15
Das Hotel war eine Luxusabsteige mitten im historischen Kern der Stadt. Ein kurzer roter Teppich führte die Stufen zur Eingangstür hinauf, und ein Kronleuchter mit einem Meter Durchmesser hing wie eine künstliche Sonne von der Decke. Die Gäste in der Lobby warfen Karl und Babel irritierte Blicke zu. Offenbar war man es nicht gewöhnt, dass hier Besucher Hawaiihemden und Lederjacken trugen.
Karl schienen die Blicke nichts auszumachen. Selbstbewusst schritt er zur Rezeption. Hinter dem Tresen stand eine junge Frau in einem marineblauen Kostüm und einem schicken roten Halstuch, das ebenso adrett gebunden war wie ihr braunes Haar.
Mit einem schmalen Lächeln fragte sie: »Wie kann ich Ihnen helfen?« Dabei huschte ihr Blick zu Babels Schmuck, den sie am Morgen in einer Kiste mit ins Büro genommen und nun angelegt hatte.
Karl lehnte sich auf den Tresen und beugte sich so weit in ihre Richtung, dass sie unmerklich zurückzuckte. Er nannte ihr Judiths Namen und bat sie, die Zimmernummer herauszusuchen.
»Leider können wir nicht einfach die Zimmernummern unserer Gäste herausgeben«, kam es prompt zurück. »Ich kann aber für Sie anrufen und fragen, ob Sie nach oben kommen können.«
Karl warf Babel einen Blick zu. »Glaubst du, dass deine Schwester dich empfängt?«
»Wäre mir sogar lieber, sie täte es nicht«, grinste Babel und stützte sich ebenfalls mit einem Ellbogen auf den Tresen.
Einen Moment lang sah das Mädchen irritiert zwischen ihnen hin und her, entnahm dann aber der Tatsache, dass sie stehen blieben, dass sie tatsächlich anrufen sollte. Beinahe zögerlich griff sie nach dem Hörer.
»Wen darf ich melden?«, fragte sie, während sie bereits tippte, worauf Babel antwortete: »Die Kavallerie.«
Das Lächeln verschwand nun vollständig, und Babel konnte sehen, dass die Frau immer noch hoffte, diese merkwürdigen Leute würden endlich so reden, dass sie sie auch verstand.
Als sie allen Ernstes in den Hörer sagte: »Hier ist die Kavallerie für Sie«, hatte Babel fast Mitleid mit ihr, während Karl hinter vorgehaltener Hand feixte. Sein Oberkörper bebte, so sehr verkniff er sich ein lautes Lachen.
Nachdem die Frau aufgelegt hatte, faltete sie die Hände vor dem Bauch und sagte verkniffen: »Zimmer 212 im zweiten Stock.«
»Vielen Dank.« Karl klopfte zweimal auf den Tresen, bevor er sich umdrehte und Babel winkte, ihm zum Fahrstuhl zu folgen. Als sie außer Hörweite waren, brach es aus ihm heraus, und er hielt sich vor Lachen den Bauch.
»Ist das zu fassen? Ich kann nicht glauben, dass sie das tatsächlich gesagt hat. Die Kavallerie ist hier …«
»Na ja, stimmt doch irgendwie.«
Amüsiert schüttelte er den Kopf und deutete auf den Marmorfußboden. »Deine Schwester hat ja einen exklusiven Geschmack. Was wird wohl die Nacht in dieser Absteige kosten?«
»Mehr als du und ich uns leisten können. Sie hat eben schneller begriffen, dass sie mit ihrer Magie auch Geld verdienen kann. Wenn ich mir so ansehe, in welchen Hotels sie absteigt, dann kann es um ihr Konto nicht allzu schlecht stehen.« Babel drückte mehrfach auf den dreieckigen Knopf, und wenige Sekunden später öffnete sich die Fahrstuhltür, hinter der leise Musik erklang.
»Ein bisschen wie im Film«, kommentierte Karl.
»In solchen Filmen tauchen Gestalten wie wir nur als ulkige Touristen im Hintergrund auf.«
Die Innenseite der Tür gab ihre verzerrten Spiegelbilder in Gold wieder. Ihre blonden Haare wirkten wie Heiligenscheine. Als sie den Fahrstuhl wieder verließen und den langen Flur betraten, stand Judith bereits in der Tür und winkte sie näher.
