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»Das ist Tamys Ohrring«, stellte Babel überrascht fest, als sie neben Judith durch das Beleuchtungsgeschäft in der Innenstadt lief und die Augen gegen die gleißende Helligkeit der Dutzenden Glühlampen zusammenkniff.
Doch Judith reagierte nicht, stattdessen schaute sie kritisch auf die Ware rechts und links, und dabei blinkte an ihrer rechten Ohrmuschel eine kleine silberne Schildkröte, die noch vor Kurzem Tamy gehört hatte.
»Judith?«
»Mein Gott, ich hab ihn mir eben geborgt.«
»Warum?«
»Weil er mir gefiel.«
»Von mir borgst du dir nie etwas.« Ein bisschen beleidigt steckte Babel die Hände in die Hosentaschen und folgte Tamy, die wenige Meter vor ihnen lief – verfolgt von einem eingeschüchterten Verkäufer, der anscheinend nicht recht wusste, was er mit dieser seltsamen Kundschaft anfangen sollte, die ihn um einen guten Kopf überragte und aussah, als könne sie ohne Probleme einen wild gewordenen Löwen bändigen. Mit bloßen Händen.
»Sei nicht beleidigt, Babel«, schlug Judith einen versöhnlicheren Ton an.
»Ich bin nicht beleidigt.«
»Doch, das bist du. Es ist nur ein Ohrring.«
»Wenn du es sagst.«
»Was soll dieser Unterton?«
Babel blieb stehen und betrachtete Judith mit sezierendem Blick. Im Kunstlicht glänzte ihr weißblondes Haar wie ein Heiligenschein, dabei hätte ihre Schwester nicht weiter von einer Heiligen entfernt sein können. Seit der Pleite mit dem Nekromanten – Judith weigerte sich strikt, seinen Namen zu nennen – hatte ihre übliche Ausgelassenheit allerdings einen Dämpfer erhalten.
Eigentlich hatte Babel erwartet, dass Judith die Stadt bald wieder verlassen würde, die ihr eine solche Liebeskatastrophe beschert hatte. Stattdessen war Judith jedoch geblieben, und das ausgerechnet bei Tamy, der Türsteherin mit dem Rapunzelhaar – die eigentlich Babels AA-Sponsorin war.
Babel deutete auf Tamy und sagte: »Du suchst eine Lampe mit ihr aus. Eine Lampe!«, worauf Judith die Arme verschränkte und eine Augenbraue hochzog.
»Warum betonst du Lampe so komisch?«
»Ich betone nicht Lampe komisch, sondern mit ihr.«
»Mhm.« Eindringlich musterte Judith sie und legte dann den Kopf schief. »Ich verstehe. Aber dir ist doch bewusst, dass es nur eine Lampe ist, oder? Ihr wart auch schon einmal zusammen auf dem Flohmarkt.«
Babel wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Etwas war hier sehr merkwürdig, und sie würde schon noch herausfinden, was genau das war.
»Wie findest du die hier?«, rief Tamy in diesem Moment und beugte sich über eine Stehlampe, deren Schirm in Form und Farbe einem Fliegenpilz ähnelte. Ein Zungenschnalzen war die einzige Antwort, die sie von Judith erhielt. Kopfschüttelnd verließ sie den Platz an Babels Seite und trat neben Tamy, die misstrauisch auf die kleinere Frau an ihrer Seite herabschaute, als erwarte sie jeden Moment eine Überraschung.
Babel konnte es ihr nicht verdenken. Judiths Stimmungen vorauszusagen war in etwa so erfolgreich wie die genaue Berechnung eines Tornados. Man wusste nie, welche Idee ihr als Nächstes kommen würde, daher begegnete man ihr in einer permanenten Haltung der Erwartung.
Während Judith mit dem Verkäufer debattierte, der zusehends ins Schwitzen geriet, warf Tamy Babel einen entschuldigenden Blick zu. Allerdings war Babel nicht ganz klar, wofür sich die Türsteherin entschuldigte. Allerdings hatte sie das Gefühl, dass es nicht um Tamys schlechten Geschmack in Bezug auf Einrichtungsgegenstände ging.
