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Am nächsten Morgen wurde Babel durch das Gurren einer Taube vor ihrem Schlafzimmerfenster geweckt, noch bevor der Wecker klingelte. Das Tier legte eine solche Hartnäckigkeit an den Tag, dass Babel nach zehn Minuten entnervt aufstand und in die Küche tapste, weil es ihr unmöglich war, wieder einzuschlafen. Ein pochender Kopfschmerz hatte sich hinter ihrer linken Schläfe eingenistet, der durch das schwüler werdende Wetter noch verstärkt wurde. Seinen Ursprung fand er allerdings im Abend zuvor, denn irgendwie hatte das Essen mit Karl dazu geführt, dass sie in seiner Stammkneipe versackt waren. Noch bevor der Wirt mit einem Rausschmeißerschnaps auf Kosten des Hauses die letzte Runde eingeläutet hatte, waren sie von zwei Flaschen Rioja mehr als nur angeheitert gewesen. Babel glaubte sich zu erinnern, dass sie gemeinsam mit dem Wirt Ein Bett im Kornfeld gesungen hatte, während sich die Plastiksträuße auf den Tischen plötzlich in echte Mohnblumen verwandelt hatten, weil sich Babels Magie verselbständigte. Zum Glück waren die anderen Gäste in einer ähnlichen Verfassung gewesen, weshalb niemand panisch aufgesprungen war.

Der Kopfschmerz war also wirklich keine Überraschung.

Als sie Karl nach dem dritten Glas Wein von der Mordserie unter den Plags erzählt hatte, war nur ein barsches »Mhm« gekommen, das sowohl fragte: Warum lassen wir uns da reinziehen? als auch: Wo genau liegt für mich der finanzielle Nutzen in einem verstaubten Buch? Mit anderen Worten, Karl verstand nicht, warum Babel den Auftrag angenommen hatte, und auch ihre dahingestammelten Erklärungsversuche hatten daran nichts geändert. Am Ende der Diskussion hatte er die Arme verschränkt und gemurmelt: »Mach doch, was du willst.« Danach hatte er nichts mehr zu dem Thema gesagt und sie lediglich an ihren neuen Auftrag und das Groupie aus der Hölle erinnert.

Babel hatte gar nicht vorgehabt, so lange mit ihm in der Kneipe zu hocken, vor allem, da den ganzen Abend nur Country aus den Boxen schallte, aber irgendwie war einfach alles ein bisschen viel gewesen. Die toten Plags, Toms grüne Augen und Sams Brief, der wie ein Mühlstein um ihren Hals hing. Mittlerweile war der Umschlag ganz zerknittert und an einer Seite bereits eingerissen. Trotzdem schaffte sie es einfach nicht, ihn in Stücke zu reißen und im Klo runterzuspülen. Man sollte annehmen, dass eine Frau, die in der Lage war, die Ebenen zu beeinflussen, es auch schaffte, einen Brief zu entsorgen, aber offenbar war sie weniger rational veranlagt, als sie bisher geglaubt hatte.

Der Rest Selbsterhaltungstrieb, der noch zu ihr sprach, hatte sie wenigstens dazu gebracht, den Brief am Vorabend im Büro zu lassen und ihn nicht noch einmal mit nach Hause zu nehmen. Eine halbe Stunde hatte es gedauert, bis sich Xotl wieder beruhigte, nachdem er den Geruch nach Dämon wahrgenommen hatte. Miststück war noch das freundlichste Schimpfwort gewesen, mit dem er sie bedachte. Und während sich Karl gewundert hatte, warum der Papagei plötzlich ausfällig wurde, war Babel der Schweiß ausgebrochen. Mit zittrigen Fingern hatte sie hastig den Brief in einen Stapel Papiere geschoben.

Ihre Hoffnung, der Wein würde sie ein bisschen beruhigen, hatte sich jedoch nicht erfüllt. Lediglich einen Brummschädel hatte er ihr verpasst. Wie immer behielt Tamy also recht: Alkohol löste vielleicht ein Problem, brachte aber mit Sicherheit ein neues.

Auf wackligen Beinen ging Babel die Treppe hinunter in die Küche. Dort füllte sie die Kaffeemaschine, schluckte zwei Schmerztabletten und starrte apathisch auf den Küchentisch, bis sich unter ihrem Blick die Tischdecke wellte, weil Babel aus Versehen Magie wirkte. Zum Glück merkte sie es, bevor sie ein Loch in den Stoff brannte.

Himmel, jetzt reiß dich mal ein bisschen zusammen, sonst steckst du noch das Haus in Brand!