An diesem Tag trug sie ein weißes Kostüm, das beinahe zu strahlen schien, und schwarze Pumps, deren Absätze sie über die Köpfe der meisten Menschen erhob. Im Näherkommen erkannte Babel die dunklen Augenringe, die das Make-up nur notdürftig verbergen konnte. Außerdem war sie blass, und ihr Blick huschte nervös hin und her. Auch ihr magisches Netz besaß diese zitternde Unruhe, die wie schwache elektrische Entladungen auf Babels Haut traf. Die Toten mussten ihr mehr Kraft rauben als zuvor. Langsam zeigte sich die Verbindung mit ihnen auch äußerlich.
Babel verspürte kurz den Drang, über den Flur zurückzurennen. Die Vorstellung, mit den Toten zu ringen, erschien ihr plötzlich nicht mehr so einfach, und Augustes magische Signatur drang durch die offene Tür. Sie konnte nicht verhindern, dass sich ihre magischen Schutzwälle aktivierten und sich schwarze Spritzer auf der cremefarbenen Tapete bildeten.
Judith verdrehte die Augen und deutete mit der Hand darauf. »Könntest du das bitte lassen? Ich möchte nicht hochkant rausfliegen, nur weil du dich nicht im Griff hast. Was habt ihr nur wieder unten an der Rezeption angestellt?«
»Ich kann auch wieder gehen, wenn du möchtest.«
Judith antwortete nicht, winkte nur unwillig mit der Hand ab und ging ins Zimmer zurück. Karl folgte ihr, wobei er den Kopf senkte, und Babel konnte nur Vermutungen anstellen, worauf sein Blick gerichtet war. Kopfschüttelnd ging sie ihm nach und schloss die Tür hinter sich.
Das Hotelzimmer war in Wirklichkeit eine Suite. Vor ihr eröffnete sich ein großräumiges Wohnzimmer. Auguste saß in einem Sessel und sah ihr gespannt entgegen. Er trug eine weiße Hose und ein dunkelrotes Hemd, das den Blick auf seine Kette freiließ. Vorsichtig nickte er ihr zu, und sie erwiderte den Gruß. Nur schwer konnte sie den Instinkt unterdrücken, Judith zu packen und mit ihr aus dem Zimmer zu rennen.
Neben Auguste standen mehrere Kerzen auf dem schmalen Schreibtisch, daneben Schüsseln mit Kräutern und kleine Haufen Mehl und Asche. Auf dem Fensterbrett lag ein Totenschädel, der Größe nach zu urteilen der eines Kindes. Angewidert wandte sich Babel ab. Die Gegenstände verströmten schwach magische Energien.
»Er versucht nur, die Toten von mir fernzuhalten«, sagte Judith, nachdem sie Babels Blick aufgefangen hatte.
»Trägst du immer Schädel in deinem Gepäck herum, wenn du dich von nekromantischen Ritualen fernhalten willst?«, fragte Babel bissig. »Ich dachte, das ist der Grund, warum ich jetzt hier bin.«
»Diese Sachen«, er deutete auf die Kerzen und den Schädel, »haben keine große Macht. Sie können die Verbindung zwischen den Toten und Judith nicht trennen, nur dämpfen.«
»Ich habe Schlafprobleme«, ergänzte ihre Schwester.
»Das erklärt nicht, warum er Schädel bei sich hat.«
Ungeduldig verschränkte Judith die Arme. »Bist du auf Streit aus?«
»Nicht mehr als sonst.«
Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie Babel, als versuche sie abzuschätzen, ob sie tatsächlich einen Streit beginnen würde. Babel fragte sich, wie Judith Augustes magisches Netz nur ertragen konnte – empfand sie das Kratzen auf ihrer Haut nicht als unangenehm?
Ob sie wirklich wusste, was sie Babel mit diesem Gefallen abverlangte? Wie viel Kraft es sie kostete, nicht auf Auguste loszugehen?
Mit zwei anderen Hexen in diesem engen Raum zu stehen, machte sie nervös und aggressiv wie eine Raubkatze im Käfig, und das war nicht unbedingt die beste Voraussetzung für ein so kompliziertes Ritual. Dabei musste sie sich konzentrieren. Flüchtig berührten ihre Fingerspitzen den Halsring. Sie versuchte, die schlechte Vorahnung abzuschütteln, die von ihr Besitz ergriffen hatte.
Komm schon, du weißt doch, dass sich die Zukunft so nicht vorhersagen lässt. Sei nicht so ein Angsthase.
Sie warf Karl einen Blick zu, der unschlüssig den Kopf hin- und herwiegte. Auch er hatte die Arme verschränkt und stand mit dem Rücken an die Wand gelehnt in ihrer Nähe. Von seinem Platz aus hatte er einen guten Blick auf alles, was im Raum geschah.
