4

Fast erwartete Babel, ihr Haus in Schutt und Asche vorzufinden, aber so dumm war Clarissa natürlich nicht. Das Heim einer Hexe anzugreifen war wirklich der letzte Schritt, wenn es keine andere Lösung gab.

Als Babel und Mo von der Maschine stiegen und die Helme abnahmen, versuchte Babel zu erspüren, ob sich Clarissa am Energienetz des Hauses zu schaffen gemacht hatte, aber alles fühlte sich so an wie immer. Unter ihrem eigenen Muster waberten noch die letzten Energielinien der Hexe, die zuvor in diesem Haus gewohnt hatte.

Sie hatten kaum einen Schritt in den Garten getan, als Urd, Toms Dänische Dogge, um die Ecke geschossen kam, um sie enthusiastisch anzubellen und Babels Knie mit Sabber einzuspeicheln, weil sie ihre Schnauze daran rieb. Babel fiel ein Stein vom Herzen, denn wenn sich Urd hier herumtrieb, war Tom vermutlich im Haus, und das bedeutete, dass er vorerst in Sicherheit war.

Sie versuchte, Urd mit der Hand wegzuschieben, was allerdings dazu führte, dass sich der Hund für den Käfig zu interessieren begann, den Mo in der Hand hielt. Es dauerte etwa ein Dutzend Herzschläge, bis Urd die dämonischen Energien spürte und mit einem spitzen Jaulen zurücktaumelte. Den Schwanz zwischen den Hinterbeinen eingeklemmt, schaute sie vorwurfsvoll zu Babel.

»Flöööhe! … Stiiinkeeerrr … Pfui … pfui …«

»Diesmal kann ich ihm nicht mal widersprechen«, erwiderte Babel und kraulte Urd hinter den Ohren. »Du stinkst wie irgendwas, das die Hölle ausgespuckt hat. Dabei haben wir dich erst vor zwei Tagen gebadet. Wie machst du das nur?«

Der Hund wackelte mit dem Kopf, um auf speziesübergreifende Art zu sagen: Hör nicht auf, mich zu kraulen.

Babel deutete auf die Krone des Apfelbaums wenige Meter neben ihnen, unter dem die alten Ritualknochen in der Erde vergraben lagen, die für den Schutzzauber auf dem Haus verantwortlich waren. »Stell den Käfig dort rein«, sagte sie zu Mo, der sie skeptisch anschaute.

»Wir können Xotl doch nicht hier draußen lassen …«

»Keine Bange, das wird der Pestbeule schon nicht schaden. Vielleicht fällt ihm dann ja auf, wie gut es ihm eigentlich in unserem Büro geht. Ins Haus kommt er jedenfalls nicht.«

»Unverschääämt … Pest … Pest …«

Babel zeigte dem Papagei den Mittelfinger und ging auf das Haus zu, wobei sie Urd am Halsband nahm und von dem Käfig wegzog, den sie nervös beäugte.

Während Mo sich bemühte, den Käfig im Baum zu platzieren, und Xotl ihm dabei in die Finger pickte, öffnete Babel die Haustür und spürte sofort Toms Muster.

Wer hätte gedacht, dass sie sich irgendwann einmal daran gewöhnen würde, mit einem Plag unter einem Dach zu leben? Die Abneigung, die die meisten Plags gegenüber Hexen und ihren magischen Fähigkeiten verspürten, schien bei Tom einfach nicht vorhanden zu sein, ebenso wenig wie bei Mo. Es war Babel nach wie vor ein Rätsel, allerdings eines, das sie mochte.

Während sie ihre Jacke an die Garderobe hängte, kam Tom aus der Küche, in der Hand ein Wischtuch und Urds abgewaschenen Hundenapf, und lehnte sich an den Türrahmen. Als Babel ihn dort so stehen sah, unversehrt und lebendig, ging sie ohne ein Wort auf ihn zu und schlang die Arme um ihn.

Wenn ihm etwas passiert wäre …

»Nicht, dass ich mich über die Begrüßung beschwere, aber ist etwas passiert?«, fragte er amüsiert, doch sein leises Lachen verstummte, als sie sich nur langsam wieder von ihm löste. Sie lehnte die Stirn an seine Brust und erzählte ihm mit geschlossenen Augen von Karl und Tamys Wohnung und was das für sie alle bedeutete. Dabei hüllte sein Geruch sie ein und beruhigte ihren rasenden Herzschlag.

