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Die magischen Schutzschilde um das Haus widerstanden lange genug, um auch den letzten Bewohner darauf aufmerksam zu machen, dass jemand versuchte, sich Zutritt zum Haus zu verschaffen. Es kostete Judith, Maria und Babel einen Teil ihrer Kraft, aber ohne das Einreißen dieser Energiemauern wäre ein Kampf von Anfang an aussichtslos gewesen, denn sie hätten ihre eigene Magie bei jedem Zauber behindert.
Als sie die Barrieren endlich so weit eingerissen hatten, dass sie das Haus betreten konnten, lief ihnen der Schweiß bereits aus allen Poren, und Judiths Vögel flatterten unruhig mit den Flügeln. Ohne ein weiteres Wort trat Babel gegen die Haustür, deren Schloss unter der Kraft des mit Magie verstärkten Tritts aus dem Holz sprang. Das Türblatt krachte gegen die Wand und gab den Blick auf die pompöse Eingangshalle frei.
Die Taktik, ein Haus zu stürmen, dessen Bewohner wussten, dass man angriff, war vielleicht nicht die raffinierteste Strategie, in ihrem Fall jedoch die schnellste. Die Zeit für Raffinesse war vorbei, und Clarissa wusste, dass Pistolenkugeln gegen die Hexen aufgrund ihrer Schutzwalle schlecht einzusetzen waren, sie würde sich hüten, auf sie zu schießen.
Babel spürte die Magie, die dem Haus seit Jahrhunderten innewohnte, auf der Haut. Es war beinahe so, als könnte das Haus sie als Eindringling erkennen. Auch Judith und Maria nahmen die fremden Energien wahr und verzogen das Gesicht. Aber Babel spürte ebenso ihre eigene Magie in jeder Zelle pochen.
In der Halle standen ihnen Nikolai und die Zwillinge gegenüber. Das war nicht anders zu erwarten gewesen. Sie waren das Kanonenfutter, die Taktik eines Feiglings. Clarissa würde sich in ihr Magiezimmer zurückziehen und ihre stärksten Kinder zum Schutz um sich sammeln. Ihr Enkel, der nach seiner Begegnung mit Babel kaum noch Magie besaß, und die beiden angeheuerten Hexen waren Clarissa im Grunde egal.
Nikolai steckte die Furcht vor Babel noch immer sichtlich in den Knochen. Er wirkte wie ein Tier in der Falle, und sein Blick huschte nervös zwischen ihnen hin und her. Beinahe verspürte sie Mitleid mit ihm, aber das konnte sie sich nicht leisten. Das geringste Zögern konnte die Entscheidung über Sieg und Niederlage bringen. Außerdem hatte er seine Entscheidung getroffen, als er bei seiner Großmutter geblieben war, obwohl er wusste, was sie tat.
Mit den Zwillingen lag die Sache anders.
Sie brannten auf ihre Revanche. Wenn es ihnen gelingen würde, die Oberhand im Kampf zu erhalten, würden sie mit Babel und Judith kurzen Prozess machen. Ihre Energie war mit der des Hauses lose verbunden worden, sodass auch sie auf seine Magie zurückgreifen konnten.
»Ihr habt es einfach nicht begriffen, oder? Einmal Dresche bekommen, und jetzt wollt ihr mehr?«
Sie bekam keine Antwort, nur einen fiesen magischen Schlag gegen den Kopf, der sie nach hinten zucken ließ.
Sie haben einiges dazugelernt, seit dem letzten Mal.
Es war besser, wenn weder Judith noch sie selbst mit ihnen kämpfte, dann blieb das Überraschungsmoment. Babel wusste, dass sie es schaffen musste, nach oben zu kommen. Mit dem Empfangskomitee konnte sie sich nicht erst auseinandersetzen.
Maria schien zu ahnen, was Babel dachte, denn sie sagte bestimmt: »Nimm Sam und Judith mit nach oben, um den Rest kümmern wir uns.« Dann packte sie Tom und Tamy an den Handgelenken und übertrug einen Teil ihrer Magie auf sie.
Überrascht kniff Tamy die Augen zusammen, für sie musste es sich anfühlen, als hätte sie Koffein direkt in die Blutbahn injiziert bekommen. Ihre Hände begannen zu zittern, und sie ballte sie zu Fäusten.
