11
Jeder von uns näherte sich der bevorstehenden Séance auf seine Weise, behielt etwaige Zweifel an der ganzen Sache aber für sich. Ich machte gute Miene zum bösen Spiel, wollte nicht als Angsthase gelten. Es war nicht so, dass ich Angst vor dem Übernatürlichen gehabt hätte – woran ich nicht wirklich glaubte –, ich hatte eher Angst davor, vor Nervosität so angespannt zu sein, dass ich bei jeder Kleinigkeit aufspringen oder kreischen würde und dadurch den Spott der anderen auf mich zöge, wenn sich alles als ein großer Scherz herausstellte. Simon wirkte so wie immer. Er erzählte uns eine lange, verworrene Geschichte, die darin mündete, dass sich ein Kommilitone von ihm aus Versehen aus seinem Zimmer ausgesperrt und splitterfasernackt auf einer Brüstung vor seinem Fenster ausgeharrt hatte. Simons übertrieben schleppende Sprechweise erheiterte uns zwar, aber irgendwie spürte ich, dass ihm heute Abend niemand seine volle Aufmerksamkeit schenkte. Trudie schien vor nervöser Erregung zu vibrieren, als wäre sie im Besitz eines Geheimnisses, das sie unbedingt mit uns teilen wollte, aber nicht durfte. Sie plant zweifellos eine virtuose Performance, dachte ich. Doch ich glaube, von uns vieren war Danny derjenige, der am meisten betroffen war. Ich denke nicht, dass die anderen es merkten, aber ich nahm eine künstliche Fröhlichkeit in seiner Stimme wahr und beobachtete, wie seine Finger mehrmals zu seinem Hals wanderten und nach dem fehlenden Talisman tasteten.
Sobald die Sonne hinter den Sträuchern verschwand, verkündete Trudie, ihr sei kalt, und ging ins Haus, um etwas Wärmeres anzuziehen. Ich ging ebenfalls hinein, weil ich auf die Toilette gehen wollte. Als ich den Treppenabsatz erreichte, kam Trudie gerade aus ihrem Zimmer. Als sie mich entdeckte, winkte sie aufgeregt und sagte: »Komm, sieh dir das an.«
Ich begleitete sie in ihr Zimmer, bahnte mir einen Weg durch die überall auf dem Boden verstreuten Kleidungsstücke. Trudies Fenster ging nach Westen hinaus und war hoch genug, um über die Sträucher und den Hügel hinweg bis zum Bettis Wood hinüberzublicken. Der oberste Rand der Sonne verschwand gerade hinter den Baumwipfeln, die in diesem sterbenden Licht gespenstisch glühten.
»Sieh nur«, flüsterte sie. »Rot wie Blut. So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen. Es ist ein Zeichen.«
»Das ist nur der Sonnenuntergang. Eine optische Täuschung.«
Trudie schüttelte den Kopf. »Es ist ein Zeichen«, sagte sie mit Nachdruck. Irgendetwas in ihrer Stimme störte mich. Mit leisem Unbehagen wurde mir bewusst, dass Trudie nicht mehr die Zirkusdirektorin war, die für uns eine Show veranstaltete. Sie glaubte wirklich an dieses Zeug und ängstigte sich. Sie hatte sich nicht mehr unter Kontrolle.
Das rote Licht auf den Baumwipfeln verblasste – die Veränderung fand binnen Sekunden statt, dann war die Sonne verschwunden, und der Wald stand wie immer grünlich schwarz in der Dämmerung. Der Moment war vorbei. Dannys Gitarrenspiel drang von der Wiese zu uns empor. Er spielte Moonshadow.
»Was meinst du, bedeutet der Text?«, fragte Trudie. Sie wirkte, wie ich erleichtert feststellte, wieder ganz normal.
»Keine Ahnung – ich finde ihn ziemlich rätselhaft.«
»Ich glaube, der Mondschatten ist das Schicksal«, sagte sie. »Jeder wird von seinem eigenen Mondschatten verfolgt, und am Ende holt er einen immer ein. Man muss einfach annehmen, was immer einem widerfährt.«
Ich sparte mir eine Antwort. Ich hatte zu viele Mittagspausen in der Schule damit verbracht, lyrische Texte auseinanderzunehmen, um die ihnen innewohnende Bedeutung zu ergründen.