»Das tut mir leid«, murmelte er und drückte sie fester an sich. »Auch, dass du dir Sorgen gemacht hast. Ich hab vergessen, mein Handy nach dem Termin wieder anzuschalten.«

Sie küsste ihn kurz, aber fest, und trat einen Schritt von ihm zurück, weil Mo durch die Tür kam und Tom auch ihm einen besorgten Blick zuwarf.

»Alles klar bei dir?«

Mo nickte, aber er wirkte alles andere als glücklich.

Babel seufzte. Der Junge hatte es wirklich nicht einfach, in den letzten Monaten musste er zu oft erleben, wie Menschen verletzt wurden, an denen er hing. Irgendwann würde er noch glauben, es läge an ihm.

Sie wusste, dass Tom sich für ihn verantwortlich fühlte, selbst nachdem Mo bei Karl eingezogen war. Es gefiel ihm nicht, dass Mo nicht wieder zu den Plags in die Wagenburg zurückging, aber Mo ließ in dieser Hinsicht nicht mit sich reden.

Babel winkte die beiden in die Küche, wo sie Kaffee aufsetzte, weil die Aufregung, die Angst und auch die Wut der letzten Stunden ihre Kräfte aufgebraucht hatten und sie beinahe etwas wie Muskelkater in den Gliedern spürte. Schweigend setzten sie sich an den Tisch, während Urd knurrend durch das Haus lief, auf der Jagd nach wer weiß was.

»Ich hasse es, das zu sagen, aber du solltest deine Leute warnen«, sagte Babel nach einer Weile zu Tom. »Clarissa wird versuchen, sie irgendwie in Schwierigkeiten zu bringen, um einen Keil zwischen dich und mich zu treiben.« Sie fuhr sich erschöpft mit den Händen durchs Haar. »Und wenn sie erst mal erfahren, dass ein Hexenkrieg unmittelbar bevorsteht, werden sie auch endlich die Bestätigung erhalten, auf die sie schon so lange gewartet haben: dass ich nur Unglück bringe.«

Sie wusste, dass sie bitter klang, obwohl sie wenig Grund dazu hatte. Tom hatte sich vom Gerede seiner Leute nie davon abhalten lassen, mit ihr zusammen zu sein, selbst dann nicht, als sie ihm gestanden hatte, noch immer an Sam zu hängen.

Dabei konnte sie es den Plags nicht einmal übel nehmen, wenn sie Tom vor ihr warnten. Alle warteten darauf, dass Babel sich endlich für einen der beiden entschied, den Plag oder das Dämonenkind, aber so einfach war das nicht. Sie hatte ja auch nie gesagt, dass Sam bei ihr einziehen sollte, er war nur einfach nicht gegangen!

So einfach machst du es dir, ja? Als könntest du ihn nicht dazu zwingen zu gehen, wenn du wirklich wolltest.

Das Erstaunlichste an der ganzen Sache war, dass Tom und Sam sich noch nicht erschlagen hatten. Stattdessen belauerten sie sich wie zwei Kampfhunde, kurz bevor man sie von der Leine ließ. Während Tom bei ihr im Bett schlief, hatte es sich Sam auf dem Dachboden gemütlich gemacht, auf dem ein altes Bett stand. Seit zwei Wochen schlichen sie drei umeinander herum, was zu einer seltsamen Routine geführt hatte, allerdings auch dazu, dass Babel und Tom nur noch am Tag Sex hatten, wenn Sam in der Boxhalle war, die ihm gehörte, und sich um seine Geschäfte kümmerte. Wann immer Tom in der Nacht, für mehr als eine flüchtige Berührung die Hand nach Babel ausstreckte, versteifte sie sich, weil sie genau wusste, dass Sam durch ihre magische Verbindung spüren konnte, was sie empfand. Dass es so nicht weitergehen konnte, wusste sie.

»Ich glaube nicht, dass wir sie dazu überreden können, gegen Clarissa etwas zu unternehmen«, sagte Tom in ihre Gedanken hinein und betrachtete Mo nachdenklich.