Sie wollte eben zu ihnen hinübergehen, um den armen Verkäufer von Judith zu erlösen, als ihr Handy in der Jackentasche klingelte. Das Display zeigte als Anrufer Die Kröte. Babels Bezeichnung für Mo.
An guten Tagen.
Mo war auch so einer, der irgendwie kleben geblieben war. Eigentlich sollte der kleine Plag nur vorübergehend bei Babels Geschäftspartner Karl einziehen, doch daraus waren Wochen und Monate geworden, und niemand wusste so genau, warum sich dieser Punk ausgerechnet den Dolly Parton liebenden, Hawaiihemden tragenden Asterixverschnitt zum Ersatzvater erwählt hatte. Doch auf irgendeine Weise funktionierte auch diese Sache.
Babel drückte auf die Verbindungstaste. »Lass mich raten, ich soll euch zum Mittagessen Döner mitbringen.«
»Babel …«
Die Art, wie er ihren Namen sagte, reichte, um ihr die Nackenhaare aufzustellen und ihre Magie zu aktivieren. Der Teppich unter ihren Füßen verfärbte sich dunkel. »Was ist passiert?«
»… du hättest … es war … so viel Blut …«
Ihr Herz begann zu rasen. »Mo, beruhige dich. Was ist passiert?«
»Karl ist im Krankenhaus. Ich war nur ganz kurz weg, um Essen zu holen … und als ich wiederkam … da … da … es war jemand im Büro … die Energien waren ganz durcheinander …«
Hexen.
»Welches Krankenhaus?«, fragte sie mit brüchiger Stimme.
»St. Anna.«
»Ist er schwer verletzt?«
»Ich weiß nicht … ja, wahrscheinlich … sie haben ihn weggebracht … ich weiß nicht …«
»Schon gut, ich komme.« Ohne ein weiteres Wort beendete Babel das Gespräch und zog schon im Laufen den Motorradschlüssel aus der Hosentasche. Mit wenigen Schritten war sie bei Judith und Tamy, die sie alarmiert ansahen.
»Karl ist überfallen worden. Ich muss ins St. Anna.«
»Wir fahren dir mit dem Auto nach«, erklärte Tamy, und Babel nickte. Ihr war fast schlecht vor Angst.
Noch nie in ihrem Leben war sie so schnell zu ihrem Motorrad gerannt, das Herz schlug ihr bis zum Hals, das Blut rauschte ihr in den Ohren, und sie musste drei Mal ansetzen, um den Schlüssel ins Zündschloss stecken zu können, so sehr zitterten ihr die Finger.
Wenn Karl stirbt …
Sie durfte nicht daran denken. Es war unvorstellbar, dass diesem alten Rabauken irgendetwas zustoßen konnte. Dass er womöglich nicht mehr da sein würde, wenn sie morgens ins Büro käme, um sie mit seinen Dolly-Parton-Platten in den Wahnsinn zu treiben. Ohne es zu merken, war Karl zu einem der wichtigsten Menschen in ihrem Leben geworden … Er hatte ihr damals mit seinem Angebot, sich zusammenzutun, eine Perspektive gegeben, mit ihm hatte sie auch einen Platz für sich selbst gefunden, endlich eine Heimat. Er war da gewesen, als Sam ab- und bevor Tom aufgetaucht war. Selbst Xotl schien seit Karls Auftauchen umgänglicher.
Genau wie sie.
Galle kam ihr hoch, und ihre Hände wurden feucht. Der Weg durch die Stadt kam ihr endlos vor, und die roten Ampeln schienen sich von einem Tag auf den anderen verdoppelt zu haben. Babels Magie färbte den Tank des Motorrads mehrfach um und brannte das Gummi von den Lenkgriffen.
Es war immer ihre größte Angst gewesen, die nicht schützen zu können, die ihr etwas bedeuteten. Dass all ihre Macht nicht ausreichte, um sie in Sicherheit zu bringen.
Sicherheit ist eine Illusion, das weißt du doch, sagte die Stimme in ihrem Kopf, die wie die ihres Vaters klang – damals, als sie noch klein gewesen war und er sie getröstet hatte.
Nein, sie durfte nicht daran denken, dass sie diesen Trost vielleicht bald wieder brauchen würde. Mo hatte gesagt, dass Karl noch lebte, und wenn es so war, dann würde sie ihn auch retten.