Als wir in den Garten zurückkehrten, unterhielten sich Danny und Simon gerade über die Zeit, als sie Ralph Mc-Tell in der Birmingham Town Hall gesehen hatten; Danny unterstrich seine Äußerungen mit gelegentlichen Gitarrenakkorden. Alles wirkte so friedlich und ruhig wie immer, bis auf die Tatsache, dass Danny ständig auf die Uhr blickte. Gegen halb zwölf ging uns langsam der Gesprächsstoff aus. Die Luft war extrem drückend geworden, aber weil die Sterne noch klar zu sehen waren, nahm ich an, dass es kein Gewitter geben würde. Danny hatte in immer kürzeren Abständen auf die Uhr geblickt, bis ich ihn bat, endlich damit aufzuhören, weil es mich nervös mache.
»Warum gehen wir nicht einfach hoch und bringen die Sache hinter uns?«, schlug er mit gespielt gleichgültigem Ton vor. »Dann können wir endlich ins Bett gehen. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich bin total müde.«
»Klar, warum nicht?«, stimmte Simon zu. »Deine Geister werden ja wohl kaum die Uhr kennen, Trudie – oder glaubst du, sie halten sich an die britische Sommerzeit?«
Trudie reagierte nicht auf die Ironie in der Bemerkung. »Okay«, sagte sie. »Wenn alle bereit sind, dann lasst uns nach oben gehen.«
Als wir aufstanden, fegte eine Brise wie ein heißer Atemzug über den Garten. Plötzlich wollte ich überhaupt nicht mehr ins Haus gehen. Finster ragte es vor uns auf, eine düstere, unförmige Masse voller Geflüster und Geheimnisse – und als wir hineingingen und Simon die Küchenlampe anschaltete, blendete uns das helle Licht. Einen Moment standen wir reglos da, blinzelnd und unsicher wie auf frischer Tat ertappte Einbrecher.
Trudie ging vor uns die Treppe hinauf. Sie hatte offensichtlich ihr Selbstvertrauen wiedererlangt und übernahm ganz selbstverständlich die Leitung des Projekts. Simon stieß mit dem Fuß gegen die Ecke einer Holzkommode, die auf dem oberen Absatz stand: Der dumpfe Schlag hallte durch das Treppenhaus.
»Verdammt, Mann«, sagte Danny. »Du weckst ja die Toten auf. Nicht nötig, unser Kommen im Voraus anzukündigen.«
Seine Bemerkung war eindeutig witzig gemeint, aber in Trudies Antwort schwang keinerlei Ironie. »Es ist schon in Ordnung. Sie weiß bereits, dass wir kommen. Sie freut sich. Genau das hat sie sich gewünscht.«
Wir waren inzwischen daran gewöhnt, auf diese Art über die ermordete Agnes zu sprechen, dennoch jagte mir Trudies Bemerkung einen Schauer über den Rücken; sie beschwor in mir ein Bild der ermordeten Agnes herauf, wie sie in aller Ruhe in dem Zimmer auf uns wartete. Als Trudie die Tür öffnete, war ich beinahe überrascht, es genauso vorzufinden, wie wir es verlassen hatten. Die Luft war vom Duft der Räucherstäbchen angefüllt, und die Kerzen brannten noch, was mir sehr merkwürdig vorkam. Sie hätten schon längst heruntergebrannt sein müssen. Dann fiel mir ein, dass sich Trudie im Laufe des Abends mehrmals davongestohlen hatte – vermutlich, um die abgebrannten Kerzen zu ersetzen.
Den Anweisungen folgend, die Trudie uns früher am Abend gegeben hatte, setzten wir uns im Schneidersitz im Kreis auf den Boden und fassten uns an den Händen. In bester Dinnerparty-Manier platzierten wir uns automatisch in der Junge-Mädchen-Junge-Mädchen-Reihenfolge und bewahrten Schweigen, was laut Trudie unbedingt erforderlich war. »Sobald der Kreis geschlossen ist, darf er nicht mehr gebrochen werden«, hatte sie uns gewarnt. Also hatte ich eine genaue Vorgabe – nicht sprechen und Händchen halten –, was mir im Moment sehr entgegenkam.