Der kleine Plag schüttelte ungehalten den Kopf, als wüsste er, was Tom durch den Kopf ging. »Vergiss es, ich gehe nicht zurück.«

»Es sind deine Leute, Mo. Wir Plags sollten nicht allein leben.«

»Du lebst auch nicht mehr dort.«

»Das ist etwas anderes.«

Mo lachte fies und verschränkte die Arme. »Ich kann nicht fassen, dass du das gerade gesagt hast, ehrlich. Ausgerechnet du!«

»Sei vernünftig, du warst seit Monaten nicht mehr bei ihnen. Sie vermissen dich.«

»Blödsinn! Wenn das so wäre, würden sie mich doch mal anrufen oder vorbeikommen. Nur weil sie ein Problem mit Hexen haben, interessiert es sie plötzlich einen Scheiß, was aus mir wird … Nee, ich geh erst zurück, wenn sie akzeptieren, dass …« Er beendete den Satz nicht, warf Babel nur einen Blick zu, der sie rührte. Die kleine Kröte war in Ordnung, die meiste Zeit ging er ihr zwar auf die Nerven, aber er besaß einen feinen Riecher dafür, was Heuchelei war, und das respektierte sie.

Sie drückte kurz seine Schulter, bevor sie die Arme verschränkte und den Kopf schüttelte. Sie wollte eben ansetzen, mit ihnen über Karl zu sprechen, als sie plötzlich die Verbindung zu Sam spürte. Dieses seltsame Glücksgefühl, das sie überfiel, wenn die Magie zwischen ihnen aktiviert wurde, weil er in ihre Nähe kam.

Und noch etwas anderes spürte sie.

Eine andere Hexe. Aber es war nicht Judith.

Sie sprang auf, keine Sekunde später klappte die Haustür, und sie hörte Sams Stimme.

»Schau mal, was ich draußen gefunden habe«, sagte er und trat in die Küche. Sofort verfinsterte sich Toms Blick noch ein Stück mehr. Aber da gab Sam den Blick auf die Person frei, die hinter ihm stand, und Babels Magie ließ den Tisch zittern.

»Hallo, Babel.«

»Mutter …«

Das hatte ihr gerade noch gefehlt!

Tom und Mo sahen abwechselnd zwischen ihnen hin und her, aber Babel war so verblüfft, dass sie nichts sagen konnte. Sie hatte völlig vergessen, dass sich ihre Mutter zu Besuch angekündigt hatte. Wir sehen uns ja bald übersetzte sich in ihrem Wörterbuch nicht gleich mit In einer Woche stehe ich unangekündigt vor deiner Haustür.

Maria war beinahe so groß wie ihre Töchter, schlank und mit durchdringendem Blick. Ihr früher blondes, inzwischen weiß gewordenes, Haar hatte sie zu einem einfachen glatten Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug eine schlichte schwarze Marlene-Dietrich-Hose aus festem Anzugstoff und eine weinrote Bluse. Um die Arme wanden sich Dutzende Armreifen, die alle magisch aufgeladen waren, und ihre Energien breiteten sich langsam im Raum aus, als würden sie ihn einnehmen wollen.

Babel verspürte ein kurzes Unbehagen, wie es sie jedes Mal in der Nähe eines magisch Aktiven überfiel, doch das verschwand schnell wieder. Das Unbehagen, das blieb, war eher der Tatsache geschuldet, dass sie ihrer Mutter gegenüberstand.

»Sie lungerte draußen vor dem Zaun auf der Straße, da dachte ich mir, ich nehm sie mit rein, bevor sie die Passanten verschreckt.« Sam klang amüsiert, und Babel warf ihm einen irritierten Blick zu.

Doch Maria ließ sich nicht durch ihn beirren. »Ich muss gestehen, ich hatte gehofft, dass sich Babels und deine Wege nicht wieder kreuzen«, erwiderte sie in Sams Richtung, worauf der nur mit den Schultern zuckte. »Aber die Zeichen waren wohl da, nicht wahr. Und Sie sind?« Sie wandte sich an Tom, der aufgestanden war und Maria fasziniert betrachtete.

Ja, es ist immer heikel, wenn der Mann das erste Mal seiner Schwiegermutter gegenübersteht, dann sieht er, was aus seiner Liebsten später mal wird, was?

»Tom«, antwortete er.