Nach dem Klicken der alten Kaffeemaschine nahm der Morgen endlich eine freundlichere Wendung. Mit einer vollen Tasse in der Hand stellte sich Babel an die Spüle und schaute hinaus in den Garten. Die Luft roch nach feuchter Erde und Flieder, der sich in Büschen gegen die Hauswand drückte. Der Himmel war schon wieder grau, aber an diesem Morgen war das angenehm für die Augen.

Babels Haus lag im ältesten Teil der Stadt, in der Nähe des Flusses, daher roch es im Halbdunkel des langen, schmalen Flurs, von dem die Türen zur Küche und zum Wohnzimmer abgingen, stets ein wenig nach feuchtem Holz und Lehm. Eine Treppe führte jeweils in den Keller und das Obergeschoss, und auf der Garderobe lag eine feine Staubschicht. Das Haus war alt. Der Garten war auf drei Seiten von einer Backsteinmauer umgeben, nur die Vorderseite zur Straße besaß einen mannshohen Eisenzaun. Seit Jahren erkämpfte sich das Unkraut Meter für Meter Raum und blühte dankbar in den wunderbarsten Blau- und Rottönen. Die Plags würden sich wohlfühlen, dachte sie. In der hinteren Ecke des Gartens hatte sie Kräuterbeete angelegt, die sie für Tränke brauchte, außerdem einen einzelnen Tomatenstrauch. Der stammte noch aus der Phase, in der sie geglaubt hatte, sie wäre eine gute Gärtnerin, nur weil sie jetzt ein Haus besaß. Was nicht der Fall war.

Lange wohnte sie noch nicht hier – erst vor einem Jahr hatte das Geschäft mit Karl ihr erlaubt, die Anzahlung auf das Haus zu leisten. Es lag verborgen in einer kleinen Seitenstraße und wurde von den meisten Menschen ignoriert. Es war nicht so, dass sie es übersahen, vielmehr dachten sie nicht darüber nach. Kaum waren sie daran vorübergegangen, vergaßen sie die Fenstergitter im Erdgeschoss und die große, grün gestrichene Eichentür mit dem geschnitzten Bärenrelief in der Mitte, in dessen Maul ein Türklopfer steckte. Das lag an dem Zauber, der das Haus schützte. Und gegen all jene, die den Zauber durchschauten und womöglich auf dumme Gedanken kamen, hatte Babel eine Alarmanlage einbauen lassen. Immerhin hatte sie es im Laufe der letzten Jahre geschafft, den einen oder anderen gegen sich aufzubringen. Meistens die Leute, mit denen ihre Klienten im Clinch lagen.

Damals beim Kauf hatte ihr der Makler einreden wollen, das Haus hätte zur Zeit der Napoleonischen Kriege einem ranghohen Offizier als Quartier gedient. Dafür ließen sich jedoch keine Beweise finden. Stattdessen entdeckte sie beim Umbau des Kellers für ihre Zwecke einen toten Hund im Gemäuer. Offenbar war sie nicht die erste Hexe in diesen Mauern. Den Hund hatte sie während eines Rituals im Garten unter dem Apfelbaum begraben, das dieses Grundstück als ihr Territorium markierte. Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger benutzte Babel dazu jedoch ihr eigenes Blut, weil es wirksamer war und sie schon seit Jahren keine Tieropfer mehr durchführte.

Allerdings führte sie die Taube, die noch immer ohne Unterlass gurrte, an diesem Morgen in Versuchung, wieder damit anzufangen.

Um dem Krach zu entgehen, verließ Babel mit der zweiten Tasse Kaffee die Küche und stieg hinunter in den Keller, der durch ein zusätzliches Schloss gesichert war. Auf die massive Eichentür hatte sie mit Ölfarbe einen roten Smiley gemalt, von dem ein zitterndes Flimmern ausging. In das Bild war ein Zauber eingebunden, der jedem die Luft abschnüren würde, der sich unbefugt Zutritt zum Keller verschaffen wollte. Die Energie des Zaubers sandte ein Kribbeln durch ihre Arme, das sich anfühlte wie eingeschlafene Gliedmaßen.

Sie öffnete die Tür, und der Geruch nach feuchtem Putz schlug ihr entgegen, vermischt mit der Note einer Duftkerze vom letzten Ritual. Sie tastete nach dem Schalter und flutete den Keller mit grellem gelbem Licht.