Vielleicht verstehst du mich jetzt besser.
Für Tom war es anders. Er konnte die magischen Energien, die seinen Körper durchdrangen, noch deutlicher spüren. Für ihn musste es sich anfühlen, als würde jemand das Erbe seiner Vorfahren zum Leben erwecken. Sein Energienetz leuchtete bunt auf und nahm Babel mit seiner Schönheit beinahe den Atem. Trotz der Ohrringe, der Tätowierungen und der Lederhose wirkte er wie eines dieser übernatürlichen Wesen, von denen er abstammte.
Er wehrte sich nicht gegen die Hexenmagie, auch wenn sie ihm fremd war, denn er wusste, dass Maria ihm helfen wollte.
Die Zwillinge fassten sich an der Hand, machten aber keine Anstalten, den Weg nach oben zu versperren. Die Treppe war frei, und Babel ahnte, warum. Sie hatten sicher die Anweisung bekommen, Babel nach oben durchzulassen, denn wenn sie hier unten mit den anderen aufgeräumt hatten, sollten sie Babel den Rückweg versperren und sie einkesseln. Es war ein ebenso simpler wie effizienter Plan – vorausgesetzt, Maria würde verlieren.
Im Vergleich zu den anderen Hexen wirkte ihre Mutter schwächer, aber sie war erfahren und hatte ihren Anteil an Auseinandersetzungen mit anderen Hexen gehabt. Sie war ein bisschen wie diese Straßenhunde, denen schon ein Ohr fehlte und die hinkten, aber im Kampf zäh und einfallsreich waren.
Du kannst sie nicht alle gleichzeitig beschützen, tu einfach deinen Teil und lass sie ihren erledigen.
Babel nickte Judith zu, dann setzte sie sich in Bewegung. Sie warf einen letzten Blick zu Tom, der ihr ein kurzes Grinsen schenkte und dann auf Nikolai zustürmte, der ein Schnappmesser in der Hand hielt, dessen Klinge mit einem lauten Klicken aufsprang.
Judith und Sam folgten ihr.
Babel sah sich nicht um, sie rannte die Treppe hinauf, die Blicke der Personen auf den Ölgemälden, die überall hingen und von der Familiengeschichte erzählten, schienen ihr zu folgen. Wie Dreck blieb die Energie der anderen Hexen an ihr kleben, aber davon ließ sie sich nicht beirren. Das war eben so, wenn man in das Haus einer anderen Hexe eindrang: schließlich hatte sie gewusst, worauf sie sich einließ.
Die Symbole auf ihrer Haut begannen sich zu erhitzen, bis sie nahezu glühten. Babels Wut nährte ihre Magie, und das getrocknete Blut verdampfte langsam zu einem schwachen Dunst.
Jetzt war sie bereit für die Auseinandersetzung mit Clarissa, es gab kein Zurück mehr, denn die Magie verselbstständigte sich und brauchte ein Ziel, auf das sie gerichtet werden konnte. Mit jedem Schritt färbten sich die Stufen dunkler, und an den Wänden löste sich die wertvolle Stofftapete. Selbst die Ölgemälde begannen, Blasen zu werfen.
Geschieht euch recht.
Babel musste nicht lange suchen, um herauszufinden, in welcher Richtung das Magiezimmer lag. Wie Wasser flossen die Energien den breiten Flur entlang auf sie zu. Sie spürte, wie ihre Schritte schwerer wurden, aber sie bremste das Tempo nicht. Von unten waren die ersten Schreie zu hören. Es war Tamys Stimme, und Babel sah, wie Judith zögerte.
Nur kurz, nur einen Moment, dann senkte sie den Kopf und lief weiter.
Ich weiß, wie du dich fühlst, dachte Babel und strich flüchtig mit der Hand über Judiths Arm.
Doch die nickte nur grimmig und murmelte: »Lass Sam und mich zuerst reingehen. Sieh einfach zu, dass du zu Clarissa durchkommst. Wenn sie fällt, geben die anderen auf.«
Es war ein bisschen wie beim Football. Die erste Linie versuchte, den Gegner in Schach zu halten, damit der Quarterback zum Zug kam.