»Ah, der Plag.«

»Sieht so aus.«

»Ich bin Mo«, sagte Mo ungefragt und streckte ihr die Hand entgegen, als wäre er ein gut erzogener Junge, und nachdem Maria einen Moment lang aufmerksam sein Gesicht studiert hatte, ergriff sie die Hand sogar. »Noch ein Plag.«

»Ja, und?« Leiser Trotz schlich sich in Mos Haltung, die Maria amüsiert zur Kenntnis nahm. »Ich wohne aber nicht hier.«

»Das dürfte auch irgendwann ein bisschen viel werden, nicht wahr? Es ist doch auch so schon recht belebt.« Sie warf Sam einen gehässigen Blick zu, den er allerdings ignorierte.

Es überraschte Babel nicht, dass ihre Mutter sich auf Sam einschoss, sie hatte ihn nie gemocht. Vermutlich würde sie es sogar vorziehen, wenn Babel mit einem halben Dutzend Plags schlief, Hauptsache, sie hielt sich von dem Dämonenkind fern. Die Verlockungen, die seine Herkunft für Babel darstellten, waren alles andere als ungefährlich.

»Wie geht es deinem Geschäft? Deinem Partner?« Maria wandte sich wieder an Babel. »Wie hieß er doch gleich? Karl?«

»Er liegt im Krankenhaus.«

»Das tut mir leid.«

»Und deshalb … Weißt du, Mutter … Also, es ist nicht so, dass ich mich nicht freuen würde, dich zu sehen … Aber im Moment ist es wirklich ungünstig, vielleicht solltest du noch einmal wiederkommen, wenn …«

»… dein Krieg mit Clarissa vorbei ist?«

Babel seufzte und stützte die Hände auf den Tisch, damit er nicht mehr über den Fußboden schabte. »Wie ich sehe, bist du bestens informiert.«

Obwohl dir niemand Bescheid gesagt hat. Ein beängstigender Gedanke.

»Wenn jemand ein paar Tote auf eine meiner Töchter ansetzt, dann sollte ich darüber Bescheid wissen, denkst du nicht?«

»Bist du deshalb hier?«

»Ich bin hier, um meinen Kindern beizustehen, das tun Eltern für gewöhnlich.«

Babel hätte ihr gern gesagt, dass ihre gesamte Familie alles andere als gewöhnlich war und dass sie nie besonders gut darin waren, allzu lange gemeinsam am selben Ort zu sein. Aber wenn sie eines über ihre Mutter gelernt hatte, dann, dass es keinen Zweck hatte, mit ihr zu diskutieren, wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. In dieser Hinsicht ähnelte sie wohl ihren Töchtern.

»Will mir vielleicht mal jemand erklären, was hier vor sich geht?«, mischte sich Sam nun ein, der sich ein kaltes Wiener Würstchen aus dem Kühlschrank geholt hatte, von dem er eine Hälfte selbst aß und die andere Urd hinhielt, die sich schon seit Wochen von ihm mit Essen bestechen ließ. Darüber vergaß die Dogge sogar, dass er ein Dämonenkind war. Sehr zu Toms Leidwesen, der es lieber sähe, wenn sein Hund Sam in Stücke riss. Die Dogge sah zwar aus wie der Hund von Baskerville, ähnelte in ihrem Charakter aber leider eher einem flauschigen Kaninchen.

»Du kannst dich freuen, du hast wieder einmal recht gehabt«, seufzte Babel. »Clarissa hat mit ihrer Drohung ernst gemacht.« Sie erzählte ihm, was passiert war.

Clarissas Angriff auf Judith war Sams stärkstes Argument gewesen, bei ihr einzuziehen, denn er hatte von Anfang an vorausgesagt, dass die andere Hexe es nicht bei diesem einen Angriff belassen würde. Er behauptete felsenfest, dass sein Bleiben lediglich auf der Tatsache beruhte, dass er Babel schützen wollte, solange die Auseinandersetzung mit Clarissa lief. Angeblich machte es ihm nicht das Geringste aus, dass Babel mit Tom zusammen war.

Doch dieses Mal schien es, als wäre es ihm lieber gewesen, er hätte nicht recht behalten. Sein Gesicht wurde starr, genau wie sein Blick, und Babel wusste, dass seine dämonische Seite an die Oberfläche drängte. So war es immer, wenn er wütend war. Kurz bevor er explodierte, wurde er ganz ruhig.