Zögernd legte sie ihre Jacke ab, entnahm der Innentasche die beiden Aschebeutel und deutete auf den kleinen Kühlschrank unter dem Schreibtisch. »Hast du die Milch geholt?«
Judith nickte. Auf einmal zeigten sich hektische rote Flecken auf ihren Wangen, die von ihrer Aufregung zeugten. Als sie den Kühlschrank öffnete, sah Babel, dass ihre Hände zitterten.
Judith stellte den Krug, der das Hotellogo trug, neben die größte Schüssel auf den Tisch, und Babel legte die beiden Beutel dazu. Einen Moment lang blieben Judith und sie nebeneinander stehen und sahen sich in die Augen. Ihre magischen Signaturen vermischten sich miteinander, und sie konnte über ihr Pulsieren Judiths Herzschlag spüren. Ebenso wie die Anwesenheit der Toten, die sich wie ein Mantel um den Körper ihrer Schwester geschlungen hatten.
Als Babel ein bisschen ihrer eigenen magischen Energie auf Judith übergehen ließ, um zu testen, wie es die Toten beeinflusste, konnte sie fühlen, dass sie sich nicht von der Stelle bewegten. Sie waren eng mit Judiths Netz verknüpft. Wer auch immer sich daran gebunden hatte, hatte ganze Arbeit geleistet.
Plötzlich legte Judith ihr den Zeigefinger auf die Nasenspitze, wie sie es als Kind immer getan hatte. Die Geste hatte etwas seltsam Vertrautes und Liebevolles.
»Niet-niet«, machte ihre Schwester, und unwillkürlich musste Babel lächeln.
»Wollen wir?«, fragte sie.
»Wann immer du bereit bist.« Judith ließ die Hand sinken, ein konzentrierter Ausdruck trat auf ihr Gesicht.
Babel nickte und warf einen letzten Blick auf Auguste. Still saß er da und beobachtete sie. Wer es nicht besser wusste, konnte ihn für einen reichen Geschäftsmann halten. Dabei hatte dieser Mann mehr Blut an seinen Händen kleben als sie alle.
Was er wohl bei seinen Ritualen verwendete? Ziegen? Hühner? Entlaufene Katzen und Hunde? Großstädte wie Paris boten eine Vielzahl an Möglichkeiten, sich Tiere zu besorgen. Die Ombres besaßen Züchter in ihren Reihen, die sich darauf spezialisiert hatten, Tiere für Blutrituale zu liefern. Es war ein einträgliches Geschäft.
Babel hatte Jahre gebraucht, um den Blutgeruch aus ihrer Erinnerung zu vertreiben, er aber schien solche Probleme nicht zu haben. Nekromanten verfügten über stabile Mägen.
Sie drehte sich um und nahm noch einmal Blickkontakt mit Karl auf, der unmerklich nickte, bevor sich seine Aufmerksamkeit auf Auguste richtete. Sie war froh, dass er bei ihr war, das gab ihr ein Gefühl von Sicherheit.
Sie setzte sich an den Schreibtisch und bedeutete Judith, auf dem zweiten Platz ihr gegenüber Platz zu nehmen. Bevor sie begann, atmete sie ein paarmal tief durch und erinnerte sich an die Übungen, die Tamy ihr beigebracht hatte.
Vergiss nicht zu atmen.
Ich hab eher Angst, dass mein Herz mittendrin stehenbleibt.
Tja, dann wäre wenigstens der Übergang nicht so weit, wenn du schon mal drüben bist …
Ein letztes Mal ballte sie die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder, dann begann sie mit dem Ritual. Am Anfang verhielt sie sich genauso wie bei ihrem letzten Besuch auf der Totenebene, als sie nach Madame Vendome gesucht hatte. Wieder schüttete sie Knochenasche und Milch zusammen, tauchte eine Hand in den kühlen Brei und ließ die magischen Energien fließen, bis sie die Ebenen wechselte, als würde sie darin schwimmen. Apfelgeschmack legte sich auf ihre Zunge, und die Temperatur um sie herum kühlte sich ab.
Mit der sauberen Hand pustete sie zusätzlich Holzasche in die Luft und machte so die Energien ihrer eigenen Existenzebene sichtbar, die jedem Ding innewohnten. Es ergab sich ein merkwürdig buntes magisches Netz auf zwei Ebenen, beinahe wie bei einem mehrfach belichteten Foto.
Judith pulsierte in einem strahlenden Hellblau, Babels eigene Magie in einem kräftigen Dunkelblau. Weil sie so dicht beieinander waren, waberten ihre Energielinien an den Rändern ineinander.
