DAMALS
Babels 15. Geburtstag
»Das ist nicht dein Ernst!« Entrüstet blieb Babel stehen.
Um sie herum lachten die Leute, die sich auf dem Marktplatz zum Stadtfest eingefunden hatten. Auf einer Bühne spielte die übliche Regionalband Coversongs von Bands, die sich schon vor zwanzig Jahren aufgelöst hatten, und hundert Menschen sangen falsch, aber laut mit.
»Ach, komm schon, das wird lustig.« Judith fasste sie ums Handgelenk und zog sie weiter, auf ein rostfarbenes Zelt zu, das aussah wie eine Mischung aus Indianer- und Campingzelt. Es stand etwas abseits der anderen Buden auf einer Wiese, auf der Dutzende Bierbänke und Tische aufgestellt waren. Der Himmel war strahlend blau, und die ersten Bierleichen hingen bereits über den Tischen und schnarchten friedlich vor sich hin, während die anderen Gäste des Stadtfests noch der feucht-fröhlichen Feier frönten.
Ein Schild über dem Eingang des Zelts verkündete: Madame LaRouge. In der Erde steckte eine kleine Kreidetafel, auf der die Preise für eine Sitzung aufgelistet waren.
»Du weißt doch, dass das Blödsinn ist«, versuchte Babel ihre Schwester zu überzeugen. »Sie ist nicht mal eine echte Hexe, das spürst du doch.«
Schmollend verzog Judith den Mund. Sie war gerade in ihrer grünen Phase, das hieß, der Lidschatten, den sie aus der Drogerie hatte mitgehen lassen, zog sich bis zu ihren hellen Augenbrauen hoch. Auch ihre Finger- und Fußnägel waren in dieser Farbe lackiert, und eine einzelne Schimmelsträhne unterbrach ihr ansonsten hellblondes Haar. Im Monat zuvor war es Rot gewesen, allerdings hatte ihre Mutter dem schnell ein Ende bereitet, weil Judith immer wieder auf der Straße von besorgten Passanten angesprochen worden war, die glaubten, sie würde im Gesicht bluten.
Der Ausflug zum Stadtfest war Judiths Idee gewesen, Babel wäre lieber ins Kino gegangen. Aber nachdem sie sich einen Tag zuvor mit ihr gestritten hatte, bestand ihre Mutter darauf, dass sie etwas gemeinsam unternahmen.
Sie hätte gleich wissen müssen, dass es unmöglich war, Judith zu etwas zu zwingen, zu dem sie keine Lust hatte. Also war sie ihr hinterhergetrottet, lustlos die Hände in den Jeans, und nun standen sie vor dem Zelt einer angeblichen Wahrsagerin.
»Willst du denn gar nicht wissen, was die Zukunft für dich bereithält?«, fragte Judith und grinste.
»Ehrlich gesagt, nein. Aber das ist ja noch nicht mal echt, das ist doch nur Verarsche für Leichtgläubige. Dafür gebe ich sicher keine Geld aus.«
Judith verdrehte die Augen. »Wer sagt, dass du Geld dafür ausgeben musst? Himmel, wozu bist du nun eine echte Hexe?«
Babel runzelte die Stirn. Ihre Mutter schärfte ihnen immer ein, dass sie mit ihren Fähigkeiten vorsichtig umgehen mussten, denn sie durften nicht zu offensichtlich werden.
Bevor Babel eine weitere Erwiderung hervorbringen konnte, hob sich die Eingangsplane des Zelts, und eine Frau mittleren Alters trat ihnen entgegen. Sie trug ein tiefblaues Kleid mit Silberstickereien am Kragen und den überbreiten Ärmeln. Ihr dunkles Haar war zu einem beängstigend hohen Knoten aufgetürmt. An den Ohren hingen Kreolen, die ihre Schultern berührten. Der rot geschminkte Mund war zu einem einladenden Lächeln verzogen, als die Frau auf sie herabsah.
»Kann ich euch helfen?«, fragte sie freundlich, und sofort rief Judith enthusiastisch: »Ja, wir wollen uns die Zukunft voraussagen lassen.«
»Dann kommt mal herein.« Sie hielt die Plane so, dass Babel und Judith eintreten konnten. Babel musste ein wenig den Kopf einziehen und sich bücken.