Der Keller war in zwei Räume geteilt. Der erste sah ziemlich genau aus wie die Keller in anderen Haushalten auch. An den Wänden stapelten sich Kisten mit Dingen, die nach dem Umzug nie ausgeräumt worden waren. Erinnerungsstücke, alte Dokumente, verrostete Gartengeräte und auseinanderfallende Weihnachtsdekoration. Eben die Art von Kisten, bei deren Anblick man unwillkürlich ein schlechtes Gewissen verspürt, weil man sich schon längst um deren Entsorgung hatte kümmern wollen.

Mit großen Schritten durchquerte Babel den Raum. Leider erwischte sie das schlechte Gewissen trotzdem.

Der zweite Raum war mit einer weiteren Tür und einem weiteren Zauber gesichert. Dahinter lag ihr Magiezimmer.

Magiezimmer waren für Hexen Ritualplätze, es waren Arbeitsstätten, und keine Hexe mochte es, wenn sie darin jemand überraschte. Der Raum war eine intime Angelegenheit, in mancher Hinsicht sogar intimer als Sex, denn er war aufgeladen mit Babels magischen Energien.

An der gegenüberliegenden Wand standen drei Stahlschränke, die bis unter die Decke reichten und mit Hilfsmitteln für Zauber und Rituale gefüllt waren. Kräuter, verschiedene Tierschädel, Weine, Kreide und ein ganzer Sack voller Holzasche, die sie von einem Förster bekam. Der Fußboden des Magiezimmers bestand vollkommen aus Stahlemaille mit aufgetragener Grünfarbe. Im Grunde war es eine riesige Tafel, auf der Babel ihre Symbole aufzeichnete, wenn sie doch einmal mit Ritualen arbeitete. Daher gab es in einer Ecke auch einen Wasseranschluss, unter dem ein Eimer mit Scheuerlappen stand. Nur wenige Meter daneben hatte Babel zwei hüfthohe schwarze Statuen Ägyptischer Mau aufgestellt, die sie auf einem Flohmarkt erstanden hatte und die als Energieleiter dienten. Sie waren mit Babels Energie aufgeladen, und ihre schwarzen Katzenaugen blickten als stumme Wächter starr auf das Geschehen.

An der vierten Wand hing ein riesiger Stadtplan, der fast die gesamte Fläche einnahm. Mit rotem Filzstift waren die Wohnorte der anderen Hexen eingezeichnet. Wo andere Karten Sehenswürdigkeiten auflisteten, hatte Babel Notizen zum magischen Netz der Stadt hingekritzelt.

Ehemaliger Henkersplatz, viel Totenenergie.

Viertel mit hoher Mordrate, Geisteranteil hoch.

Vor dem Rathaus starke magische Impulse, möglicherweise früherer Ritualplatz.

Messegelände – fast magiefrei, Störung im magischen Feld.

»Ernies Imbiss« – beste Pommes der Stadt.

Eine mit schwarzem Marker gezogene Grenze umriss das Viertel, in dem Sam wohnte. Nachdem er in die Stadt gezogen war, hatte sie es nie wieder betreten.

Babel öffnete den linken Schrank und blickte auf die unzähligen Schachteln, die die Regale füllten. Hexen waren bessere Tupperwareabnehmer als jede bayrische Hausfrau, und allein in diesem Schrank steckte ein kleines Vermögen in Plastik. Vom obersten Regal nahm sie das schwere, handbreite Silberarmband und legte es an. Außerdem stellte sie eine kleine Flasche mit dem Etikett lose Zunge auf den Fußboden, deren Inhalt nach Muskatnuss roch und genau das verursachte: eine lose Zunge. Dann füllte sie die Tüte Holzasche auf, die sie immer bei sich trug, wenn sie das Haus verließ.

Anschließend entrollte Babel den schmalen rechteckigen Teppich, der zusammengerollt auf dem Schrank gelegen hatte, in der Mitte des Raums und legte sich ausgestreckt darauf. Ein paarmal atmete sie tief ein und aus. Die Arme über den Kopf gestreckt, konnte sie unter ihren Händen den Boden fühlen und sich auf die Energien konzentrieren, die ihren Körper und den Raum durchströmten.

Sie schloss die Augen und dachte an das wichtigste Gesetz der Magie: Du musst es dir vorstellen können!

Hier, Babel, warum malst du nicht ein paar Bilder?

Ich will aber lieber draußen spielen, Mama.

Komm schon, sei ein braves Kind und setz dich an den Küchentisch!

Stundenlang hatte Maria mit ihren Töchtern Techniken trainiert, die die Vorstellung schulten, bis Babel eine Meisterin darin geworden war, sich tanzende Pinguine mit roten Partyhüten und Sonnenbrillen vorzustellen, die auf einem Seil zwischen zwei Palmen balancierten.