Sobald jeder von uns eine bequeme Position gefunden hatte, senkte sich eine tiefe Stille über das Zimmer. Die Kerzenflammen waren durch unsere Bewegungen ins Flackern geraten, doch nun brannten sie wieder ruhig und gleichmäßig. Von meinem Platz aus konnte ich an der Stelle, wo Tür und Dielenbretter nicht ganz abschlossen, einen Lichtstreifen sehen. Ich hatte mit Ouija-Brett und Séancen bereits in der Schule herumexperimentiert, wie Teenager es damals taten und vermutlich nach wie vor tun; doch diese Sitzungen waren immer von viel Gekicher begleitet gewesen, oder ein Teilnehmer war der Versuchung erlegen, seltsame Geräusche von sich zu geben, worauf die anderen ihn tadelten, weil er die Sache nicht ernst genug nahm. Insgeheim hatte ich damit gerechnet, Danny oder Simon würden diese Rolle übernehmen, aber das geschah nicht. Die Stille verdichtete sich, bis schließlich Trudies Stimme ertönte – leise und melodiös: »Du kannst kommen. Wir sind bereit.«
Wieder trat Schweigen ein. Ich bemerkte Dannys Kreuz, das unheilvoll im Kerzenlicht glitzerte.
»Ich kann sie sehen«, hauchte Trudie mit weicher Stimme.
Ich hob den Blick, um zu sehen, wo Trudie hinblickte – erwartete für den Bruchteil einer Sekunde, eine Erscheinung der ermordeten Agnes im Zimmer anzutreffen, doch Trudies Augen waren geschlossen. Was immer sie sehen mochte, es spielte sich in ihrem Kopf ab.
Danny drückte meine Hand, ob als Beruhigung oder als Zeichen seiner Belustigung, habe ich nie erfahren. Ich sah ihn nicht an.
Trudie begann mit einer leisen, träumerischen Stimme zu sprechen. Trotz unserer räumlichen Nähe konnte ich sie kaum verstehen. »Sie geht in den Wald. Sie hat keine Angst – nein, sie lacht und ist fröhlich … Es wird dunkel zwischen den Bäumen, ich kann sie nicht mehr gut sehen – warte, Agnes – geh nicht so schnell … Da ist ein Mann – ein Mann mit dunklem Haar und einem Bart …«
Was du nicht sagst, dachte ich. Das ist genau das, was in den Zeitungen gestanden ist.
»Er ist ihr Freund, deshalb hat Agnes keine Angst. Warte …« Ich spürte, wie sich parallel zu der ansteigenden Spannung in Trudies Stimme meine Nackenhaare aufstellten. »Er ist nicht bei ihr – sie ist allein – sieht sich um – verloren in der Dunkelheit – überall nur Dunkelheit.« Trudies Stimme schwoll an. Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass sie eine verdammt gute Schauspielerin war.
»Nein!« Sie schrie das Wort förmlich hinaus. »Agnes – er taucht hinter ihr auf – Agnes – ich sehe sie jetzt – ganz deutlich. Sie hat langes, dunkles Haar – sie sieht aus wie ich …« Trudie brach in lautes Schluchzen aus. »Das bin ich – sie hat mein Gesicht.«
Als ich mich aus dem Kreis löste, merkte ich, dass ich mich mit den Nägeln in Simons Hand gekrallt hatte. Ich kroch hinter Danny, um zu Trudie zu gelangen, nahm sie in die Arme und wiegte sie wie ein Kind, während die Kerzen, die durch die jähe Bewegung ins Flackern geraten waren, unsere Schatten wild zuckend an die Wände und die Decke warfen. »Es ist gut«, sagte ich. »Alles ist gut.«
»Du hättest den Kreis nicht durchbrechen dürfen«, wisperte sie unter Tränen.
Simon stand auf und knipste das Licht an. Danny nahm sein Kruzifix wieder an sich und blies die Kerzen aus. Während Trudie sich langsam aufrichtete, vibrierte das erste Donnergrollen durch das Haus. Simon nahm mir die Rolle des Trösters ab. Ich hörte, wie er ihr anbot, bei ihr im Zimmer zu übernachten, was sie mit einem gemurmelten »Danke« annahm.