Als sie das Innere des Zelts betraten, schlug ihnen Weihrauchduft entgegen, und Babel verzog angewidert das Gesicht. Viel Platz war hier nicht. Es gab lediglich einen kleinen Tisch, um den ein halbes Dutzend große Kissen lagen, ähnlich bestickt wie das Kleid der Wahrsagerin. Ein kleiner CD-Player sorgte für stimmungsvolle Musik, und mehrere Kerzenständer verbreiteten schummriges Licht. Babel fragte sich, wie die Frau in diesem Halbdunkel überhaupt etwas in ihren Karten erkennen konnte.
Madame LaRouge deutete auf die Kissen und setzte sich im Schneidersitz ihnen gegenüber an den Tisch. Aus einem schwarzen Samtbeutel nahm sie einen Stapel Tarotkarten und begann langsam, sie zu mischen.
»So, was wollt ihr denn wissen?«
»Werde ich bald einen tollen Freund finden?«, fragte Judith enthusiastisch, während Babel gelangweilt die Ellbogen auf dem Tisch abstützte.
Dafür brauchte man wirklich keine Wahrsagerin befragen. Seit Judith zwölf geworden war, hatte sie keine Woche keinen Jungen angeschleppt. Inzwischen war ihr Vater dazu übergegangen, sie alle nur Johnny zu nennen, gleichgültig, ob sie in Wirklichkeit vielleicht Norbert, Gert oder Michael hießen. Außerdem legte er ihnen bei jedem ersten Zusammentreffen den Arm in einer Art um die Schultern, die auch dem Dümmsten unter ihnen klarmachte, was er mit Judith besser nicht anstellte. Ganz ohne Magie schaffte es ihr Vater, dass die Jungs Judith immer pünktlich nach Hause brachten.
Madame LaRouge legte die Karten in ordentlichen Reihen vor sich und verzog konzentriert die Augenbrauen. Babel warf Judith einen vielsagenden Blick zu, die aber grinste nur und stützte das Kinn in die Hand.
»Was sagen die Karten?«, fragte sie ungeduldig, und die Wahrsagerin machte: »Mhm.«
»Was?«
»Nun, ich sehe viel Liebe in deinem Leben, aber auch viel Kummer.«
»Oh.« Judith klang noch begeisterter. »Wird es sehr dramatisch?«
Nachdrücklich nickte Madame LaRouge.
»Ich wusste es«, sagte Judith triumphierend.
Babel schüttelte den Kopf. Das Spiel machte Judith offenbar die allergrößte Freude, auch wenn Babel nicht sagen konnte, was daran so erfreulich sein sollte. Die Frau war so magisch wie jeder Zauberer, der Kaninchen aus Hüten hervorholte. Um eine echte Spur aus Zukunft und Vergangenheit zu erhaschen, waren komplizierte Rituale erforderlich, und es gab nur noch wenige Hexen, die sich darauf verstanden.
»Was ist mit Babel hier? Wie wird es bei ihr?«, fragte Judith herausfordernd.
Überrascht sah die Frau sie an. »Babel? Welch ungewöhnlicher Name.«
»Auch nicht ungewöhnlicher als LaRouge«, konterte Babel, und der Mund der Wahrsagerin verzog sich zu einem schmalen Lächeln.
»Also gut, schauen wir mal, was die Zukunft für dich bereithält.« Diesmal dauerte es deutlich länger als bei Judith. Gleich zweimal legte sie die Karten aus, aber auch hier erfolgte ein »Mhm«, bevor sie sich äußerte.
»Schwierig«, sagte sie.
»War ja klar«, murmelte Babel, und Judith stieß sie mit dem Ellbogen in die Seite.
»Was sehen Sie?«, wollte sie wissen.
»Nun, Babel wird einen langen Weg gehen müssen, bis sie endlich die wahre Liebe findet. Ich sehe großen Schmerz …«
»Prima, also gibt es für uns Kummer und Schmerz«, fasste Babel zusammen.
Die Frau warf ihr einen scharfen Blick zu und schob die Karten zusammen. »Ich sage euch nur, was in den Karten steht. Außerdem habe ich auch gesagt, dass Liebe auf euch wartet.«
»Das ist ja sehr präzise.«
Hochmütig sah die Frau auf sie herab. »Du musst nicht daran glauben, die Zukunft wird schon zeigen, was die Karten dir mitzuteilen versuchen.« Sie wandte sich an Judith. »Deine Liebe wird allerdings eine Überraschung für dich sein. Etwas Unerwartetes und Neues.«
»Oh, ich liebe Überraschungen.« Judith strahlte. Noch immer lag ihr Kinn in ihrer Hand, und sie wackelte mit den Augenbrauen.
