirche heiraten, das volle Programm. Was hältst du davon?«

Irgendwie wusste ich, dass er lediglich meine Zustimmung für eine kirchliche Trauung erbat  –  nicht für die Hochzeit selbst, die für ihn offenbar beschlossene Sache war. Das war weder der richtige Moment, einen Heiratsantrag abzulehnen, noch war es der richtige Zeitpunkt, überhaupt einen zu machen. Die Situation war insgesamt so bizarr, so unglaublich, wie wir da zusammen in der Dunkelheit lagen und nicht einmal unsere Gesichter sehen konnten. Andererseits wollte ich gerade jetzt keinen Streit mit Danny vom Zaun brechen. Simons Verhalten nahm seltsam bedrohliche Züge an: Ich brauchte Danny weiterhin als Verbündeten an meiner Seite.

»Reden wir ein andermal darüber.« Ich bemühte mich, all das, was mir durch den Kopf ging, aus meiner Stimme herauszuhalten. »Wir sind beide viel zu müde. Lass uns eine Nacht darüber schlafen. Komm, gib mir einen Gutenachtkuss.«