Das Gewitter, das sich so langsam genähert hatte, gewann binnen weniger Sekunden an Stärke; der Donner hallte vom Dach wider, jagte uns auf den Treppenabsatz hinaus. Während Simon Trudie zu ihrem Zimmer begleitete, den Arm beschützend um ihre Schultern gelegt, flohen Danny und ich förmlich in unser eigenes kleines Refugium, schlossen die Tür hinter uns ab, als wollten wir uns gegen unsichtbare Mächte verbarrikadieren, und lachten dann nervös, während wir uns in einem unausgesprochenen Wettkampf um das Privileg, als Erster im Bett zu sein, die Kleider vom Leib rissen. In der Zwischenzeit wütete das Gewitter mit voller Kraft – wie in einem schlechten Gruselfilm mit lautem Donnerkrachen und zuckenden Blitzen, die das Zimmer in regelmäßigen Abständen erhellten.
Unser Doppelbett war eine Insel der Normalität, ein sicherer Hafen, der uns vor Trudie und ihrem ganzen Unsinn schützte. Sobald wir nackt unter der Decke lagen, schmiegte ich mich dicht an Danny an, fühlte den kühlen Umriss seines Kruzifixes an meiner Wange. Er drückte mir ein paar Küsse auf den Scheitel, ehe er fragte: »Meinst du, sie hat wirklich etwas gesehen?«
»Na ja, sie scheint es jedenfalls zu glauben. Aber sie war schon davor ziemlich überdreht. Die ganze Sache ist sicher nur ein Produkt ihrer Fantasie.«
»Ziemlich sicher sogar«, stimmte Danny zu. Er klang erleichtert. Ich hätte ihn nie für abergläubisch gehalten. Vielleicht war es seine katholische Erziehung – die ständige Gegenwart dieser längst verstorbenen Heiligen, die im Äther herumschwebten und auf die Fürbitten der Gläubigen warteten.
»Wenn sie noch einmal so etwas vorschlägt, sollten wir sie lieber davon abbringen«, sagte ich.
»Ja«, stimmte Danny mir sofort zu. »Das macht sie nur fertig.«
Ich lag in seinen Armen, durchlebte im Geist noch einmal Trudies Zusammenbruch. Sie hatte sich zu sehr mit der Geschichte der ermordeten Agnes beschäftigt. War es richtig, einem Schulmädchen zu erlauben, sich halb tot zu fürchten? Ich hatte automatisch eingewilligt, Trudies Geheimnis für mich zu behalten, doch nun begann ich an der Richtigkeit meiner Entscheidung zu zweifeln.
Ein Blitz flammte auf, begleitet von einem lauten Donnerhall.
»Wow«, sagte Danny. »Das Gewitter scheint direkt über uns zu sein.« Ein neuerliches zeitgleiches Blitzen und Donnern bestätigte die Vermutung; der Lärm machte mich einen Moment lang fast taub und ließ uns beide unwillkürlich zusammenzucken, um uns gleich darauf gegenseitig auszulachen.
»Man kann genau ausrechnen, wie weit das Gewitter entfernt ist«, sagte Danny. »Wenn man die Sekunden zwischen Blitz und Donner zählt, die Anzahl dann mit einer bestimmten Zahl multipliziert und durch eine andere Zahl teilt, erhält man die Entfernung in Meilen.«
Der Moment für ein vertrauliches Gespräch über die von zu Hause ausgerissene Schülerin Trudie Finch war vorbei: untergegangen im Tumult des Gewitters.
Ich nahm an, Simons Übernachtung in Trudies Zimmer werde sich als Katalysator für ihre Beziehung erweisen, doch nach dieser einen Nacht schlief Simon wieder allein in seinem Zimmer. Weder schienen sie sich nähergekommen zu sein, noch war irgendein Gefühl von Verlegenheit zwischen ihnen zu spüren. Ich gestehe, dass mich das verwirrte. Trudie schien mit jedem Tag schöner zu werden. Wie konnte Simon gegen diesen Anblick immun sein? Während die Tage verstrichen, ertappte ich mich dabei, wie ich Trudie mehr und mehr bewunderte. Auch ich zog nun mein T-Shirt hoch und verknotete es unter der Brust, nur sah das bei mir leider nie so gut aus. Vielleicht fand Simon Trudie ebenfalls ein wenig zu unreif, mit ihren Spinnereien und ihrer amateurhaften Dramatik – obgleich ich keinen Zweifel daran hatte, dass ihre Angst in der Nacht der Séance echt gewesen war. Ich beschloss, nett zu Trudie zu sein und mir etwas einfallen zu lassen, das sie von ihrer ungesunden Beschäftigung mit der toten Agnes Payne ablenken würde.