Die Tür am Ende des Flurs stand offen. Sam betrat den Raum als Erster, über seinen Kopf hinweg flogen Judiths Krähen, die sich auf die am nächsten stehende Person stürzten: Lorelei, Clarissas Tochter.
Die Hexe hatte gerade noch genug Zeit, die Arme nach oben zu reißen und einen Schutzwall aufzubauen, als die Vögel auch schon dagegen anflogen. Wieder und wieder pickten ihre Schnäbel gegen die magischen Energien, die Lorelei umgaben – und waren so Judiths Waffe.
Ihre Schwester blieb in der Tür stehen und hielt sich rechts und links am Türrahmen fest. Sie konzentrierte sich darauf, Loreleis Netz zu zerstören, während Sam sich auf Anatol stürzte, der wie ein Schild vor seiner Mutter stand. Der Ausgang dieser Auseinandersetzung war ungewiss. Sam hatte zwar bereits Hexen besiegt, aber Anatol war stark.
Babel tauchte unter Judiths Arm hindurch und wurde sofort von einer magischen Welle erfasst, die sie wie eine heftige Bö an ihr zerrte. Doch sie tat keinen Schritt zurück.
Der Raum war nicht groß, er war weiß gestrichen, und der Fußboden bestand aus Schiefersteinplatten, auf denen sich leicht Symbole mit Kreide aufzeichnen und wieder entfernen ließen. Sowohl der Boden als auch ein Teil der Wände waren von komplizierten Runen und Bildern übersät, aus denen Clarissa ihre Macht zog. Sobald Babel einen Fuß darauf gesetzt hatte, begannen die Symbole, ihre Arbeit zu tun und sie anzugreifen. Wie bissige Hunde schnappten sie nach ihr, gruben sich tief in ihre Energiebahnen und arbeiteten daran, das Netz auseinanderzureißen.
Clarissa selbst stand an der gegenüberliegenden Wand. Gekleidet in einen grauen Hosenanzug, in den ebenfalls Symbole aufgestickt worden waren.
Mein Gott, kommt überhaupt irgendetwas von dir?, dachte Babel und tat einen weiteren Schritt nach vorn, während um sie herum das Chaos tobte.
Sam war es gewohnt, seine Kämpfe körperlich auszutragen, doch das kleine Zimmer ließ ihm kaum Spielraum, da er Babel nicht in die Quere kommen sollte. Sie erkannte, dass er nicht mehr zu bremsen war, seine Augen glühten, seine Haut leuchtete schiefergrau, und sein schönes Gesicht hatte alles Menschliche verloren. Was immer es auch war, das jetzt die Oberhand in ihm hatte, es kannte keine Gnade.
Das musste auch Anatol begriffen haben, denn seine Magie brannte heiß in Babels Energiebahnen, als sich die Männer aufeinanderstürzten. Wie eine Bestie mit Klauen und Zähnen riss und kratzte Sam über die unsichtbare Barriere, die den Hexer schützte. Grauer Rauch stieg auf, es roch nach verbranntem Fleisch. Immer schneller schlug Sam zu, es klang, als würde eine Hacke über eine Schieferplatte gezogen.
Es lief auf die Frage hinaus, ob Sam es schaffen würde, Anatols Schutzschilde zu durchbrechen, bevor ihm der Hexer die Haut vom Leib brannte.
Beide Männer keuchten vor Anstrengung und Schmerz.
Du kannst ihm jetzt nicht helfen, konzentrier dich!
Babel ging weiter auf Clarissa zu, jeder Schritt kam ihr vor, als würde sie durch Honig waten. Doch sie kannte nur ein Ziel: Clarissa.
Da spürte sie plötzlich wieder den kalten Hauch, der die brennende Hitze der fremden Magiewellen abkühlte.
Hilmar.
Clarissa kniff die Augen zusammen, sie nahm wahr, dass Babel Hilfe aus der Totenebene erhielt. Babel verstärkte die Verbindung zu der anderen Ebene, sie spürte, wie die Ebenen miteinander verschmolzen.