Eine Weile füllte sie eine ganze Menagerie in ihrem Kopf mit exotischen Hybridwesen, bevor sie dazu überging, sich das Flusssystem ihres Körpers vorzustellen. Sie verband die Bilder in ihrem Kopf mit dem Empfinden ihres Körpers. Die Energie besaß eine blassblaue Farbe, aber in ihrer Vorstellung war sie zähflüssiger und langsamer als Elektrizität. In den Nervenzentren spürte sie das Ansteigen der Magie, es kribbelte im Solarplexus, und die Kopfhaut juckte. Ihr rechtes Handgelenk wurde warm. Der Armreif lud sich mit ihrer Magie auf.

Yoga für die magisch Aktiven und körperlich Faulen.

Am Ende dieser Übungen pulsierte die Magie unter ihrer Haut wie ein Jagdhund, der darauf wartete, zum Einsatz zu kommen.

Noch ist es nicht so weit. Hab Geduld!

Sie stand auf und verließ den Keller. Nachdem sie ins Obergeschoss zurückgekehrt war, rief sie Karl im Büro an. Seine Stimme klang wie Sandpapier, und sie konnte förmlich hören, wie er mit den Zähnen knirschte, weil ihm der Schädel brummte.

»Erinnere mich daran, dass ich nicht wieder mit dir trinken gehe. Du bringst mich vorzeitig ins Grab, Mädel.«

»Darf ich dich daran erinnern, dass es deine Stammkneipe war und du dem Wirt, ich zitiere wörtlich, gesagt hast: ›Wenn du nicht willst, dass wir dich verfluchen, dann machst du die Gläser besser voll!‹?«

Er grummelte und schaltete die Anlage an, offenbar in dem Glauben, dass Dolly seinen Kopfschmerz mit ihrer Stimme vertreiben konnte. Gerade als Dolly erneut über eine verlorene Liebe klagte, krakelte Xotl plötzlich dazwischen: »Die Plaaage! Die Plaaage! … krik … krik … In den Tooopf!«

»Nicht schon wieder«, brummte Babel. »Ich frage mich, woher er das weiß.«

»Vielleicht meint er noch immer den Jungen von gestern.«

»Einsss, zwei, drei, vierrr … murrrksss … Kopp … hopp … in den Topp!«

»Das bezweifle ich.«

»Keiiin Verluuust, keiiin Verluuust … krik …«

»Halt den Mund, du Stinkstiefel!«, brüllte Karl dem Papagei entgegen, dass Babel noch am anderen Ende die Ohren klingelten. Dann räusperte er sich und stellte fachmännisch fest: »Ich glaube, dein Papagei mag die Plags nicht besonders.«

»Vermutlich hat er sie zum Fressen gern.«

»Kann er das?«

»Jemanden auffressen?«

»Mhm …«

»Ich glaube nicht. Ich meine, keine Ahnung, sind Papageien Allesfresser?«

»Willst du mir sagen, du hast dich nie danach erkundigt, was Papageien eigentlich fressen?«

Sie suchte nach einer Ausrede. »Na ja, weißt du, ich glaube nicht, dass es Bücher über Dämonenpapageien gibt … und er hat sich ja nie beschwert …«

»In den Tooopf … In den Tooopf … krik.«

»Also wirklich, es hätte mich gleich stutzig machen sollen, als du ihm deine Dönerreste hineingelegt hast. Wahrscheinlich trinken Papageien in Wirklichkeit auch kein Bier …«, fügte er nachdenklich hinzu. Durch den Hörer hörte sie, wie er sich am Bart kratzte.

»Du hast Xotl Bier gegeben? Wann?«

»Mhm, erinnerst du dich noch, als ich Geburtstag hatte und er den ganzen Tag Me and little Andy gesungen hat?«

»Ja. My name is Sandy, and this here is my puppy dog, his name is little Andy«, sang sie vor sich hin, bis sie es merkte und den Kopf schüttelte. »Herrje, jetzt kriege ich das nicht wieder aus dem Kopf!«

»Möglicherweise hatte ich da selbst schon was getrunken und hielt es für eine gute Idee …«

»Du hast es für eine gute Idee gehalten, den Papagei mit Bier abzufüllen? Den Papagei, der ohnehin schon von einem Dämon besessen ist?«

An dieser Stelle wechselte Karl vollkommen unelegant das Thema und fragte nach ihrem Plan. Allerdings war der noch nicht weiter gediehen als bis zu ihrem Gespräch mit dem Staatsanwalt und einer möglichen Tatortbesichtigung. Worauf er sich genötigt fühlte anzumerken: »Sehr professionell, meine Liebe, sehr professionell.«