Allerdings war Trudie nicht die Einzige, die Ablenkung benötigte. Meine anfängliche Euphorie angesichts der endlos langen Ferien begann nach und nach zu schwinden. Die ständige Hitze setzte uns zu, infizierte alles andere: Sogar die Zeit verlangsamte sich zu einem Kriechen, dehnte unsere Tage endlos aus, jeder neue Tag etwas länger als der vorangegangene. Darüber hinaus waren wir ans Haus gebunden, es sei denn, Simon war abkömmlich, um uns zu fahren – doch Simon und Danny konzentrierten sich auf die Gartenarbeit, um ihren Anteil des Abkommens mit Simons Onkel zu erfüllen. Ein-, zweimal ertappte ich mich bei dem Gedanken, ob es nicht lustiger gewesen wäre, mit Cecile nach Frankreich zu fahren – Gedanken, die ich sofort wieder verbannte, nicht nur, weil sie mir Danny gegenüber unloyal erschienen, sondern auch, weil sie meine Entscheidung infrage stellten. Schließlich hatte mich niemand gezwungen, nach Herefordshire zu gehen.
Zu Beginn hatte ich freilich mit weitaus mehr Trubel gerechnet. Bis zur letzten Minute war mir nicht klar gewesen, dass sich die Party auf uns drei beschränken würde, und danach war ich bereits viel zu aufgeregt, um mich daran zu stören. Am Anfang hatte so viel Enthusiasmus und Arbeitseifer geherrscht – in der Woche vor der Abreise trafen wir uns eines Abends in einem Pub, wo wir Einkaufslisten anfertigten und Simon uns Skizzen des geplanten Gartenbauprojekts vorlegte, die wir mit einer Inbrunst diskutierten, die wir nie wiedererlangten, sobald die tatsächlichen Grabungsarbeiten begannen. Am Ende dieses Abends hätte niemand unseren Teamgeist oder unsere völlige Hingabe an das Projekt in Zweifel ziehen können. Kein einziges Mal fragte ich mich, ob Simon und ich gut genug miteinander auskämen, um den ganzen Sommer zusammen in einem Haus zu verbringen. Ich ging einfach davon aus, dass unsere gemeinsame Zuneigung für Danny ein friedliches Miteinander gewährleisten würde.
Das Haus selbst bot freilich schon genügend Anlass für Enttäuschung und Frustration. Da es keinen Gasanschluss gab, mussten wir mit einem altertümlichen Elektroherd vorliebnehmen, dessen Platten ewig brauchten, um warm zu werden, und auf denen alles sofort anbrannte, sobald man sich nur einmal kurz wegdrehte. Unnötig zu sagen, dass die Töpfe keine Beschichtung hatten und deshalb ständig mit einem Schwamm aus Stahlwolle gescheuert werden mussten. Zwei Tage nach der Seánce war ich gerade mit solch einer Scheueraktion beschäftigt, als Simon in die Küche kam.
»Ich hasse dieses blöde Haus!«, sagte ich und schmiss die schmutzige Pfanne mit so viel Schwung in die Seifenlauge, dass eine Miniaturflutwelle über das Spülbecken schwappte.
»Dann fahr doch nach Hause«, entgegnete Simon gereizt.
»Du weißt sehr genau, dass ich nicht nach Hause fahren kann«, begann ich, doch er war schon wieder gegangen.