Konzentrier dich, du darfst nicht die Kontrolle verlieren. Du darfst nicht vollständig hinübergleiten. Und du darfst den Stimmen der anderen Ebene nicht nachgeben.
Der erste Schlag gegen Clarissas Energienetz kam dem Schlag auf eine Tischplatte gleich. Er war schmerzhaft und brachte den Tisch zum Wackeln, aber die Platte gab nicht nach. Er hatte nicht einmal einen Kratzer im Lack hinterlassen.
Dafür holte Clarissa zum Gegenschlag aus; wie eine Feuersbrunst fegte ihre Magie über Babel hinweg und versuchte, das magische Netz zu durchdringen. Clarissa hatte genügend Zeit gehabt, ihre Kräfte zu bündeln, und Babel wollte sich nicht vorstellen, was sie mit einem Tag mehr Zeit noch geschafft hätte. Eigentlich sollte Babels intuitive Magie im Kampf überlegen sein, weil sie schneller war, aber Clarissas Erfahrung wog einiges auf.
Sie streckte die Hand aus und drängte die magischen Wellen gegen Clarissa, sie konnte sehen, wie die Energien Funken schlugen. Es war, als würde Strom durch die Luft geleitet werden. Und wer damit in Berührung kam, lief Gefahr, sich daran zu verbrennen. Und mit jeder Welle, die sie in Clarissas Richtung schickte, verlor sie mehr Kraft, die ihr helfen sollte, sich gegen die fremde Magie zu verteidigen.
Das Brennen auf ihrer Haut nahm zu, ebenso wie der Schmerz in den Lungen. Selbst die Luft fühlte sich inzwischen heiß an. Mit jedem Atemzug sog sie Feuer in ihr Inneres.
Lange würde sie dem nicht standhalten.
Ihre Knie gaben nach, sie spürte, wie ihre Schuhe auf dem Boden nach hinten rutschten. Ihre Zähne waren schmerzhaft aufeinandergepresst, und ihr Herz raste in einem ungesunden Rhythmus. Das Blut pochte ihr in den Schläfen. Sie wäre nicht die erste Hexe, die einen Schlaganfall erlitt, während sie Magie wirkte.
Aber auch an Clarissa ging das magische Kräftemessen nicht spurlos vorüber. Ihr tropfte Blut aus den Innenwinkeln der Augen, und ihre Hände hatten sich wie bei Spasmen zusammengekrümmt. Die körperliche Anstrengung der Magie musste für die Hexe wegen ihres Alters überaus belastend sein.
Babel spürte, dass auch die anderen im Raum schwächer wurden, der Geruch nach Blut drang ihr in die Nase, und aus Judiths Richtung waren nur noch schwache magische Impulse zu spüren. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, dass die Vögel mit verdrehten Hälsen auf dem Boden lagen – und Babel war froh, dass sie Urd zu Hause gelassen hatten. Es fühlte sich an, als würde der Kampf schon ewig dauern, dabei konnten nur wenige Sekunden verstrichen sein. Alles ging so unglaublich schnell, obwohl es sich viel länger anfühlte – und größere Schäden anrichtete.
In diesem Moment hörte Babel plötzlich das scheußlichste Geräusch, das sie jemals in ihrem Leben gehört hatte. Ein schriller Schrei, so grauenerregend, dass einem schlecht davon werden konnte. Und im selben Moment stürzte sich ein Bündel aus Knochen und Federn auf Clarissas magisches Netz und bohrte mit seinen Krallen ein Loch hinein – während Xotl Zeter und Mordio schrie, als hätten sich die Tore zur Dämonenebene geöffnet und seine schlimmste Brut auf die Menschheit losgelassen.
Mo!
Aber in diesem Augenblick war es Babel gleich, wie der Papagei hierhergekommen war, oder warum er es für seine Aufgabe hielt, ihr im Kampf gegen eine andere Hexe beizustehen. Babel sah ihre Chance, und sie nutzte sie. Denn Xotls Riss in Clarissas Netz verschaffte ihr einen Weg.
Sie rammte sich den Dorn ihres Rings in die Hand und verband Schmerz und Blut und Energie zu einem gezielten Angriff. Mit Wucht durchbrach sie die letzte Barriere und packte Clarissa blitzschnell am Handgelenk.