»Entschuldige bitte, aber sonst heißt es immer: Geh, finde meinen untreuen Ehemann und verpass ihm Genitalherpes! Oder: Sorg dafür, dass dieser Gangster aufhört, vor meinem Haus Koks zu verkaufen. Für so was sind nie ausgefeilte Pläne notwendig. Man geht einfach hin, und bang! Fertig.«

»Und genau deshalb hättest du dich nie auf diese Sache einlassen sollen. Es gibt Gründe, warum man nicht einfach Kriminalhauptkommissar wird, nur weil man ein paar Fernsehserien gesehen hat.«

Babel streckte dem Telefonhörer die Zunge raus, während sich Karl einen Zigarillo anzündete, wie das Klicken des Feuerzeugs vermuten ließ. Während sie im Wohnzimmer auf und ab tigerte und versuchte, ihm ihre ungefähre Vorstellung davon zu vermitteln, was sie als Nächstes tun wollte, fiel ihr Blick auf das einzige gerahmte Foto, das sich im ganzen Haus fand. Abrupt blieb sie stehen.

Es war ein zerknittertes, unscharfes Bild, das allmählich gelb wurde. Ein verwackelter Schnappschuss von Hilmar, wie er in seinem Lieblingssessel saß und ein Buch las. An jenem Tag hatte er eine helle Hose und ein grünes Hemd getragen. Die Zigarette lag halb aufgeraucht in einem Aschenbecher neben ihm, und zu seinen Füßen stapelten sich Bücher über Architektur. Sie erinnerte sich, dass irgendeine dieser furchtbaren Opern im Hintergrund gelaufen war, die er so gemocht hatte. Er war groß und mager gewesen, das Haar an den Schläfen schon weiß. Alles in allem sah er aus wie ein Universitätsprofessor, der er doch so wenig gewesen war.

Manchmal vermisste sie ihn so sehr, dass es schien, als wäre er erst gestern gestorben und nicht schon vor zehn Jahren.

»… und mach keinen Unsinn, hörst du?«

Sie konzentrierte sich wieder auf das Gespräch.

»Wenn du schon auf Mördersuche gehen musst, dann pass wenigstens auf dich auf, ja? Ich habe keine Lust, deine Stelle neu zu besetzen.« Karl klang besorgt, und Babel musste lächeln.

»Ich glaube kaum, dass ich dem Mörder bei der Staatsanwaltschaft über den Weg laufe. Ich passe auf, keine Angst! Ich melde mich, wenn ich dort raus bin.«

»Plaaags in den Tooopf … Deckel drauuuf!«

Amüsiert beendete sie das Gespräch und ging in die Küche, um ein paar Sachen in eine Tasche zu packen, die sie später noch brauchen würde. Sie wollte gerade nach oben gehen, um sich anzuziehen, als das Telefon erneut klingelte. In der Annahme, es sei noch einmal Karl, nahm sie ab und bereute es im selben Augenblick.

»Guten Morgen, Babel! Wie geht es dir, Schatz?«

»Judith.«

Der Kopfschmerz kehrte augenblicklich mit voller Stärke zurück, ebenso wie das Zucken im linken Auge. Familiengespräche am frühen Morgen waren ein schlechter Start in den Tag.

»Du hast nicht zurückgerufen«, sagte ihre Schwester vorwurfsvoll.

»Du hast angerufen?«

»Ja, zu deinem Geburtstag, wie du sehr wohl weißt. Das tun Schwestern, habe ich mir sagen lassen.«

Sie wartete auf eine Erwiderung, aber Babel schwieg in der Hoffnung, so das Gespräch abzukürzen. Diskussionen mit Judith waren selten erquicklich. Während dieses stummen Kräftemessens stieg sie die Treppe nach oben und öffnete den Kleiderschrank. Darin gab es ein Fach, das mit Kleidung gefüllt war, die sie privat nie getragen hätte. Arbeitskleidung, um die es nicht schade war, wenn sie bei den Aufträgen litt. Wie damals bei diesem Drogenhändler, der nicht begriffen hatte, dass einer seiner Stammkunden jetzt clean war und nichts mehr kaufen wollte. Wer hatte schon ahnen können, dass er sich genau in dem Moment bewegte, in dem Babel mit einem Zauber auf ihn zielte und statt seiner Brust den Schädel erwischte? Der Kerl hatte geblutet wie ein Schwein und Babel ihre besten Schuhe ruiniert.