Die Wahrsagerin nickte ihr wohlwollend zu, bevor sie sich noch einmal Babel zuwandte. »Viele dunkle Stunden liegen vor dir, aber die Liebe wird dich nicht verlassen.«
»Na so ein Glück.«
Plötzlich legte Judith ihre Hand auf den Arm der Wahrsagerin und lächelte ihr charmantestes Lächeln. Babel spürte, wie sich Judiths Magie ausbreitete und das Energienetz der Frau erfasste.
Mit einem Mal saß die Frau ganz still, ihr Blick wurde abwesend, und ihr Unterkiefer klappte ein Stück nach unten. Als Judith vor ihrem Gesicht mit dem Zeigefinger schnippte, reagierte sie nicht. Zufrieden stand Judith auf.
»Lass uns verschwinden. Ich hab keinen Bock, sie zu bezahlen.« Sie nahm die CD aus dem Player und steckte sie ein. Auf Babels vorwurfsvollen Blick erwiderte sie schulterzuckend: »Ich brauch für Paps noch ein Geschenk, und er wird dieses Zeug lieben.«
»Er hört Silly.«
»Was denn? Bataillon d’Amour klingt doch ein bisschen so.«
»Nein, tut es nicht.« Babel hob die Plane am Zelteingang und winkte Judith, sich zu beeilen. Als die Plane hinter ihnen wieder herunterfiel, fragte sie: »Wann löst sich die Starre bei Madame wieder?«
»Oh, das dauert nicht lang, je weiter wir weggehen, desto mehr wird sie zu sich kommen. Keine große Sache.«
Nachdem sie ein paar Meter gegangen waren, sagte Babel: »Das war doch totaler Schwachsinn.«
»Na und? Ich fand’s witzig.«
»Das ist doch alles nur Masche. Sie sieht sich die Leute an und schwafelt irgendwas, das so allgemein ist, dass es immer irgendwie passt.«
Theatralisch hob Judith die Hände und schaute in den Himmel. »Mein Gott, Babel, nimm doch nicht immer alles so ernst. Es war doch nur ein Spiel. Kein Wunder, dass die einen Blick auf dich wirft und feststellt, dass viele dunkle Stunden vor dir liegen. So wie du immer rumbrütest, müssen da ja lauter Probleme auf dich zukommen.« Energisch deutete sie auf einen Zuckerwattestand und zerrte Babel mit sich.
»Und was bedeutet es, dass sie dir vorausgesagt hat, dass eine Menge Liebe auf dich zukommt? Haufenweise Jungs, ja?«
Judith grinste wieder breit und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Was soll ich sagen? Ich bin eben zu hübsch, um nur mit einem Jungen zu gehen.« Sie winkte den Jungs, die vor ihr in der Schlange standen, zu.
»Die sind jedenfalls keine Überraschung«, erwiderte Babel und wandte demonstrativ den Blick ab.
Kichernd beugte sich Judith zu ihr herüber und flüsterte ihr ins Ohr: »Vielleicht fang ich ja was mit ’ner Frau an.«
»Na klar, warum nicht gleich Kommune?«
Judith zuckte mit der Schulter. »Stellst du es dir nicht total langweilig vor, bis an dein Lebensende immer denselben Menschen zu lieben? Ich meine, dann kann man sich doch nie wieder neu verlieben.«
»Mama und Paps sind schon ewig zusammen.«
»Mhm.« Für einen Moment dachte Judith über dieses unwiderlegbare Beweisstück nach, dann lachte sie und legte Babel den Arm um die Schultern. Dafür musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, weil Babel immer noch einen guten Kopf größer war als sie. »Dann müssen wir eben so viele Liebesaffären haben, wie wir können, bevor wir so langweilig werden wie Mami und Paps. Was hältst du davon?«
»Wunderbar«, antworte Babel sarkastisch. »Ich werde mir ein Bild von Mata Hari ins Zimmer hängen und mir ein Beispiel dran nehmen.«
»Ist die nicht hingerichtet worden?«
»Ja, aber du hast Madame LaRouge doch gehört. Kummer und Schmerz warten auch auf uns.«
Als sie Judiths entsetztes Gesicht sah, musste sie endlich auch lachen.