Das war alles, was es gebraucht hatte.
Ihre Magie verband sich mit Clarissas Netz – etwas in dieser Art hatte sie noch nie gespürt. Als sie Nikolais Netz zerstört hatte, waren seine Energien zwar auch auf sie übergegangen, aber er war deutlich jünger gewesen. Clarissas Netz war komplex und unvorstellbar miteinander verknüpft, es verfügte über Knoten, die älter waren als Babel. Sie verstärkte den Druck und spürte, wie das magische Netz unter ihren Wellen riss.
Im Gegensatz zu ihrem Enkel schrie Clarissa nicht. Sie konzentrierte sich darauf, einen Weg zu finden, das Blatt doch noch zu wenden. Aber das würde Babel nicht zulassen. Sie war wie im Rausch. Bei Nikolai war es darum gegangen, die fremde Magie zu vernichten, doch jetzt wollte sich Babel die Energien einverleiben. Sie war wie ein gefräßiges Monster, das nicht genug bekommen konnte.
Ganze Energiestränge und verwobene Gerüste wandelte sie in pure Energie, die sie in sich aufnahm und zu eigen machte, bis nichts mehr übrig blieb außer dem Grundgerüst der Magie, die direkt mit Clarissas Leben verbunden war.
Du wirst niemanden mehr angreifen, den ich liebe.
Babel sah mit brennendem Blick auf die Hexe herab, die zusammengesunken an der Wand lehnte. Ein leiser Laut kam aus ihrem geöffneten Mund. Sie sah aus wie die alte Frau, die sie war.
Und Babel spürte, wie die Macht, die in ihrem Innern wirbelte, die Dämonen anzog, genau wie die Toten. Die Grenzen zu den anderen Ebenen verschwammen. Wenn sie wollte, konnte sie die Verbindung zu ihnen herstellen, sie befehligen – in sie eintauchen.
Vergiss nicht, was du versprochen hast.
Aber es fühlt sich so gut an. Ich bin stark.
Du bist auch so stark. Selbst ohne diese Macht.
Nur mühsam konzentrierte sie sich auf ihre eigene Ebene, auf das, was sie sehen konnte.
»Du hast zwei Tage, mehr nicht«, war das Einzige, was sie zu Clarissa sagte, bevor sie sich umdrehte und gegen das wappnete, was sie sehen würde.
Sam hockte neben Anatols Körper, die Haut seines rechten Arms hing in Streifen herab, sein Gesicht war blutüberströmt und bereits angeschwollen. Doch das Bedenkliche waren seine zitternden Hände, die den Kampf verrieten, der noch in seinem Innern tobte.
Babel konnte ihm nicht helfen. Wenn sie ihm jetzt zu nahe kam, um ihn mit ihrer Magie zu heilen, würde er sie womöglich in die Dämonenebene hinüberstoßen, selbst wenn er es gar nicht wollte. Sam war am Leben, das war alles, was sie im Moment wissen musste. Der Rest musste warten.
Er hob den Kopf, wie immer, wenn er spürte, dass sie ihn ansah, und schaute ihr direkt in die Augen.
»Bleib bei mir, du Sturkopf, okay«, flüsterte sie, und er nickte schwerfällig.
»Nur noch eine Minute, meine Schöne … eine Minute …«
Sie sah ihm an, dass er große Schmerzen empfand und der Kampf nicht einfach war, aber wann war er das für sie je gewesen?
»Lebt er noch?«, fragte sie und deutete auf Anatol.
»Wenn er bald in ein Krankenhaus kommt.«
Babel ging auf die Tür zu, in deren Nähe Judith lag, und kauerte sich neben ihre Schwester. Ihr Gesicht war bleich, und Blut floss ihr aus der Nase. Sie musste es mit der Hand verwischt haben, denn es bedeckte ihre linke Wange. Auch ihr schönes helles Haar war davon klebrig geworden. Ihr Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig, aber sie atmete. Das war ein gutes Zeichen. Babel versuchte, ihr Energienetz zu erfassen, aber da berührte Judiths Hand schwach ihre.
»Lass …«, flüsterte sie, und Babel ahnte, was sie ihr sagen wollte.