Karl umhüllte eine tiefrote Aura, die Babel jedes Mal amüsierte, denn sie sprach von der weiten Gefühlsspanne, die sich hinter seiner rauen Schale verbarg. Dort, wo das Rot am tiefsten war, vermutete sie das Zentrum seiner Liebe zu Dolly Parton und Countrymusik.
Augustes Anblick ließ sie zusammenzucken, obwohl er eigentlich keine Überraschung war. Noch nie hatte sie jemanden gesehen, dessen magisches Netz so stark mit Totenenergie verbunden war wie seines.
Auch in ihrem eigenen Netz fanden sich weiße Stellen, die erkennen ließen, dass sie in Kontakt mit Totenenergie gekommen war, aber das war nichts im Vergleich zu diesem Ombre. Er schien eine zweite Haut zu besitzen, eine hauchzarte Membran, die unter seinen Energielinien verlief. Beinahe wie eine Eisschicht, die seinen Körper überzogen hatte und im Licht glitzerte. Wie ein Eisriese aus den alten Legenden. Selbst seine Augen hatten jegliche Farbe verloren, sie waren nebelgrau.
Schau ihn dir gut an, das ist der Diener des Todes.
Er sieht aus wie ein Kristall.
Das hätte aus dir werden können, wenn du den Pfad nicht verlassen hättest. Blut zieht immer weiteres Blut nach sich …
Sein Anblick war furchterregend.
Er konnte wohl an ihrem Gesichtsausdruck erkennen, was sie sah, denn er senkte den Kopf, aber sie wusste nicht, ob ihm seine Vergangenheit peinlich war oder ob es ihm vielleicht nur nicht passte, dass sie nun so viel über ihn wusste. Fest stand, dass er in der Nekromantie kein Anfänger gewesen war. Er musste sie über Jahre ausgeübt haben.
Sollte sie wirklich glauben, dass jemand wie er freiwillig davon lassen konnte?
Mehr denn je fragte sie sich, wie Judith es bei ihm aushielt. Er musste ein seltsamer Mensch sein. Was bewegte jemanden dazu, sich immer und immer wieder mit den Toten zu beschäftigen? Ihre Nähe zu suchen und in ihre Welt einzutauchen, als wäre nichts dabei?
Mühsam wandte sie den Blick von ihm ab.
Obwohl sich sein magisches Netz deutlich von ihrem unterschied, so war es doch stabil. Das war bei Judith nicht der Fall. Ihre Energielinien zitterten unter dem Angriff der Toten, die mit ihr verbunden waren. Babel konnte die Schemen deutlich sehen. Sie standen dicht bei Judith – wie Wächter zu Seiten einer Königin. Ihre Energien waren in Judiths Netz verstrickt, Babel konnte die Verbindung nicht einfach mit Gewalt und einer einzigen Entladung lösen. Auf diese Weise würden Löcher im Netz entstehen, die nie wieder zu reparieren waren. Gut möglich, dass Judith dann einen Teil ihrer Fähigkeiten verlor.
Mit einem Toten verbunden zu sein, musste sich anfühlen, als wäre man in ein Laken gehüllt, das immer weiter auskühlte. Keine Wärme durchdrang das Eis, das sich langsam auf dem magischen Netz bildete und alles Leben aus einem heraussaugte.
In gewisser Hinsicht war es sogar noch gefährlicher als die fiebrige Energie, die von den Dämonen ausging, denn es kam schleichend und zog sich über eine lange Zeit hin. Nicht einmal Hexen merkten immer rechtzeitig, wenn ein Toter auf sie angesetzt war. Manchmal war es schon zu spät, sich Hilfe bei einem anderen magisch Aktiven zu holen, der die Verbindung löste.
Judith hatte es zum Glück gemerkt.
Der Gedanke an das, was passieren konnte, schnürte Babel die Kehle zu. Sie griff über den Tisch nach Judiths Hand, die erschrocken zusammenzuckte, als sich Babels Magie wie ein Sturzbach über sie ergoss. Sie biss die Zähne aufeinander und ließ die eigenen Schutzwälle sinken – dadurch gestattete sie Babels Energien, auf sie überzufließen.
Langsam überschwemmte die Magie das fremde Energienetz, bediente sich der Linien, die bereits vorhanden waren, als würde man Leitungen mit neuem Strom füttern. Nach und nach wurde das Blau dunkler, ähnelte immer mehr Babels. Die Magie kroch vorwärts, bis sie die Schemen erreichte.
Ein Kälteschock erfasste Babel. Sie konnte die Berührung bis in die Knochen spüren. Für einen Augenblick war sie ganz steif, doch sie zog ihre Energie nicht zurück.