Gekränkt überließ ich das schmutzige Geschirr sich selbst und machte mich auf die Suche nach Danny, der in der ausgehobenen Grube kniete und mit einer Gartenschere irgendwelche alten Baumwurzeln attackierte. Er hielt in der Arbeit inne und blickte mit zusammengekniffenen Augen zu mir hinauf. »Was ist los?«
»Simon war in der Küche gerade ziemlich gemein zu mir.«
»Wieso? Was hat er gemacht?«
»Er meinte, wenn es mir hier nicht gefällt, soll ich nach Hause zurückgehen.«
Danny zögerte einen Moment, ehe er sagte: »Also … völlig unlogisch ist das ja nicht …«
»Er hat mich angeschnauzt.«
»Ach, nimm das nicht so tragisch. Er hat es bestimmt nicht so gemeint. Si ist der netteste Typ der Welt.«
»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«
»Ich stehe auf niemandes Seite«, erklärte Danny ruhig. »Aber es ist verdammt heiß, und Si ist wahrscheinlich müde. Wir sollten Nachsicht miteinander üben. Irgendwelche Unstimmigkeiten wird es immer geben. Du bist zu empfindlich, Süße, das ist das Problem. Vergiss es einfach, okay?«
Natürlich hatte Danny recht. Wir mussten alle darauf achten, keinen unnötigen Streit zu provozieren. Ich begegnete Simon erst am späten Nachmittag wieder, und wir verloren beide kein Wort mehr über die Meinungsverschiedenheit in der Küche. Danny war inzwischen in einer besonders ausgelassenen Stimmung; er war entschlossen, uns alle zum Lachen zu bringen, und füllte ständig unsere Gläser nach, noch ehe wir ausgetrunken hatten. Ich wusste, ich sollte mich ihm zuliebe zusammenreißen – er wünschte sich so sehr, dass Simon und ich miteinander auskämen, doch seine Weigerung, eindeutig Stellung zu beziehen, wollte mir nicht aus dem Kopf gehen. Es erinnerte mich an die balloon debates in meiner Schule. Es ging darum, sich vorzustellen, dass man gemeinsam in einem Heißluftballon saß. Aber der Ballon verlor an Höhe, deshalb musste einer aus der Gruppe über Bord gehen, um dadurch den Ballon in der Luft zu halten. Jeder brachte nun seine Argumente vor, warum gerade er unbedingt im Ballon bleiben müsse. Angenommen, Danny müsste sich zwischen mir und Simon entscheiden – wen würde er wählen, um den Ballon zu retten?
Danny und ich waren am nächsten Morgen ungewöhnlich früh wach. Ich machte für uns Tee und Toast, und weil nach Beendigung unseres Frühstücks von den anderen noch immer nichts zu sehen war, brachen wir zu einem Spaziergang auf. Das Gras war noch feucht, und meine Sandalen spritzten Tautropfen auf meine Zehen hoch, wo sie wie winzige Juwelen glitzerten. Entlang des Rosenbeets stand eine alte Steinbank, die trocken genug war, um sich zu setzen, und so ließen wir uns dort nieder und lauschten dem Gesang der Vögel.
»Du siehst heute früh unglaublich schön aus«, sagte Danny. »Die Rosen umrahmen dein Gesicht wie ein Heiligenschein. Nein, beweg dich nicht«, fügte er hinzu, als ich mich zu den Rosen umdrehte. »Bleib genau so sitzen. O Mann, ich wünschte, ich hätte meine Kamera mitgenommen.« Er hielt inne. »Warte – nicht bewegen. Ich bin gleich wieder zurück.«
Er eilte auf das Haus zu, ohne auf meine Antwort zu warten. Folgsam blieb ich sitzen wie ein Modell für ein Porträt, bis er mit der Gitarre in der Hand zurückkehrte. Schweigend setzte er sich mit gekreuzten Beinen zu meinen Füßen und begann zu spielen. Ich erkannte die Melodie sofort, und als er den Text anstimmte, stieg mir ein Kloß in die Kehle, und ich wusste, dass ich diesen Moment, was immer auch passieren mochte, niemals vergessen würde – der strahlende Morgen, der zarte Rosenduft und Danny im Gras zu meinen Füßen.
Er war gerade bei der letzten Strophe angelangt, als ihn ein dünner Wasserstrahl traf. Das Lied endete in einer abrupten Disharmonie. Beide wandten wir uns um und sahen Trudie, die damit beschäftigt war, aus der Wasserpistole in ihrer Hand eine zweite Ladung abzufeuern, ehe sie um das Haus herum davonstürmte. Danny sprang auf, um die Verfolgung aufzunehmen, und ließ seine Gitarre im Gras liegen. Ich hob sie auf und ging den beiden nach. Als ich sie eingeholt hatte, sah ich, wie sie sich mit bleichen, wutverzerrten Gesichtern gegenüberstanden. Die Wasserpistole lag zerbrochen neben ihnen auf dem Boden.
