11

Tamy setzte Babel vor dem Büro ab, und schon als sie das Gebäude betrat, spürte sie Judiths Anwesenheit in seinen Mauern. Die magische Signatur hing noch in der Luft, vermutlich war ihre Schwester erst kurz vor ihr eingetroffen. Auguste konnte sie jedoch nicht fühlen.

Als Babel nur noch wenige Stufen vom Büro entfernt war, ging plötzlich die Tür auf, und Yolanda stürmte hinaus. Ohne ein Wort sprintete sie mit rotem Kopf wutschnaubend an Babel vorbei und knallte im Erdgeschoss die Wohnungstür hinter sich zu.

Irritiert schaute Babel ihr einen Moment lang nach, bevor sie sich wieder umdrehte. Breitbeinig stand Karl wie der germanische Rächer, mit dem er so viel Ähnlichkeit besaß, im Türrahmen und zog an einem Zigarillo. Man konnte glauben, er hätte in der Tat eine ganze römische Legion in die Flucht geschlagen, der Zufriedenheit nach zu urteilen, die sich auf seinem Gesicht zeigte.

»Mein Gott, was hast du denn zu ihr gesagt?«, fragte Babel amüsiert.

»Dass sie mal den Stock aus ihrem Hintern nehmen soll. Möglicherweise hätte sie dann mehr Spaß im Leben.«

Anerkennend pfiff sie durch die Zähne. »Du machst keine halben Sachen, was?«

Er pustete einen dicken Rauchkringel in die Luft. »Es war ihre Schuld. Sie ist hochgekommen und hat verlangt, dass ich Dolly leiser drehe.«

»Verstehe, das grenzt natürlich an Majestätsbeleidigung.«

Er nickte und klopfte mit dem Zeigefinger auf den Anhänger, der an einer Kette um seinen Hals hing und Dollys Bild enthielt. Die Ironie ihrer Aussage schien ihm vollkommen entgangen zu sein.

Kopfschüttelnd ging Babel an ihm vorbei ins Büro, in dem es nach Judiths Parfum roch, das sogar schwer genug war, um Karls Zigarillorauch zu überdecken.

Judith selbst saß auf dem Schreibtisch, die langen Beine übereinandergeschlagen, ein Leopardenmini verdeckte dabei gerade das Nötigste. An den Füßen baumelten schwarze Lackpumps, deren Absätze auch als Mordinstrumente gelten konnten.

Manchmal hätte man wirklich bezweifeln können, dass sie verwandt waren.

Mo stand vor ihr und war offenbar hingerissen, während Judith ihm den Arm tätschelte und über etwas lachte, das er gesagt haben musste.

»Du weißt schon, dass sie auch eine Hexe ist, ja?«, sagte Babel und hing ihre Jacke an die Garderobe. Ihre Springerstiefel klangen laut auf den Holzdielen.

Mo steckte nur die Hände in die Hosentaschen und sah sie an, als wisse er nicht, was sie meine. Sein T-Shirt trug den Schriftzug You NUCK!, und es dauerte ein paar Sekunden, bis Babel den Witz verstand und den falschen Buchstaben ersetzt hatte. Mos giftgrüne Hose mit den blauen Hosenträgern bildeten gemeinsam mit seinem rotgefärbten Haar ein stechendes Farbensemble, das jeden Betrachter aufweckte.

»Bist du vielleicht farbenblind, ist das das Problem?«, fragte sie ihn mit ernster Miene, aber wie immer war er über jede Kritik an seiner Person oder Kleidung erhaben.

»Kann nicht jeder so langweilig rumlaufen wie du. Die Farben sind Ausdruck meiner Persönlichkeit.«

»Und was für eine feine Persönlichkeit das ist.«

»Hexenbruuut … tuuut nicht guuut …«, schallte es aus dem Käfig.

Mo grinste sie an, und Babel wandte sich an Judith, die gerade ihre Fingernägel betrachtete. »Du hast dich schon mit unserem Maskottchen bekannt gemacht?«

Judith blickte auf. »Ja, er hat mich wissen lassen, was er von meinem Parfum hält.«

»Gestaaank … krik …«

Als sie näher an den Schreibtisch trat, sah sie Judiths Augenringe und spürte wieder die Verschiebung in ihrem magischen Netz. Obwohl ihre Schwester reichlich Make-up trug, konnte sie die Spuren einer schlaflosen Nacht nicht ganz verdecken.

»Wie geht’s dir?«, fragte Babel schon milder gestimmt, während sie sich setzte und nach dem Poststapel griff, den Karl auf ihre Seite des Schreibtischs schob.