Du musst dagegen ankämpfen. Denk an das Blut, das dir durch den Körper strömt. Wenn man dich jetzt aufschneiden würde, in diesem Moment, würde dein Blut warm hervorquellen. Beinahe heiß. Diese Wärme steckt noch in dir. Du bist noch kein Schemen.
Babel verstärkte den Magiefluss, drängte Welle um Welle gegen die Netze dieser Toten, die ihr fremd waren. Sie erkannte die Schemen nicht als Vorfahren. Sie hatte nichts mit ihnen gemein. Sie schuldete ihnen nichts.
Mit jeder verstreichenden Sekunde wurde die Anstrengung spürbarer, ihr lief der Schweiß über die Stirn, ihre Muskeln zuckten, und der Griff um Judiths Hand wurde fester. Sie konnte sehen, dass sich Judiths Lippen bewegten, verstand sie aber nicht. Zu sehr rauschte ihr das Blut in den Ohren.
Da legte ihr Judith plötzlich die andere Hand auf den Arm. Durch die Bewegung geriet die Schüssel ins Wackeln, aber das störte die Verbindung mit der Totenebene nicht. Zu weit war Babel schon vorgedrungen. Die Toten wehrten sich dagegen, dass die Verbindung zu Judith gelöst wurde. Etwas wie Wut erreichte Babel.
Ein diffuser Schmerz.
Noch stärker drängte sie mit ihrer Magie nach vorn, aber es wurde zunehmend anstrengender. Nur sehr, sehr langsam zogen sich die Toten zurück, und Babels Kräfte schwanden. Es war eine Frage der Zeit, ob sie siegen würde.
Das Schwierige an diesem Ritual war nicht, dass es besonders kompliziert war – tatsächlich kostete es einfach sehr viel Kraft –, und wie immer lag die Gefahr darin, die Kontrolle zu verlieren. Dem Nebel zu erliegen und den Weg nicht mehr zurückzufinden.
Du kennst doch das Märchen und dass man sagt: Mädchen, weich vom Wege nicht … Konzentrier dich!
Sie entzog dem Schmuck einen Teil seiner gespeicherten Energie, die ihr neue Kraft verlieh. Sie konnte spüren, wie sie für kurze Zeit wieder leichter wurde und die Erschöpfung wich, doch die Zeit wurde knapp.
Noch energischer ging sie gegen die Toten vor, die sich nicht freiwillig von Judith lösen würden. Sie standen unter dem Befehl des Nekromanten, der sie auf Judith angesetzt hatte, und seine Magie war die einzige Stimme, auf die sie hörten. Sie war das Drängen, dem sie nachgaben, ob sie wollten oder nicht.
Babel konnte seine Signatur nur schwach in ihren Netzen ausmachen, es reichte nicht, um ihn zu verfolgen, denn sie war verwaschen. Vermutlich hatte er sie schon vor einer ganzen Weile auf Judith angesetzt. An einem anderen Ort. Im Gegensatz zu den Zombies konnten die Toten überall existieren, denn die Totenebene beschränkte sich nicht auf einen Ort. Doch die Entfernung von dem Ort, an dem das Ritual durchgeführt worden war, schwächte die magische Signatur.
Das Einzige, was Babel mit Sicherheit feststellen konnte, war, dass es nicht Augustes Signatur war.
Zumindest in dieser Hinsicht hatte Judith recht gehabt – es sah ganz so aus, als hätte der Ombre mit diesem Fall nichts zu tun.
Mühsam stemmte sich Babel gegen die Toten, die sich mit aller Macht an Judiths Energienetz klammerten. Sie drängte sie weiter zurück, bis sich die fremden Energielinien plötzlich vom Netz lösten. Babels eigene Energien schossen weit in den Raum hinein, als der plötzliche Widerstand nachließ, bis hin zu Auguste, der unter dem magischen Ausstoß zusammenzuckte und die Finger in die Lehnen seines Stuhls krallte.
Unter Babels Netz pulsierte Judiths eigene Magie befreit und stärker als zuvor. Sie löste ein beinahe kitzelndes Gefühl in Babel aus.
Das ist der Triumph. Du hast es tatsächlich geschafft.
Sie gab der Kraft, die sie durchströmte, nach und ließ ihre Magie frei fließen. Sie konnte die Macht spüren, die ihre Magie war – dieser Teil von ihr, den sie so oft unterdrückte, an die Leine nahm, einsperrte. Für einen Augenblick ließ sie ihn frei.