Nach einer Minute Schweigen sagte Judith beleidigt: »Wie du meinst. Ich wollte ja auch nur wissen, ob du Pfingsten nach Hause kommst.«

»Muss das sein?«

»Müssen muss gar nichts. Außer Sterben. Vielleicht. Ich werde dort jedenfalls nicht allein auftauchen. Mutter treibt mich mit ihren Fragen in den Wahnsinn. Wenn du da bist, verteilt sich der Wahnsinn auf zwei.«

»Ja, ich würde mich auch freuen, dich zu sehen.«

Judith schnaufte, aber dann vernahm Babel ihr leises Lachen, das so typisch für sie war und bei dem sich ihre rot geschminkten Lippen breit nach oben ziehen würden. Sie sah Judith vor sich, mit dem weißblonden Bob und dem schönen Gesicht, wie sie alle Blicke auf sich zog. Für Babel würde Judith immer das Mädchen bleiben, das sie alle beneideten, weil sie nie Zweifel zu kennen schien und so vollkommen von ihrer eigenen Großartigkeit überzeugt war, dass man es ihr nicht einmal übel nehmen konnte. Judith hatte nie mit ihrer Magie gehadert. Nie war es ihr schwergefallen, die Grenzen zwischen den Ebenen einzuhalten. Dafür war sie zu clever.

Judith besaß allerdings eine lästige Charakterschwäche, die den Umgang mit ihr erschwerte: Sie glaubte felsenfest daran, sich in Babels Leben einmischen zu müssen. Nicht etwa, weil sie sich so um sie sorgte, nein, sie tat es vor allem dann, wenn sie sich langweilte.

Von einer Ahnung getrieben trat Babel ans Fenster, zog die Gardine ein wenig zur Seite und sah in den Garten. In der Tat, auf dem Apfelbaum saß diese unselige, Krach machende Taube, die einen Ring am Fuß trug und sie blöde anglotzte. Sie hätte es sich gleich denken können. Kein Wunder, dass Judith genau gewusst hatte, wann sie Babel zu Hause erreichen konnte.

Im Gegensatz zu ihr hatte ihre Schwester nämlich ein Händchen für Tiere, viele ihrer Zauber nutzten Tiere. Tauben setzte sie besonders gern ein, um andere Menschen im Blick zu behalten, denn durch die Augen der Vögel sah sie, was die Tauben sahen. Diese Technik hatte Judith mit sechzehn entwickelt, um einem untreuen Freund hinterherzuspionieren, und seitdem perfektioniert.

Babel machte es sich auf dem Bett bequem. »Weißt du, Judith, du musst dir nicht die Mühe machen, eine deiner Tauben zu mir zu schicken. Außerdem sind sie laut und stören meinen Schlaf.«

»Wenn du nicht auf meine Anrufe reagierst, bleibt mir doch keine andere Wahl, als nachzuschauen, ob alles mit dir in Ordnung ist.«

»Du übertreibst.«

»Und du hattest Geburtstag.«

»Ich war bisher nicht der Annahme, dass das ein Grund wäre, betrübt zu sein.«

Judith antwortete nicht sofort, seufzte aber unüberhörbar dramatisch in den Hörer. »Post bekommen, Babel?«

Daher wehte also der Wind. Sie wusste, dass Sam ihr noch immer Briefe schrieb, und genau wie ihre Mutter befürchtete sie, dass Babel noch einmal so die Kontrolle über sich verlieren könnte wie vor über zehn Jahren, wenn sie ihm erneut nachgab.

»Ich habe ihn nicht geöffnet.«

»Gut.«

»Du musst mich nicht kontrollieren.«

»Ich weiß.«

»Okay.«

»Okay.«

Das Schweigen, das folgte, war aufgeladen mit Emotionen. Ihr Verhältnis war nie ganz frei von Spannungen gewesen, aber nachdem Babel mit achtzehn versucht hatte, während einer Dämonenbeschwörung Judiths Energien anzuzapfen, um zusätzliche Kraft zu gewinnen, war ihre Schwester das Misstrauen ihr gegenüber nie wieder ganz losgeworden. Selbst nach all diesen Jahren konnte Babel noch immer diese leise Angst in Judith spüren, obwohl sie ihr mehrfach versichert hatte, dass sie damals nicht Herrin ihrer Sinne gewesen war und sich so etwas nicht mehr wiederholen würde. Jedes Gespräch mit ihr kam irgendwann in seinem Verlauf einmal auf dieses Thema zu sprechen, direkt oder indirekt. Das war auch der Grund, warum Babel so selten mit ihr redete.