»Du musst ins Krankenhaus, Judith. Lass mich dir helfen.«
»Die anderen … sieh nach ihnen …«
Vielleicht brauchte jemand Babels Hilfe noch dringender als Judith. Aber es fiel Babel schwer, Judith hier einfach liegen zu lassen, wenn sie spürte, wie ihr Herzschlag langsamer und unregelmäßiger wurde. Nur mühsam erhob sie sich, klammerte sich an den Türrahmen und zog sich nach oben. Mit zitternden Knien schob sie sich in den Flur und wankte zur Treppe. Dabei stützte sie sich mit der Hand an der Wand ab.
Schon vom ersten Treppenabsatz aus sah Babel das Chaos, das in der Halle herrschte. Die Wände waren rußig vor Magie. Die Marmorplatten des Fußbodens hatten sich gelöst, und zwei der Stühle, die am Rand gestanden hatten, waren in ihre Einzelteile zerlegt worden.
Tom stützte Maria, sie schien sich den Knöchel gebrochen zu haben, und auch Tom hielt einen Arm verdreht. Er hatte mehrere tiefe Verletzungen, die wahrscheinlich von Nikolais Messer stammten und stark bluteten. Clarissas Enkel war nirgendwo zu sehen, vielleicht war er doch noch rechtzeitig abgehauen.
Tamy kniete über den Zwillingen und fesselte ihre Hände mit einem Gürtel. Sie sah aus, als wäre sie in eine handfeste Prügelei geraten, ihr Gesicht hatte mehrere Platzwunden, und ihre Unterlippe war aufgeplatzt, als hätte sie sich selbst hineingebissen.
Neben ihr hockte Mo, der die Dogge am Halsband hielt, die noch immer auf die regungslosen Hexen am Boden herabknurrte. Selbst der Hund hatte Verletzungen davongetragen und hinkte.
»Hatte ich nicht gesagt, du sollst zu Hause bleiben?«, sagte Babel in Mos Richtung, und wie auf Kommando wandten ihr alle den Kopf zu…
Zitternd nahm sie die letzten Stufen.
Einen Moment lang sagte niemand etwas, dann grinste Mo und erwiderte: »Du bist nicht meine Mutter.« Sein Gesicht war bleich und verschwitzt.
»Und genau deswegen kann ich dir auch die Tracht Prügel deines Lebens verpassen.«
Aber diese Drohung schien Mo an seinem Plaghintern vorbeizugehen, denn er grinste sie so breit an wie schon seit Wochen nicht mehr.
Und aus irgendeinem Grund grinste Babel zurück.
Als sie am Fuß der Treppe angekommen war, hinkte Tom auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Wange. In seinem Blick konnte sie all das lesen, was sie selbst fühlte, und auf einmal war da kein Zweifel mehr, nur noch das Gefühl, dass sie zu ihm gehörte.
Genauso wie zu Sam.
»Ich …«, begann sie, aber er schüttelte den Kopf.
»Ich will dich nicht verlieren«, war alles, was er sagte, bevor er sie vorsichtig auf die Lippen küsste, weil sie beide für Leidenschaft keine Kraft mehr hatten. Aber darum ging es in diesem Moment auch gar nicht. Dafür blieb später noch Zeit.
»Wir müssen dich versorgen, du verlierst zu viel Blut«, sagte sie, als sie sich voneinander lösten.
»Ich werde es überleben.«
Tamy erhob sich ächzend und kam in langsamen Schritten auf sie zu, Babel konnte sehen, dass ihr drei Finger der rechten Hand gebrochen worden waren. Vorsichtig nahm sie Tamys Arm und sandte Magie in ihren Körper. Sofort entspannte sich ihre Miene ein bisschen, doch Babel spürte die Erschöpfung wie Bleigewichte. Dem High der fremden Magie folgte ein böser Sturz.
»Judith?«, fragte Tamy mit heiserer Stimme, und Babel deutete mit dem Kopf nach oben.
»Wir brauchen einen Krankenwagen. Es geht ihr beschissen, aber sie atmet noch. Sie ist zäher, als sie aussieht.«
Tamy nickte und stützte sich schwer auf das Treppengeländer, als sie nach oben ging. Babel hatte nichts anderes erwartet. Sie wandte sich zu ihrer Mutter, die den Kopf an die Wand gelehnt und erschöpft die Augen geschlossen hatte.