»Ganz gut.«

»Mhm.«

»Gibt’s ein Problem?«, mischte sich Mo ein, der es sich auf seinem bevorzugten Platz auf dem Fensterbrett bequem machte und dabei wieder den Straßendreck von seinen Sohlen auf die Heizung schmierte.

Judith lächelte ihn an, worauf er einen roten Kopf bekam. »Alles in Ordnung, mein Kleiner. Nur ein paar Schwierigkeiten mit unliebsamen Zeitgenossen. Nichts, was Babel nicht wieder hinkriegen würde, nicht wahr?« Auffordernd sah sie Babel an, die sich bemüßigt fühlte »Ja, ja« zu murren.

Als Mo den Kopf in die Hände stützte, schlugen seine Ohrringe aneinander, und Babel fragte sich, ob Tom als Jugendlicher auch so eine Pest gewesen war.

»Ich finde, es sollte mal wieder was passieren«, tat die Pest kund. »Die letzten Wochen waren irgendwie langweilig, findet ihr nicht?«

Babel tippte sich an die Schläfe. »Aber sonst geht’s dir gut, ja? Als es das letzte Mal aufregend war, bin ich dabei fast draufgegangen. Glaub mir, von mir aus kann’s ruhig langweilig bleiben. Außerdem ist eine verschwundene Leiche nicht gerade eine alltägliche Sache.«

Wieder wackelte er mit dem Kopf, als würde er ihren Einwand abwägen, aber wirklich überzeugt sah er nicht aus.

»Warum hilfst du den anderen Plags nicht dabei, die Wagenburg aufzubauen? Ich bin sicher, die können jede Hilfe gebrauchen.«

Bei ihren Worten hatte er den Kopf eingezogen wie eine Schildkröte und den Blick abgewandt. Er druckste ein bisschen herum, bis er endlich zwischen den Zähnen hervorquetschte: »Sie sind sauer, weil ich damals einfach abgehauen bin. Ständig werfen mir die anderen vorwurfsvolle Blicke zu. Ich kann das nicht leiden.« Trotzig schob er die Unterlippe vor und kratzte die Schuhsohle weiter an der Heizung ab.

Babel wusste, dass ihm die anderen Plags nicht so sehr nachtrugen, dass er nicht mit ihnen gegangen war, als sie die Stadt verlassen hatten, sondern dass er bei einer Hexe Unterschlupf gesucht hatte. Auf Tom konnten sie nicht verzichten, er war zu wichtig für die Gemeinschaft. Außerdem glaubten sie nach wie vor, dass seine Leidenschaft für Babel irgendwann erkalten würde.

Doch Mo bekam ihre Verärgerung deutlicher zu spüren. Wohin der Junge auch ging, hörte er Vorwürfe, weil er sich mit Karl und Babel abgab. Dabei musste doch jeder Idiot sehen, dass dieses ermahnende Verhalten den kleinen Punk erst recht dazu brachte, zu ihr zu rennen. Er ließ sich eben nicht gern etwas vorschreiben, in dieser Hinsicht war er wie die meisten Heranwachsenden.

»Was willst du eigentlich hier?«, fragte sie Judith, weil sie nicht weiter in ihn dringen wollte.

Daraufhin sprang ihre Schwester vom Tisch und setzte sich endlich auf einen Stuhl. »Ich musste mir doch mal deinen Arbeitsplatz anschauen. Und natürlich Karl.« Sie warf auch ihm ein strahlendes Lächeln zu, und wie jeder andere Mann war er gegen ihren Charme nicht immun.

Verlegen grinste er, worüber Babel nur den Kopf schütteln konnte. Selbst mit Toten im Schlepptau besaß Judith noch diese anziehende Wirkung auf Menschen, die Babel so vollkommen zu fehlen schien. Sie musste nur lächeln und sich durch das helle Haar fahren, und schon waren alle hingerissen. Babel wusste nicht so recht, ob sie darüber amüsiert oder verärgert sein sollte.

Die nächste halbe Stunde besprach sie mit Karl das weitere Vorgehen in der Vendome-Sache, immer wieder unterbrochen von Mo, der seine Hilfe anbot. Besonders lautstark, als Babel von dem Privatclub erzählte.

»Ich kann dir helfen, die Leute zu befragen«, bot er an, worauf Babel laut lachte.

»Du kriegst noch nicht mal ein Bier ausgeschenkt. Es würde mich sehr wundern, wenn die dich da überhaupt durch die Tür lassen.« Sie deutete auf seine Hose. »Nicht gerade Haute Couture.«

»Aber das?«, schoss er zurück und schaute demonstrativ auf ihre Jeans, die an den Knien bereits rissig wurde.

»Kinder!«, ermahnte Karl, und Judith warf Babel einen eindringlichen Blick zu.

»Was ist mit meinem kleinen Problem, wann kümmern wir uns darum?«, fragte sie.