Und dieser kurze Augenblick der Unachtsamkeit reichte, um den Wechsel der Ebene zu vollziehen.
Eine plötzliche Hitze erfasste sie, reflexartig ließ sie Judith los, um sie nicht mit sich zu ziehen. Der Geschmack nach Apfel verschwand von ihrer Zunge und machte der bekannten Süße Platz, nach der es Babel so sehr verlangte. Jede Schwere schien von ihr zu weichen, die Erschöpfung fiel von ihr ab, und ihre Energiereserven luden sich auf mit einer Energie, die nicht ihre war.
Willkommen zurück im Himmel, flüsterte die Stimme, die wieder nach Sam klang.
Ich kann nicht hierbleiben.
Aber warum denn nicht? Fühlt sich das nicht wunderbar an? Spürst du nicht diese Macht? Wie sie dich erfüllt und in jede Zelle dringt? Wie dich das Fieber erneut packt … Gib zu, es ist ein bisschen wie heimkommen.
An diesem Ort war sie sich näher als irgendwo anders, ausgerechnet auf dieser Ebene, die nicht ihre eigene war. Die Verlockung war nicht geringer geworden. All das Training mit Tamy nützte nur so lange etwas, wie sie noch nicht in Kontakt mit der Dämonenebene gekommen war und die Hitze nicht an ihrer Haut leckte.
Sei ehrlich, darum kannst du nicht von Sam lassen, er schmeckt danach, nicht wahr?
Ja.
Jetzt, wo sie hier war, schien ihr Kopf wie leergefegt, und ihr Herz das Zentrum ihres Seins – und es schien auch, als wäre die Wirkung der Dämonenebene schlimmer als je zuvor, denn mit jedem Übertritt spürte sie den Sog zu bleiben stärker.
Am Rand ihres Bewusstseins nahm sie die Dämonen wahr, magisch aufgeladene Energiewolken, deren bunte Farben sie an Picasso-Bilder erinnerten. Der Rausch, der sie erfasste, nahm ihr die Ängste. Auch jene, nicht zurückzukehren. Wie Schlangen glitten Babels magische Wellen vorwärts, den Dämonen entgegen.
Als die ersten vor ihnen zurückwichen, spürte Babel wieder die Erregung, die sie damals mit Sam erfasst hatte. Die alten Gefühle vermischten sich mit neuen Eindrücken, alles wirbelte durcheinander, bis Babel nicht mehr wusste, wo ihr Selbst anfing und die Dämonenebene aufhörte.
Alles floss ineinander, und sie wurde eins mit den Energien, die sie umgaben. Sie konnte noch sehen, was auf ihrer eigenen Ebene geschah, dass Judiths Gesicht einen panischen Ausdruck angenommen und Karl seinen Platz an der Wand verlassen hatte. Er war näher getreten und sah besorgt aus.
Aber es war ihr egal. Alles war so leicht um sie herum …
Judith rief etwas, aber wieder drang ihre Stimme nicht zu Babel durch. Sie wollte nach ihr greifen, aber Babel entzog sich. Ihre Hände glitten aus der Schüssel, der Knochen-Milch-Brei matschte auf den Tisch und tropfte von der Platte.
Aber auch das spielte keine Rolle mehr.
Sie brauchte dieses Hilfsmittel nicht mehr, um einen leichteren Kontakt zu den anderen Ebenen herzustellen. Ihre Magie war stark genug, um alles zu tun, was sie sich vorstellte.
Und sie wollte bleiben.
Das Glühen der Energien nahm zu, immer schneller drehten sich die Dämonenwolken. Sie wurde von diesem Wirbel angezogen, und die Menschen um sie herum verloren an Bedeutung. Sie konnte sie noch sehen, wusste, dass Judith ihre Schwester war, aber sie fühlte nicht mehr für sie als für eine Fremde.
Teilnahmslos sah sie zu, wie sich Judiths Lippen bewegten und ihren Namen formten.
Doch plötzlich wurde sie von etwas gepackt. Stechende magische Energien drangen auf sie ein. Auguste war in ihr Sichtfeld getreten, und ein Ruck durchfuhr sie. Er hatte den Stuhl, auf dem sie saß, zu sich gezogen. Im Hintergrund stritten Judith und Karl. Sie hielt ihn davon ab, sich auf den Ombre zu stürzen.
Die Eisriesen dürfen den Himmel nicht betreten, dachte sie verwirrt und hörte das dröhnende, gehässige Lachen.
Aber das ist doch nicht der Himmel, du Lamm. Hast du das wirklich geglaubt?