»Bist du okay?«
»Ich werde langsam zu alt für solche Sachen, Kind. Du hättest das Problem gleich erledigen sollen.«
Wir haben Glück gehabt. Wir atmen alle noch; es ist mehr, als ich erwartet hatte.
Langsam öffnete ihre Mutter die Augen und schüttelte den Kopf. »Du hast deine Sache gut gemacht, Babel.«
Dieses Kompliment war selten und möglicherweise das einzige Zugeständnis, das sie je von ihrer Mutter zu ihrem Leben hören würde. Aber so war sie nun einmal und Babel im Grunde genommen ja auch.
»Ich werde Vater anrufen, dass er dich abholt.«
»Aber warte damit noch einen Tag. Gib mir die Chance, dass ich mich halbwegs präsentieren kann, sonst …«
»Lässt er dich auf der Couch schlafen, weil du ihm nicht erzählt hast, warum du wirklich herfährst?«
Maria lachte schwach, und schon spuckte sie Blut. »Dein Vater kann bei solchen Sachen komisch sein.«
»Du hast innere Verletzungen.«
»Mach dir keine Sorgen, das wird schon wieder.«
»Du musst ins Krankenhaus, wie Judith.«
Ihre Mutter protestierte nicht. »Fahr den Wagen gegen irgendeinen Baum und sag, wir hatten einen Autounfall.«
Babel nickte.
In diesem Augenblick tauchten Sam und Tamy an der Treppe auf, die Judith zwischen sich genommen hatten, und Tom half Babel, Maria auf die Beine zu kriegen.
»Ruf einen Krankenwagen an«, forderte sie Mo auf, der gerade den Arm ausstreckte, damit Xotl darauf landen konnte. Mit Urd am Halsband und dem Papagei auf der Schulter sah er wie eine komische Variante des Beastlords aus. »Sag ihnen, es gab einen Einbruch mit Körperverletzung oder irgendwas in der Art.« Sie deutete zur Tür. »Wir verschwinden jetzt besser von hier.«
Sie bezweifelte, dass Clarissa dasselbe für sie getan hätte, aber es war Babel wichtig, sich von ihr zu unterscheiden.
Weil du es im Grunde so wenig tust?
Weil ich eben doch kein Tier bin, das nur sein Territorium verteidigt.
Mühsam schleppten sie sich zur Tür und nach draußen.
»Wir fahren rüber zum Park, dort gibt es eine Gasse, in der sich leicht ein Autounfall mit euren Wagen stellen lässt, dort rufen wir dann den Krankenwagen.«
»Ich gehe nicht ins Krankenhaus«, murmelte Sam, aber auch er war weiß wie ein Laken.
»Wir werden sehen.«
»Bluuutwurrrst … hackkk … hackkk …«
Xotl reckte seine bleiche federlose Brust, als erwarte er jeden Moment einen Orden.
»Döner für dich?«, fragte ihn Babel, hütete sich aber davor, die Hand nach ihm auszustrecken. Es wunderte sie, dass er nicht davonflog, jetzt, da er seinem Käfig entkommen war. Aber wer wusste schon, was in diesem seltsamen Vogelkopf vorging, der sich sein kleines Vogelhirn mit einem dämonischen Geist teilte.
»Jaaack …«
»Wer ist Jack?«, wollte Tamy wissen, die Judith das Haar hinters Ohr strich.
»Jack Daniels. Döner und Jack Daniels, Xotls Vorstellung einer Belohnung.«
Sam lachte heiser, hielt sich aber gleich darauf die Seite.
»Lasst uns gehen, die Sache hier ist erledigt.« Babel warf einen letzten Blick zurück auf das Haus, das einer Hexenfamilie über mehrere Generationen gehört hatte – und das von nun an leer stehen würde. Sie hatte keine Zweifel daran, dass Clarissa sich tatsächlich zurückziehen würde. Sie hatte Babel herausgefordert und verloren. Einen zweiten Kampf würde es nicht geben.
Der Preis wäre zu hoch.