»Ich muss zur Wagenburg, die Plags warnen«, sagte Tom unvermittelt in das drückende Schweigen. »Sie sollten wenigstens wissen, was gerade passiert.«

»Ruf an.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das reicht nicht. Ich muss mit ihnen reden. Es müssen Vorbereitungen getroffen werden. Wir können den Platz nicht schon wieder verlassen. Noch einmal werden wir die Wagenburg nicht wieder an derselben Stelle aufbauen können.«

»Du solltest nicht allein unterwegs sein. Wenn Clarissa das Haus beobachten lässt, wird sie merken, dass du weggehst.«

»Ich gehe mit ihm«, erwiderte Sam, worauf sich alle überrascht zu ihm umdrehten.

»Was?«

»Willst du mich vielleicht unterwegs erschlagen und behaupten, dass es Clarissa war?«, fragte Tom sarkastisch.

»Kein schlechter Gedanke.«

»Fass ihn bloß nicht an!« Wütend ballte Mo die Hände, was Sam nur zum Lachen brachte.

»Sag Bescheid, wenn du eine Tracht Prügel willst, Kleiner. Jederzeit gerne. Ich hab schon lange keinen Plaghintern mehr versohlt.«

»Sam!« Babel sah ihn ungehalten an. »Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt.«

»Ich brauche seine Hilfe nicht«, warf Tom ein und verschränkte die Arme, worauf Babel genervt die Hand hob.

»Karl liegt im Krankenhaus, und ihr benehmt euch wie im Kindergarten. Wir haben jetzt wirklich Besseres zu tun, als alberne Auseinandersetzungen zu führen. Mir wäre es lieber, wenn Sam mit dir gehen würde. Wer weiß, was sich Clarissa noch einfallen lässt. Hier im Haus passiert uns erst mal nichts, aber wenn du allein da rausgehst …« Sie schüttelte den Kopf.

»Himmel, Babel, du klingst, als wären wir hier im Kriegsgebiet.«

Du hast keine Ahnung.

Sam warf ihr einen Blick zu, der Bände sprach. Dem Dämonenkind war viel deutlicher bewusst, wozu Hexen in der Lage waren; er hatte bereits mit zweien eine längere Beziehung geführt und wusste daher, wie blutig Hexenkriege enden konnten. Tom war sicher kein Unschuldslamm, aber ihm fehlte diese dunkle Seite, die alle Hexen mehr oder weniger in sich trugen.

Den Hunger nach Macht.

Genau das, was sie an ihm so mochte, wurde jetzt zum Problem, wenn er die Situation nicht ernst nahm.

»Bitte, Tom. Ich sage das nicht zum Spaß. Clarissa ist gefährlich, und sie hat sich gut überlegt, was sie hier tut. Sie hat schon einmal jemanden von außerhalb dazugeholt, um die Toten auf Judith zu hetzen, wer weiß, was sie noch ausheckt.«

Es dauerte einen Moment, bis er antwortete, aber an seinen Wangenmuskeln konnte sie sehen, wie sehr er sich zusammenriss. »Meinetwegen«, gab er irgendwann nach. »Aber er bleibt im Wagen sitzen, während ich mit ihnen rede. Ich will nicht, dass er die anderen durcheinanderbringt.«

»Würde mir nie einfallen.«

Wieder maßen sich die beiden Männer mit Blicken, und Babel wusste genau, dass Sam seine Hilfe nicht aus Nächstenliebe angeboten hatte, sondern um bei ihr Pluspunkte zu sammeln – und an der Art, wie er grinste, war ihm auch bewusst, dass er durchschaut wurde. Doch wie immer machte es ihm nichts aus.

Ein paar Mal atmete sie tief durch. »Während ihr unterwegs seid, werde ich herausfinden, wer von den anderen Hexen noch in der Stadt ist und wie sich die magischen Energien verteilen.« Hastig trank Babel ihren Kaffee aus, der inzwischen kalt geworden war.

Tom nickte, bevor er Babel kurz auf den Scheitel küsste, dann pfiff er Urd an seine Seite und klopfte Mo auf den Rücken, der ihm skeptisch nachsah, als Tom die Küche verließ. Sam folgte ihm, allerdings nicht, ohne Maria vorher zuzuzwinkern.

Und dann war Babel plötzlich mit ihrer Mutter allein in der Küche – nur mit Mo als Barriere zwischen ihnen.

»Warum gehst du nicht meine Tasche nach oben bringen«, sagte Maria zu Mo, der unschlüssig dastand.

Welche Tasche? Und warum nach oben?

»Sie steht draußen im Flur.«

Mo zuckte mit den Schultern und schlurfte hinaus, wahrscheinlich froh darüber, irgendeine Aufgabe und damit etwas Ablenkung zu haben.