Der Ombre nahm ihr Gesicht in seine Hände, und bevor sie sich versah, war er bei ihr auf der Dämonenebene. Noch stärker drangen seine Energien auf sie ein, und das sie umgebende Meer verlor an Wärme. Die kalte Totenenergie, die mit seinem magischen Netz verbunden war, übertrug sich auf Babel.
Es war wie ein Eimer kaltes Wasser.
Und der Schock war ernüchternd. Die Hitze wich von ihr. Weit genug, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen.
Ich muss zurück.
Sie starrte in seine grauen Nebelaugen, denen die Iris fehlte, und konzentrierte sich auf den Weg zurück. Seine Kälte hüllte sie lange genug ein, um die Dämonenebene zu verlassen und wieder auf ihre eigene zu wechseln.
Schwer atmend saß sie in dem Stuhl, und ihre Magie sackte in sich zusammen wie ein Soufflé. Die magischen Wälle fielen ein, und dort, wo Auguste sie gepackt hatte, kühlte ihre Haut aus.
Einen Moment lang brauchte sie, um zu sich zu finden, während er vor ihr hockte, seine Hände auf ihren Knien, und der Milchmatsch zäh von ihren Händen auf den Teppich tropfte.
»Was für eine Sauerei«, sagte sie irgendwann und war dabei kaum zu verstehen, so trocken war ihr Hals.
»Alles in Ordnung, Babel?«, fragte Karl besorgt, und Judith nahm endlich die Hand von seinem Arm, damit er auf Babel zugehen konnte.
Sie nickte schwach, bevor sich ihr Blick auf Auguste richtete, der wieder seine ganz normalen dunkelbraunen Augen besaß, weil die Holzasche die Energie aufgebraucht hatte.
Langsam stand er auf und brachte etwas Abstand zwischen sie. Sofort ließ das Stechen auf ihrer Haut nach.
»Danke«, sagte sie leise, und er nickte.
»Kein Problem.«
Sprachlos schaute sie ihn an, denn sie wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte. Er hatte sich für sie weit aus dem Fenster gelehnt, denn genau wie sie lief er Gefahr, von einer Ebene auf die andere zu wechseln, wenn er ihre eigene Existenzebene erst einmal verlassen hatte. Ihr beider Glück war nur gewesen, dass die Dämonen nicht seine Schwäche waren.
Mit zitternden Beinen erhob sich Babel aus dem Stuhl und taperte ins Badezimmer hinüber. Im grellen Licht der Deckenstrahler wusch sie sich den Brei von den zitternden Händen und spritzte sich anschließend kaltes Wasser ins Gesicht. Als sie ihr Gesicht im Spiegel sah, erschrak sie selbst über den Anblick.
Ihre Augen glühten beinahe, als würde das Dämonenfieber noch immer in ihnen lodern.
Ihre Wangen waren eingefallen, die Lippen spröde, und die blauen Flecken hoben sich deutlich gegen eine aschfahle Haut ab. Das Ritual hatte ihr alle Kraft abverlangt, der Kick des Schmucks und der Dämonenebene hatte nicht lange gehalten.
Mühsam richtete sie sich auf und stützte sich auf den Waschbeckenrand. Im Spiegel sah sie Judith im Türrahmen stehen. Sie drehte sich zu ihr um, das Wasser tropfte noch von ihrer Haut.
»Wie geht’s dir?«, fragte Judith.
Selten hatte Babel diesen ernsten Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen. »Glänzend. Und dir?«
»Du hast es wirklich geschafft. Die Toten sind weg.« In ihrer Stimme schwang etwas wie Ehrfurcht mit.
Aber es wäre beinahe schiefgegangen. Ich darf wirklich nie wieder auf die Dämonenebene. Mit jedem Mal wird das Fieber schlimmer.
Judith schüttelte den Kopf. »Ehrlich, Babel, das war ein beängstigender Anblick. Es war wie damals …« Sie brach ab und sah verlegen zur Seite. Diese alte Geschichte zwischen ihnen hatte sie nicht ansprechen wollen, nicht jetzt, wo Babel ihr diesen Riesengefallen getan hatte.
Babel fuhr sich mit den feuchten Fingern durch die Haare, bis sie ihr nicht mehr in wirren Strähnen ins Gesicht fielen. »Es tut mir leid, Judith. Was damals passiert ist, meine ich.«
»Wir sind quitt, würde ich sagen.«
Zögernd nickte Babel, trat auf sie zu und umarmte ihre Schwester. Es war einer jener seltenen Momente zwischen ihnen, in denen sie tatsächlich spüren konnte, dass sie eine Familie waren. Da war sie plötzlich da, diese Nähe zwischen Schwestern, von der immer gesprochen wurde.