»Du hast mir das Handgelenk verdreht«, rief Trudie anklagend. »Außerdem hast du kein Recht, meine Sachen kaputtzumachen.« Empört stampfte sie davon.
Ich hängte mich bei Danny ein. »Sie ist so kindisch«, sagte ich. »Ignorier es einfach.«
»Aber sie hat die ganze Stimmung zerstört.«
»Nein, es war wunderschön.«
»Doch«, beharrte er trotzig. »Sie hat uns diesen besonderen Moment verdorben.«
»Wir werden noch viele besondere Momente haben.«
In dem Augenblick tauchte Simon in einem der oberen Fenster auf und rief Danny zu, er werde in einer Minute unten sein. Obwohl auch ich leicht verärgert über Trudie war, wusste ich, dass sie nur Spaß gemacht hatte, und sobald die Jungs mit ihrer Arbeit begannen, ging ich zu ihr, um meinen Friedenswillen zu bekunden.
Nachdem wir halbherzig ein wenig aufgeräumt hatten, schlug Trudie einen Waldspaziergang vor. Obwohl der Wald nur wenige Felder entfernt war und man über einen Fußweg, der an einer Seite des Gartens entlang verlief, direkt dorthin gelangte, hatten wir uns noch nie dazu aufgerafft. Ehrlich gesagt, hatte keiner von uns das geringste Interesse an dem Wald gehabt, bis Trudie sich auf die Agnes-Payne-Geschichte fixiert hatte und seitdem in regelmäßigen Abständen vorschlug, den Wald gemeinsam zu erkunden. Zum Glück war uns immer ein guter Grund eingefallen, um die Sache aufzuschieben – wir mussten in die Stadt fahren und Milch besorgen, oder die Zeit war zu knapp, da wir in Kürze mit der Vorbereitung des Abendessens beginnen mussten –, aber als sie den Vorschlag an dem Tag mit dem Wasserpistolen-Zwischenfall machte, fiel mir nicht eine einzige Ausrede ein, und so verlegte ich mich auf: »Ich würde lieber hierbleiben und lesen«, was sich sogar in meinen eigenen Ohren ziemlich lahm anhörte.
»Ach, komm schon, Katy«, sagte sie, »du hast doch nicht etwa Angst, oder?«
Ohne es zu ahnen, hatte sie die magische Formel gefunden, mit der mich mein älterer Bruder meine gesamte Kindheit über zu allen möglichen Dummheiten angestachelt hatte.
»Natürlich nicht«, sagte ich. »Ich will einfach nur hierbleiben, das ist alles.«
»Du hast Angst.« Trudie wirkte belustigt.
»Nein, habe ich nicht.« Übertrieben sorgfältig markierte ich die Seite in meinem Buch und legte es beiseite. »Wenn du unbedingt willst, dann komme ich eben mit.«
Ich konnte mich nicht entsinnen, jemals irgendwelche Spaziergänger auf dem Fußweg neben dem Grundstück gesehen zu haben, und entsprechend war er auch von Unkraut überwuchert. Als wir im Gänsemarsch den Weg entlanggingen, redete ich mir ein, ich hätte mich nur um Trudies willen geweigert, in den Wald zu gehen. Sie war so fantasievoll und labil und würde nur wieder endlos über diese Mordgeschichte schwafeln. Aber weil sie darauf bestanden hatte, war es wahrscheinlich das Klügste, ihr ihren Willen zu lassen. Sobald ihre Neugierde befriedigt wäre, würde sie hoffentlich das Interesse an dieser blöden Geschichte verlieren.
Aus der Ferne hatte Bettis Wood dunkel und dicht ausgesehen, doch als wir näher kamen, wirkte er gar nicht mehr so unheimlich. Die Bäume – die meisten davon Laubbäume – standen relativ weit voneinander entfernt, und ihr dichtes Laub verwob sich zu einem grünen, schattigen Netzwerk, das hin und wieder Ausblick auf ein Stück klaren blauen Himmel bot. Nach wenigen Metern im Wald verzweigte sich der Fußweg zu einem Gewirr aus miteinander verbundenen Pfaden, ausgetreten von anderen Spaziergängern und zerfurcht von Kaninchenlöchern. Wir gingen über fadenscheinige Teppiche aus getrocknetem Laub, das von dem gleichen fahlen Orange war wie der harte, sandige Boden darunter.