»Du kannst nicht hier wohnen!«

Maria zog die Augenbraue hoch.

»Ich meine …« Babel war ja nicht ohne Grund mit sechzehn von zu Hause ausgezogen. »Ich habe nicht genug Betten …«

»Du hast ein Gästezimmer.«

»Einen Dachboden.«

»Mit einem Bett.«

»In dem Sam schläft.«

»Interessant.«

»Er ist nur Gast …«

»Wenn du es sagst, Babel. Quartier ihn auf der Wohnzimmercouch ein.« Maria setzte sich an den Tisch und zog Babel auf den Platz neben sich. »Hör zu, Babel, ich weiß, dass es in der Vergangenheit Spannungen zwischen uns gegeben hat, aber jetzt sollten wir zusammenhalten. Du brauchst mich. Ich bin nicht hier, um mich in dein Leben einzumischen.«

Das glaube ich keine Sekunde.

»Weiß Vater, warum du hier bist?«

Maria senkte kurz den Blick. »Nun ja, er ist clever, er kann sich seinen Teil wohl denken.«

»Mit anderen Worten, er hat keine Ahnung, wie schlimm die Dinge wirklich stehen.«

»Ich sah keine Veranlassung, ihn unnötig zu beunruhigen, sonst hätte er darauf bestanden mitzukommen. Und ein Hexenkrieg ist in seinem Alter nicht unbedingt das Gesündeste.«

Babel verzichtete darauf, ihrer Mutter zu erklären, dass sie lediglich vier Jahre jünger war als ihr Mann. »Na schön, dann bleib. Aber misch dich nicht in meine Angelegenheiten ein. Ich meine, mit Tom und Sam.«

Maria lächelte, und Babel schüttelte den Kopf. Es würde eine Katastrophe werden, sie wusste es genau.

»Ich muss in den Keller, um ein Ritual durchzuführen …«

»Ich komme mit. Vielleicht sehe ich etwas in den Mustern, das dir entgeht.«

Einen Moment lang überlegte Babel, dann nickte sie widerwillig, während sie sich schon erhob. Im Flur blieb sie an der Treppe stehen und rief zu Mo hinauf: »Wir gehen für ein Ritual in den Keller, bleib oben.«

»Okay«, kam es zurück, aber Mo würde sowieso zusehen, dass er sich so weit wie möglich von ihnen fernhielt, wenn sie ihre Kräfte aktivierten. Es war eine Sache für ihn, Babel zu mögen, eine ganz andere, bei ihr zu sein, wenn sie zauberte. Das war dem Plag unangenehm.

Gerade als sie die erste Stufe hinabgehen wollte, spürten sie beide Judiths magisches Netz, kurz bevor es an der Tür klopfte.

»Komm rein!«

Wenigstens werde ich nicht die Einzige sein, der Mutter auf die Nerven fällt.

Judiths Gesichtsausdruck ähnelte wohl dem, den auch Babel beim Anblick ihrer Mutter getragen hatte.

»Mutter!«

»Hallo, Judith.«

Babel fing den fast panischen Blick ihrer Schwester auf.

Warum soll ich die Einzige sein, in deren Leben sich Mutter einmischt; das ist doch nur fair.

»Sie müssen Tamy sein«, sprach Maria die Türsteherin an, die hinter Judith ins Haus hereinkam. »Ich glaube, ich verstehe, warum meine Tochter sie mag.«

»Welche?«

Maria lächelte der Türsteherin entgegen, worauf etwas höchst Seltenes geschah. Tamy lächelte zurück. Judith und Babel sahen sie überrascht an, worauf sie mit den Schultern zuckte, als wolle sie sagen: Was denn?

»Was ist mit der Wohnung?«, fragte Babel.

»Vergiss es. Die Nachbarn haben Glück gehabt, aber mein Zeug ist hin.«

»Tut mir leid.«

Wieder ein Schulterzucken. Im Moment konnte Babel ihr nicht helfen, aber wenn das alles vorbei war, würde sie sich um Tamy kümmern.

»Willst du mit zum Ritual runter?«, fragte sie Judith stattdessen.