Als sie Judith losließ, sagte Babel leise: »Du hattest übrigens recht. Auguste ist nicht der Nekromant, der diese Toten auf dich angesetzt hat. Aber irgendjemand war es, und wir sollten rausfinden, wer. Du hast dir irgendjemanden zum Feind gemacht, der bereit ist, sehr weit zu gehen, um dich zu vernichten. Das solltest du nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
Judith nickte. »Ich kümmer mich darum. Geh du erst mal nach Hause und ruh dich aus. Du siehst ziemlich fertig aus.«
Erschöpft lachte Babel und klopfte ihr kurz auf die Schulter, bevor sie das Bad verließ. Draußen wartete Karl bereits ungeduldig. Aufmunternd drückte sie ihm den Arm.
»Alles erledigt?«, brummte er.
»Ja, alles, wie es sein soll.«
»Hältst du das etwa für eine gesunde Gesichtsfarbe, Mädel?«
»Fragt mich der Mann, der seinen ersten Zigarillo noch vor dem ersten Kaffee anzündet?«
Er runzelte die Stirn. »Glaub bloß nicht, dass sich die Sache erledigt hat, wir reden noch drüber, Mädel. Du hast mir da vorhin nämlich eine Scheißangst eingejagt, das kann ich dir sagen.«
»Ich weiß«, gab sie zu. »Du kannst mich später anschreien, ich brauch erst mal eine Pause.« Sie wandte sich an Auguste, der wieder in seinem Sessel Platz genommen hatte. Judith stand neben ihm und hatte die Hand auf seine Schulter gelegt. Babel musste zugeben, dass die beiden ein schönes Paar waren. Ihre Gegensätze ergänzten sich auf beinahe gespenstische Weise.
Sie trat zu den beiden und streckte Auguste die Hand entgegen. Die Worte fehlten ihr, aber er schien die Geste auch so zu verstehen, wie sie gemeint war: als Friedensangebot.
An den Gedanken, dass ihre Schwester ein Verhältnis mit einem Ombre hatte, würde sich Babel vielleicht nie gewöhnen können, aber sie konnte wenigstens versuchen, ihm nicht den Kopf abzureißen.
»Dir ist klar, dass du ihn irgendwann Mutter vorstellen musst?«, sagte sie zu Judith.
»Ich versuche es hinauszuzögern, solange es geht.«
»Vermutlich weiß sie längst von ihm.«
Schulterzuckend lächelte Judith, wobei sich auf der linken Wange ein Grübchen bildete. »Davon gehe ich aus. Wobei es mir ein völliges Rätsel ist, wie sie immer über alles Bescheid wissen kann.«
»Du weißt auch mehr, als gut für dich ist, weil deine Tauben ständig auf meinen Bäumen sitzen und durch meine Fenster glotzen.«
»Mutter betreibt keine Tiermagie, das weißt du so gut wie ich. Sie ist allergisch.«
Irritiert schaute Auguste zwischen ihnen hin und her. Sein französischer Akzent verstärkte sich, als er fragte: »Sollte ich mir Sorgen machen, wenn ich eure Mutter treffe?«
»Ach, Chérie, mach dir keine Sorgen.« Judith klopfte ihm auf die Schulter, und Babel bekräftigte: »Nein, wirklich, du musst nicht beunruhigt sein. Warum auch? Nur weil Mutter ein halbes Dutzend Sprüche kennt, um einem die Haut vom Leib zu ziehen, was ich übrigens wortwörtlich meine, ist das noch kein Grund, sich Sorgen zu machen.«
Als sich auf dem Gesicht des Nekromanten endlich so etwas wie Furcht zeigte, drehte sich Babel zufrieden um. Sie hakte sich bei Karl unter und hob die Hand zum Abschied, ohne sich umzudrehen. »Komm noch mal vorbei, bevor du abfährst«, rief sie über die Schulter, bevor sie die Suite verließen.
Vor dem Fahrstuhl bemerkte Karl trocken: »Das war fies.«
»Was soll ich sagen, ich bin die Tochter meiner Mutter.«
»Aha. Geht’s dir denn jetzt besser?«
Sie grinste. »Und wie. Nichts fördert die Gesundheit so sehr wie eine kleine Gehässigkeit.«
In der Lobby legte Babel fünfzig Euro auf den Tresen der Rezeption und sagte: »Das ist für die Reinigungskraft. Wegen des Teppichs.«
Sie blieben nicht stehen, um die Antwort der Hotelmitarbeiterin abzuwarten.