17
Als sie am nächsten Morgen ins Büro kam, hatte ihr Karl bereits eine Mappe auf ihre Seite des Schreibtischs gelegt, die die Informationen über den Mitarbeiter der Gerichtsmedizin enthielt. Während sie las, was er zusammengetragen hatte, fütterte er Xotl mit etwas, das nach chinesischen Glasnudeln aussah. Der Geruch nach Chilisoße verteilte sich in den Räumen.
Erstaunt und fasziniert fragte er den Papagei: »Hat sich dein Magen eigentlich deiner dämonischen Natur angepasst, oder warum kannst du Dinge essen, die anderen Vögeln den Garaus machen würden?«
Xotl wackelte mit dem Kopf. Dabei hingen ihm rechts und links Nudeln aus dem Schnabel.
Kopfschüttelnd sah sich Karl nach Babel um. »Sieh dir Seite zwei an. Da findet sich eine Auflistung seines Gehalts und seines Vermögens.«
Sie suchte die entsprechende Stelle. »Nicht gerade beeindruckend viel. Normaler Tarif in der Branche.«
»Eben. Aber unser Herr Doktor hat da ein kleines Problem.«
Interessiert sah sie auf.
»Sieht ganz so aus, als hättest du recht gehabt, was diesen Kerl betrifft. Kein Wunder, dass er nervös war, als du das erste Mal bei ihm aufgetaucht bist. Er hat ein Geheimnis, von dem er sichergehen will, dass es eins bleibt, denn wenn die Bullerei erst mal davon erfährt, wird er ganz oben auf ihrer Verdächtigenliste im Fall Vendome stehen.« Er kippte Xotl den Rest Nudeln in den Käfig und kam zurück zum Schreibtisch. »Er spielt.«
»Glücksspiel?«
Karl nickte.
»Aber das kann die Polizei auch rausfinden. Glaubst du, dass sie ihn deswegen befragen?«
»Nicht, wenn er nur in einem Privatclub spielt und nirgendwo sonst. Dann finden sich vielleicht Möglichkeiten, wie er seine Schulden dort begleichen kann.« Er wackelte mit den Augenbrauen und wirkte selbst ein bisschen begeistert darüber, wie viel er herausgefunden hatte.
»Du meinst mit Medikamenten?« Skeptisch schaute sie ihn an, aber er zuckte nur mit den Schultern.
»Aufputschmittel, Betäubungsmittel, Schmerzmittel. Such dir was aus.«
»Willst du damit sagen, er braucht Geld?«
»Seinen Kreditanträgen nach zu urteilen – ja.«
Grübelnd starrte Babel auf die Mappe. »Es wäre also möglich, dass er tatsächlich die Leiche an den Nekromanten verkauft hat.«
»Warum nicht, bietet sich doch an.«
»Aber er wird wohl kaum rumgefragt haben, ob jemand zufällig eine Leiche braucht.«
»Nein, aber vielleicht ist er gezielt angesprochen worden.«
»Möglich.« Sie legte die Mappe zurück auf den Tisch. »Ich werde ihn mir vornehmen. Das dürfte nicht schwierig herauszukriegen sein.«
»Brauchst du Hilfe?«
»Ich glaube nicht.« Sie schnappte sich den Zettel mit der Adresse und tippte sich kurz mit zwei Fingern zum Gruß an die Schläfe, bevor sie das Büro wieder verließ und die Treppe hinunterrannte. Vielleicht hatten sie ja Glück und würden dem Nekromanten endlich auf die Spur kommen, damit sie diese ganze Sache zu einem Ende bringen konnte.
Babel fuhr zur Gerichtsmedizin. Diesmal machte sie sich nicht erst die Mühe, sich zu verkleiden, sondern marschierte ohne Umschweife in das Gebäude. Das Sekretariat ließ sie hinter sich, ohne sich anzumelden.
An diesem Tag lag im Untersuchungsraum tatsächlich ein Körper unter einem Laken. Anscheinend standen die Kollegen kurz vor einer Obduktion. Sie kannte die Mitarbeiter nicht, die um den Tisch herumstanden und überrascht aufsahen, als Babel sie ansprach.
Knapp fragte sie nach Meier-Lenz und versuchte, so viel Autorität wie möglich in ihre Stimme zu legen. Tatsächlich bekam sie eine zögerliche Antwort. Offenbar war ihr Auftreten dermaßen einschüchternd, dass der Mitarbeiter vollkommen vergaß, sie zu fragen, wer sie eigentlich war und wieso sie einfach so in der Gerichtsmedizin herumwanderte.