Nach ein paar Sekunden räusperte sich Judith und fragte, als wäre nichts gewesen: »Hast du denn in letzter Zeit einen Mann kennengelernt?«

Die Frage überraschte Babel allerdings nicht im Geringsten. Diesen Themenwechsel nahm Judith immer vor, wenn sie merkte, dass Babel nicht auf sie einging. Dann kam sie auf ihr zweitliebstes Thema neben der Magie zu sprechen: Männer. Sie liebte sie. In allen Formen: große, kleine, dicke, dünne, mit Grips und ohne, Hauptsache, sie waren bereit, Judith auf Händen zu tragen. Seit sie zwölf war, glaubte sie an die große Liebe – die sie seither alle paar Wochen traf.

Zumindest hatte ihre ausdauernde Suche sie nie pessimistisch werden lassen, auch wenn sich die meisten Männer als Vollidioten herausgestellt hatten. Manchmal kam Babel der Verdacht, dass Judiths große Liebe eigentlich darin bestand, dass sie alle Männer liebte. Jedenfalls war es Judith vollkommen schleierhaft, wie man sich nicht permanent verlieben konnte, schließlich liefen da draußen doch genug Männer herum. Die wiederholte Beteuerung ihrer Geschlechtsgenossinnen, dass sich ein Großteil davon nicht eignete, um sich zu verlieben, beantwortete sie regelmäßig mit einem irritierten Zwinkern.

Leider hatte ihre Liebe zur Männerwelt sie auch schon in die Arme von Halbkriminellen und Adrenalinjunkies geführt, was zu einem blauen Auge, zwei Knochenbrüchen und vier Anrufen bei der Polizei geführt hatte. Bei zwei dieser Auseinandersetzungen war sie später mit dem Polizeibeamten ausgegangen. Man konnte also durchaus von einer gewissen Unverbesserlichkeit ihrerseits ausgehen.

Aber wer war Babel, ihrer Schwester schlechten Männergeschmack vorzuwerfen? Wenigstens waren Judiths Liebhaber ausschließlich Menschen gewesen.

Sie dachte an Sam und bekam Bauchschmerzen, dann dachte sie an Tom und bekam glühende Wangen. Zum Glück gab es keinen Spiegel in der Nähe, der den Verdacht bestätigen könnte, dass sie wegen eines Plags rot geworden war.

»Dann wärst du sicher die Erste, der ich es erzählen würde«, beeilte sie sich zu sagen.

»Nein, wäre ich nicht, und deswegen muss ich zu solchen Maßnahmen greifen, sonst erfahre ich ja nichts. Aber bitte schön. Ich wollte ja auch nur wissen, ob du zu Pfingsten nach Hause kommst.«

Einen Moment lang erwog Babel abzusagen, aber dann würde ihre Mutter womöglich auch noch anrufen, und das war etwas, das sie zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht gebrauchen konnte – also sagte sie zu. Außerdem war ihr beim Anblick von Judiths Taube eine Idee gekommen, wie sie vielleicht herausfinden konnte, ob eine der anderen Hexen in letzter Zeit Kontakt mit Totenenergien gehabt hatte, ohne in deren Anwesenheit Magie anzuwenden.

»Sag mal, hast du noch immer deine Rabenkrähen?«

»Ja, warum?«

»Kannst du mir eine leihen?«

»Was willst du mit meinen Krähen?«

»Herausfinden, ob eine andere Hexe Kontakt mit Totenenergien hatte. Rabenkrähen sind Aasfresser, die eignen sich für solche Zauber.«

»Dafür gibt es einfachere Wege, als ein Tier abzurichten.«

»Nicht im Beisein einer Hexe. Wenn ich anfange, Holzasche zu verteilen, merken die das sofort.«

»Sag mal, woran arbeitest du da eigentlich genau?«

»Mord.«

»Du willst jemanden umbringen?«, kam es entsetzt durch den Hörer.

»Nein, ich will herausfinden, ob jemand einen Mord begangen hat.«

»Ich weiß nicht, ob mir das gefällt …«

Ging ihr genauso, aber wenn Judith gewusst hätte, worin ihre Bezahlung bestand, hätte sie sicher nicht gezögert, den Fall anzunehmen. »Es ist eine Gefälligkeit. Für einen Freund.«

»Einen guten?«

»Nicht so gut.«

»Mhm. Du hast also einen Freund, der in einen Mord verwickelt ist, den womöglich eine Hexe begangen hat, und jetzt überlegst du, wie du das herausfinden kannst, ohne dass diese andere Hexe glaubt, du willst ihr eins auswischen. Und du glaubst immer noch, dass ich mir keine Sorgen um dich machen muss, verstehe ich das richtig, ja?«

Es gab Fragen, auf die antwortete man besser nicht, wenn man das Loch, in das man freiwillig gestiegen war, nicht noch tiefer graben wollte.