Nach kurzer Zeit gelangten wir an eine Lichtung, die einheimische Kinder in eine Art Abenteuerspielplatz verwandelt hatten. Neben einem Schwingseil und einem Brett, das über einem gefällten Baumstamm lag und als Wippe diente, hatte man sich auch mithilfe diverser alter Seile und Plastikwäscheleinen an der ehrgeizigen Konstruktion eines zwischen zwei Bäumen gespannten Kletternetzes versucht.
»Toll«, rief Trudie und eilte sofort auf das Schwingseil zu. Sie schob den Knoten zwischen ihre Schenkel und stemmte sich ab.
Wir schaukelten abwechselnd an dem Seil, ehe wir uns auf die Wippe setzten, für die wir allerdings zu groß waren.
»Was für ein irrer Spielplatz für Kinder«, sagte Trudie.
»Ich frage mich, wer ihn benutzt«, entgegnete ich. »Hier wohnt doch kaum jemand.«
»Ach, eine Familie würde schon genügen – und die wohnt wahrscheinlich auf der anderen Seite des Waldes. Gibt es weiter unten an der Straße nicht noch einen Weg in den Wald?«
Die Entdeckung, dass Bettis Wood in Wahrheit ein glücklicher Ort war, an den Kinder zum Spielen kamen, versetzte mich in Hochstimmung. Statt mit blutrünstigen Hammermördern war der Wald in meiner Vorstellung nun mit herumtollenden Dachsen und einer freundlichen Mrs Tiggy-Winkle, der Wäsche waschenden Igelfrau, bevölkert. Selbst Trudies halbherzige Überlegung: »Ich frage mich, wo genau sie Agnes gefunden haben«, konnte meiner Waldidylle keinen Dämpfer versetzen.
Nachdem wir alles, was der Spielplatz zu bieten hatte, ausgiebig ausgekostet hatten, ließen wir uns auf einen Streifen Gras fallen. Ich lag auf dem Rücken und betrachtete das Sonnenlicht, das durch das Laub sickerte. Ich fand heraus, dass ich, wenn ich abwechselnd ein Auge zukniff, den über mir aufragenden Zweig von einer Seite der Sonne zur anderen springen lassen konnte. Ich hatte schon längst aufgegeben, Trudie direkt nach ihrer Herkunft zu fragen, und versuchte nun eine neue Taktik. »Was wirst du tun, wenn der Sommer vorbei ist?«
»Nach Hause zurückgehen, nehme ich an.«
»Aber ich dachte, du bist weggelaufen?«
»Ich bin nicht weggelaufen – ich bin weggegangen. Egal, ich denke, meine Eltern werden bis dahin ihre Lektion gelernt haben.«
»Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass sie wahrscheinlich verrückt vor Sorge sind? Bestimmt glauben sie, du bist tot.«
»Das ist doch Blödsinn«, erwiderte sie – doch ich nahm die leichte Unsicherheit in ihrer Stimme wahr. »Warum, um alles in der Welt, sollten sie so etwas glauben?«
»Weil man das in so einer Situation immer glaubt.«
»Meine Eltern nicht.«
»Natürlich tun sie das. Selbst wenn man nur den Bus verpasst hat, glauben Eltern schon, dass man in irgendeinem Leichenschauhaus liegt.«
»Mm – kann sein.«
»Du könntest sie jederzeit anrufen. Oder jemand anderen. Einfach, damit sie wissen, dass du gesund bist.«
Ein, zwei Minuten herrschte Stille, und als Trudie dann wieder das Wort ergriff, wechselte sie das Thema und beschwerte sich darüber, wie endlos lang Simon heute früh das Bad okkupiert hatte. »Ich musste so dringend aufs Klo. Ehrlich – ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der so lange braucht. Er muss der eitelste Junge des Universums sein. Ist dir schon einmal aufgefallen, wie viel Zeit er damit verbringt, dieses Stirnband um seinen Kopf zu binden, bevor sie zu buddeln anfangen?«
Über Simon zu lästern bot uns einen angenehmen Zeitvertreib. Nach einer Weile stand Trudie auf, um noch einmal an dem Seil zu schaukeln, und danach beschlossen wir, zum Haus zurückzugehen.