Meier-Lenz hatte sein Büro im obersten Stock am Ende des Gangs, als hätte man ihn in eine abgelegene Ecke verbannen wollen. Daneben lag die Personalküche, in der sich um diese Uhrzeit jedoch niemand aufhielt. Der Flur lag still, hinter den Türen war nichts zu hören.
Nachdem Babel das Energienetz des Gebäudes abgetastet und nichts Verdächtiges gefunden hatte, betrat sie ohne zu klopfen das Büro von Meier-Lenz und schloss die Tür hinter sich.
Überrascht schaute er von seinen Unterlagen auf. »Ja?«, fragte er, und Babel trat an seinen Schreibtisch.
Er machte wieder einen zerstreuten und nervösen Eindruck.
»Erinnern Sie sich an mich?«
Er schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. Kurz schien er zu überlegen, was er tun sollte, dann entschied er, auf Nummer sicher zu gehen und erst einmal zu tun, was in solchen Fällen angebracht war: Er stand auf, kam um den Tisch herum und streckte ihr die Hand entgegen. Als sie sie nicht ergriff, blinzelte er irritiert.
»Ich war vor ein paar Tagen schon mal da«, sagte Babel kühl. »Wegen Madame Vendome.«
An seinem Gesicht konnte sie den Moment ablesen, in dem er sie erkannte. Sein Blick huschte über ihre Kleidung, die sich so von der unterschied, die sie bei ihrem ersten Treffen getragen hatte.
»Ich denke, ich habe da doch noch ein paar offene Fragen.«
»Fragen?« Er ging einen Schritt zurück, um Abstand zwischen sie zu bringen.
»Ja. Zum Beispiel, an wen Sie die Leiche verkauft haben.«
Wie unter einem Peitschenhieb zuckte er zusammen und hob abwehrend die Hände. »Ich habe niemandem eine Leiche verkauft! Wie kommen Sie darauf? Was soll das?«
»Na ja, du weißt schon, da wären die Spielschulden im Venus Cage und die ganzen Geldprobleme, die damit zusammenhängen. Da kann man schon mal auf solche Gedanken kommen, findest du nicht? Es ist ja auch ganz normal, dass man auf die Ressourcen zurückgreift, die man so hat. Dass das in deinem Fall tote Menschen sind«, sarkastisch winkte sie ab, »nun, dafür kann man ja nichts.«
Der Mann war bleich geworden. Ein paar Mal öffnete er den Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber es entkam ihm kein einziges Wort, nur undefinierbare Laute. Fieberhaft huschte sein Blick hin und her, als suche er nach einem Ausweg.
Ins Schwarze getroffen.
Der Mann war als Verbrecher ein hoffnungsloser Fall. Für ihn brauchte Babel nicht einmal Magie anwenden. Er konnte weder lügen noch ruhig bleiben, wenn man ihn mit seiner Schuld konfrontierte. Vermutlich war es für den Nekromanten ein leichtes Spiel gewesen, ihn um den Finger zu wickeln.
»Was hat er dir versprochen?«
»Nichts! Ich …«
»Unsinn!« Sie trat noch näher an ihn heran. »Irgendjemand hat dich angesprochen, nicht wahr? Und du konntest der Gelegenheit einfach nicht widerstehen. Deine Schulden sind inzwischen so hoch, dass du sie nicht mehr begleichen kannst, aber deine Wünsche sind nicht kleiner geworden. Dein Verlangen führt dich immer zurück in den Club. Aber sie haben dir gedroht, dich nicht mehr reinzulassen, bis deine Schulden bezahlt sind. So sieht es doch aus.«
Er sah zur Seite. Schweiß stand auf seiner Stirn, er zitterte.
»Und dann tauchte plötzlich dieser Jemand auf, der dir Hilfe anbot. Hat er dir versprochen, dass er die Leute dazu bringen kann zu vergessen, was du ihnen schuldest? Oder war es einfach schnödes Geld?«
»Wenn das bekannt wird, bin ich ruiniert«, flüsterte Meier-Lenz und sank in sich zusammen.