»Aber du kannst nicht besonders gut mit Tieren umgehen, Babel.«

»Ich weiß.«

Eine Weile war es still am anderen Ende, dann seufzte Judith wieder theatralisch. »Na schön. Ich kann dir das Tier überlassen, aber den Zauber musst du selbst ausführen.«

»Danke!«

»Wann brauchst du sie?«

»So schnell wie möglich.«

»Dann muss ich sie mit dem Tiertransport schicken. Morgen früh dürfte sie bei dir sein. Aber sei ja vorsichtig mit ihr! Wenn sie nicht unbeschadet bei mir wieder ankommt, kannst du in Zukunft allein auf die Familienfeste gehen, klar?«

»Glasklar.«

Nach ein paar Anweisungen, wie Babel mit der Rabenkrähe umzugehen hatte (keine Dönerreste und auf keinen Fall Bier!) und für ihren plötzlich aufgetauchten guten Freund (»Zieh nicht die hellgrüne Bluse an, die macht dich so blass!«), beendete Judith das Gespräch.

Kaum hatte Babel aufgelegt, verschwand auch die Taube aus dem Garten. Das ließ sie für den Schlaf der kommenden Nacht hoffen.

Einen Moment lang starrte sie unschlüssig an die Zimmerdecke und dachte wieder an Hilmar. Er hätte gewusst, was in dieser Situation zu tun gewesen wäre. Sein Plan hätte nicht solche Lücken aufgewiesen und hauptsächlich darin bestanden, mal zu sehen. Aber er war immer der bessere Stratege gewesen. Sie hingegen war mehr der Probieren-wir’s-aus-Typ.

Wie konnte nur alles so aus dem Ruder laufen, Hilmar?

Weil du nur zugesehen hast, Babel.

Wahrscheinlich.

Nach Hilmars Tod war sie nie wieder auf die Totenebene gewechselt. Das war der Zeitpunkt gewesen, als sie das erste Mal zu den Montagstreffen gegangen war. Seither war die Totenebene für sie ebenso tabu wie die Dämonenebene. An manchen Tagen verspürte sie deswegen einen unbestimmten Schmerz, wenn sie daran dachte, dass sie nie wirklich Abschied von Hilmar genommen hatte. Sie hätte die Möglichkeit gehabt, mit seinem Geist zu reden. Sich bei ihm zu entschuldigen und ihn um Verzeihung zu bitten, aber sie hatte zu viel Angst gehabt. Vor dem, was passieren würde, wenn sie wieder auf eine andere Ebene wechselte. Sie traute sich selbst nicht.

Verstehst du das, Hilmar?

Bedrückt schloss sie die Augen. Die Vergangenheit lenkte sie zu sehr ab. Das konnte sie sich nicht leisten. Ein Staatsanwalt wartete auf sie, und irgendwie war sie auch ein kleines bisschen nervös, Tom wiederzusehen. Daran änderten auch die unangenehmen Umstände nichts. Möglicherweise hatte Judith sogar recht, und es wurde Zeit, dass sie sich wieder verliebte. So schwierig konnte das doch nicht sein.

Vor zwei Jahren hatte sie schon einmal geglaubt, sie sei neu verliebt gewesen. Sechs Monate war sie mit einem Ingenieur zusammen gewesen, bis er ihr mitgeteilt hatte, dass er für ein Jahr nach Russland gehen musste, um dort mit seiner Firma neue Fabriken zu bauen. Der Trennungsschmerz hatte genau vier Tage angehalten, dann hatte sie begriffen, dass sie mehr an der Zweisamkeit als an ihm gehangen hatte. Dieses Kribbeln, das sie bei Tom gespürt hatte, hatte sie bei dem Ingenieur nie gehabt.

Skeptisch sah sie auf die bereitgelegten Sachen, die neben ihr auf dem Bett lagen. Nicht gerade das, was sie normalerweise angezogen hätte, aber es würde wohl seinen Zweck erfüllen. Wie lange mochte es her sein, dass sie Strumpfhosen getragen hatte? Ein Jahr? Länger? Finster lag ihr Blick auf diesem Teufelswerk, das einem den Bauch einschnürte und die grässliche Angewohnheit hatte, während des Tages nach unten zu rutschen, bis es einem gefühlt in den Kniekehlen hing.

Folterinstrument.

Aber es musste sein. Jeans und Lederjacke passten nicht zu der Tarnung, die sie sich überlegt hatte.

Von wegen keinen Plan …

Seufzend stand Babel auf und ging ins Badezimmer. Was tat man nicht alles für seinen Job.