»Das muss bis morgen warten.«

Schmollend verzog Judith den Mund, erwiderte aber nichts. Einen Tag mehr oder weniger würde das Problem nicht verschlimmern, und Babel konnte nicht auch noch dieses Ritual für sie durchführen, wenn sie sich darauf vorbereitete, mit Sam in den Club zu gehen. Das waren ein paar emotionale Herausforderungen zu viel. Der Zombie hatte Vorrang.

Gerade als Karl von seinen Hintergrundrecherchen berichten wollte, die sich mit Sonjas Leben beschäftigten, wurde es Judith zu langweilig. Madame Vendomes verschwundener Leichnam interessierte sie nicht im Geringsten, schließlich glaubte sie immer noch, dass ihr neuer Freund nichts damit zu tun hatte. Vermutlich hatte ihr Besuch ohnehin nur den Zweck gehabt zu sehen, ob Babel es sich über Nacht anders überlegt hatte. Nachdem sie nun auch Karl und Mo auf ganz altmodische Weise bezaubert hatte, ging sie sicher, dass Babel gar nichts anderes übrig blieb, als ihr zu helfen, wenn sie nicht wollte, dass die beiden ihr in den Ohren lagen.

Sieh es ein, deine Schwester versteht von Manipulation mehr als du.

Vielleicht kann sie Urd dazu bringen, das Gesabber zu lassen.

Babel wurde Zeuge, wie Karl und Mo mit bedauernden Gesichtern Judiths Abgang verfolgten. Zurück blieben zwei Seufzer, die möglicherweise zu gleichen Teilen Judiths Lächeln und dem Minirock galten.

»Was ist nur aus der guten alten Zeit geworden, als man sich noch darauf verlassen konnte, dass die Plags alle Hexen widerlich fanden?«, fragte sie und hob theatralisch die Hände, aber Mo feixte nur und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Bei dem Gedanken daran, wer die nächsten Tage in seinen nächtlichen Träumen eine Hauptrolle spielen würde, verzog Babel das Gesicht.

»Man gewöhnt sich dran«, sagte er und warf Karl einen Blick zu, den vermutlich nur Männer verstanden, denn Babels Geschäftspartner nickte zustimmend und schaute verträumt auf die Tür, hinter der Judith verschwunden war.

»Okay, das muss aufhören, Jungs, ich krieg sonst Brechreiz. Sie ist auch nur ein Mensch, okay! Und damit ihr’s wisst, die Wimpern sind falsch.«

Verständnislos sahen die beiden sie an, als wollten sie sagen: Wen interessiert’s – und an dieser Stelle beschloss Babel, dass sie allein deshalb Judith helfen würde, damit ihre Schwester die Stadt so schnell wie möglich wieder verließ – bevor die Männer in Babels Umgebung noch vollkommen den Verstand verloren.

Sie schrieb Augustes Namen auf ein Post-it und klebte es auf die Schreibunterlage auf Karls Seite. »Hier. Sieh mal zu, ob du über diesen Kerl etwas herausfinden kannst.«

»Wer ist das?«

»Ein Zufall, der mir nicht schmeckt.«

Fragend zog Karl eine Augenbraue hoch.

»Tu es einfach. Er ist eigentlich Franzose, ist das ein Problem?«

»Solange er keine Froschschenkel isst.«

»Ich meine, kannst du trotzdem was über ihn herausfinden?«

Er lehnte sich zurück. »Klar.«

»Aber sei ein bisschen vorsichtig, er ist magisch aktiv.«

»Verstehe.«

Sie verschränkte die Arme und sah sich nachdenklich um. Dabei fiel ihr Blick auf den Schrank, der in der Ecke stand und eine Auswahl an magischen Ritualzutaten enthielt, die sie möglicherweise im Büro gebrauchen konnte.

»Ich glaube, ich sollte nach Hause gehen und mir mal das magische Netz der Stadt ansehen. Das hätte ich schon längst tun sollen. Wenn sich hier noch mehr Hexen niedergelassen haben, muss ich das wissen. Vielleicht entdecke ich ja auch eine Spur, mit der wir etwas anfangen können.«

»Ungeziefer … erschlaaagen …«

»Ausnahmsweise hast du sogar mal recht«, erwiderte sie, und Xotl flatterte aufgeregt mit den Flügeln.

Dabei entblößte er seinen nackten Bauch, an dem er sich die Federn ausgerissen hatte. Er war wirklich der hässlichste Vogel der Welt, aber immerhin verteilte er seine Boshaftigkeiten an jeden gleichermaßen, ganz egal, ob man einen Minirock trug oder nicht. Das musste man dem Vogel zugute halten. Auf seine Art war er ein großer Gleichmacher.