»Das bist du jetzt schon«, erwiderte sie und bekam beinahe Mitleid mit ihm. »Hör zu, ich bin nicht von der Versicherung und auch nicht von der Polizei; ich hab kein Interesse daran, dich ins Gefängnis zu bringen. Alles, was ich will, ist, denjenigen zu finden, der Vendomes Leiche gekauft hat. Wenn du mir sagst, was ich wissen will, verschwinde ich, und du siehst mich nicht wieder.«
Wie ein in die Ecke gedrängtes Tier starrte er sie an. »Ich verstehe nicht.«
»Das musst du auch nicht. Also, was hat er dir versprochen?«, fragte sie noch einmal nachdrücklich, und der Mann vor ihr flüsterte: »Geld.«
Kurz spürte sie etwas wie Enttäuschung. Manchmal waren Menschen einfach zu berechenbar – immer wieder erfüllten sich die schlechtesten Dinge, die man von ihnen annahm.
Ja, ja, solche Fälle werden deine Paranoia nur noch schlimmer machen, so viel steht fest. Irgendwann wirst du noch wie diese alten schrulligen Omas, die immer behaupten, man würde ihnen das Ersparte unter dem Kopfkissen wegklauen.
Wie gut, dass ich keine Ersparnisse habe.
»Und die Gegenleistung?«
»Ich … ich musste ihm den Schlüssel zur Gerichtsmedizin geben. Nur für eine Nacht …«
»Damit er die Leiche von Madame Vendome holen konnte.«
Wie betäubt nickte er.
Babel konnte sich nicht dagegen wehren, dass sie eine gewisse Neugier überfiel. »Hat es dich gar nicht interessiert, warum jemand eine Leiche haben will?«
»Ich dachte … Sie war ja schon tot …«
»Klar, Tote sind geduldig.« Sie schnaufte.
Wahrscheinlich hatte er gedacht, dass es ein Nekrophiler war, der endlich den Mut gefunden hatte, seiner Leidenschaft nachzugehen.
Angewidert verzog sie das Gesicht. »Was solltest du sonst noch tun?«
»Nichts weiter. Nur diese eine Sache.«
»Und danach hat er sich nie wieder bei dir gemeldet?«
»Nein.« Das Zittern wurde stärker. »Am nächsten Tag habe ich die zweite Hälfte des vereinbarten Geldes im Briefkasten gefunden.«
»Wie klassisch. War es ein Mann?«
Wieder nickte er, und langsam verlor sie die Geduld.
»Und was kannst du mir über ihn sagen? Wie sah er aus? Gab es irgendwelche Besonderheiten? Irgendetwas, das mir helfen könnte, ihn zu finden?«
Als er ihr endlich antwortete, hyperventilierte er fast. In rasendem Tempo hob und senkte sich seine Brust. »Er sah ganz normal aus … Er hat mich zu Hause aufgesucht. Blond, Mitte dreißig. Klang, als käme er von der Küste. Ganz normal eben …«
Na wunderbar. Dein normaler Nekromant von nebenan. Freitags noch einen Zombie gemacht, und am Samstag geht er schon im Park spazieren …
Der Kerl musste gut recherchiert haben, wenn er Meier-Lenz wirklich einfach so angesprochen hatte, ohne zu fürchten, dass der ihn bei der Polizei anschwärzte. Allerdings war er mit seiner Magie vermutlich so gut, dass er dessen Erinnerungen hätte verändern können, wenn sich Meier-Lenz nicht auf sein Angebot eingelassen hätte.
»Ich nehme nicht an, dass du einen Namen hast? Oder weißt, wo er sich aufhält? Irgendeinen Hinweis?«
Heftig schüttelte er den Kopf.
»Nein, natürlich nicht. Das wäre auch zu einfach gewesen.« Sie wandte sich ab und suchte sich auf dem Schreibtisch Zettel und Stift zusammen. Darauf schrieb sie ihre Handynummer und steckte ihm den Zettel in die Brusttasche seines Hemds. »Du wirst mich anrufen, wenn er sich wieder bei dir meldet, okay?«
Mit ängstlich verzerrtem Gesicht schaute er sie an. »Werden Sie zur Polizei gehen?«
»Nein, das sagte ich doch schon.« Einen Moment lang sah sie ihm fest in die Augen, und er wand sich unter ihrem Blick. »Du bist schon gestraft genug.«
Sie drehte sich um und wollte gehen, aber da hörte sie ihn hinter sich sagen: »Ich konnte nichts dafür … Ich konnte nicht dagegen angehen …«
Sie drehte sich um und sagte kalt: »Dann hättest du dir Hilfe holen müssen.«
Ich habe das auch gemacht.