Diese nickte und warf einen Blick auf Tamy. »Kommst du zurecht?«

»Keine Angst, ich werd schon kein Bier aus dem Kühlschrank nehmen.«

Judith drückte ihr kurz die Hand, dann stiegen sie zu dritt die kleine Treppe zum Keller hinab, auf dessen Tür ein Smiley gemalt war, der die dahinterliegenden Räume mit seinem Zauber vor ungebetenen Gästen schützte.

Ihr Magiezimmer, das am Ende des Kellers lag, war aufgeladen mit Babels magischen Energien, und daran, wie sich ihre Mutter und Judith beim Betreten des Raumes kurz schüttelten, konnte sie erkennen, welchen Einfluss die Magie auf andere Hexen hatte. Dieser Raum war ihr Machtzentrum, eine andere Hexe würde sich darin nie vollständig entspannen können.

An der Wand standen drei deckenhohe Stahlschränke, in denen Zutaten für Zauber und Rituale aufbewahrt wurden. Zwei schwarze Katzenstatuen, die ebenfalls an der Wand standen, waren Babels Energiespender für Rituale, wenn sie zusätzliche Energie benötigte. Ihnen gegenüber hing der Stadtplan, in den die Wohnorte der anderen Hexen eingezeichnet waren.

Das Ritual selbst war nicht schwer, ein bisschen Holzasche über den Stadtplan gepustet, Konzentration auf die Energien und den Rest erledigte die Magie. Babel spürte es mehr, als dass sie es sah, wie sich Judith und Maria neben ihr versteiften, während sie ebenfalls auf den Plan starrten, auf dem sich das bunte Netz der Energien vor ihren Augen dreidimensional zu bilden begann. Sie selbst hätten für dieses Ritual einige Schritte mehr benötigt, Runen, Symbole, aber Babels intuitive Magie funktionierte auch ohne diese Dinge. Zumindest bei diesen einfachen Ritualen. Es hatte keinen Zweck mehr, so zu tun, als wäre Babels Magie nichts Besonderes, Judith und ihre Mutter wussten genau, welchen Preis Babel dafür bezahlte. Die Sehnsucht nach der Dämonenebene würde sie nie verlassen, und manchmal verhieß weniger Macht durchaus einen ruhigeren Schlaf.

Ihr Haus in der kleinen Nebenstraße war auf dem Plan leicht auszumachen, ihre drei magischen Netze leuchteten hell auf der Karte. Und auch Clarissas Haus am anderen Ende der Stadt war unschwer zu erkennen. Babel zählte vier Lichter, genau wie erwartet: Clarissa, Lorelei, Anatol und sein Sohn Nikolai. Zwei schwächere Lichtpunkte zeigten die beiden anderen Hexen, die noch in der Stadt waren, aber so wenig Macht besaßen, dass sie weder für Babel noch für Clarissa von Bedeutung waren.

Doch es hätte noch eine weitere helle Flamme geben müssen: die von Daniel, dem Hexer, der eine besondere Vorliebe für Feuer hegte und Vendomes ehemaliger Liebhaber gewesen war. Aber sein magisches Netz konnte Babel nirgendwo sehen.

Er hatte sich aus dem Staub gemacht.

Wieder einmal.

Diesem Feigling reiße ich das nächste Mal die Mandeln eigenhändig raus! Oder ich setze Xotl auf ihn an.

Stattdessen gab es zwei neue magische Punkte, die ähnlich hell leuchteten wie Babel oder Judith.

»Wer zum Henker ist das?« Sie deutete auf die Stelle.

Neben sich hörte sie Judith tief einatmen. »Erinnerst du dich nicht?«, fragte sie mit gepresster Stimme.

Babel besah sich das Netz genauer, und auf einmal erkannte sie die Linien. »Scheiße.«

»Ganz genau.«

»Wer sind sie?« Maria sah mit zusammengezogenen Augenbrauen zwischen ihnen hin und her.

»Das sind die Zwillinge, mit denen Judith vor ein paar Jahren eine Auseinandersetzung in ihrer Stadt hatte.«

»Clarissa muss sie hergeholt haben.«

»Aber ich dachte, ihr habt sie besiegt.«

Babel nickte. »Ja, aber nur knapp. Inzwischen haben sie sicher einiges dazugelernt. Und sie kennen unsere Stärken, aber auch ein paar Schwächen.« Sie löschte das Energienetz, drehte sich um und betrachtete besorgt die Katzenstatuen, die wie Wächter zu ihnen herüberstarrten. »Sie sind jetzt zu sechst. Das ist nicht gut.«