3

Tom und Sam gingen noch immer nicht an ihre Telefone.

»Verdammt!« Inzwischen ahnte Babel, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie ebenfalls ins Visier der anderen Hexen geraten würden.

»Es ist Clarissa«, sagte sie, als sie wieder draußen vor dem Krankenhaus standen und sich der Himmel bewölkte, als würde er sich ihrer düsteren Stimmung anpassen. Sie legte die Hand auf Tamys Arm. »Es tut mir leid. Wenn …«, aber Tamy unterbrach sie, schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme.

»Hör auf, Babel, ich weiß, was du sagen willst, aber ich bin kein Kind mehr. Spätestens, als du mir von euch erzählt hast, hätte ich den Kontakt abbrechen können, ich bin nicht dumm. Wer solche Kräfte hat, macht sich auch Feinde.«

»Trotzdem.« Sie konnte Tamy ansehen, dass sie geschockt war, obwohl sie sich sehr zusammenriss. Es ging nicht nur um eine Unterkunft oder um verloren gegangene Kleidung, die Wohnung steckte voller Erinnerungen, Fotos, Briefe – Andenken, die unwiederbringlich zerstört worden waren. Das steckte man nicht einfach weg.

»Die Sachen kriegst du von mir erstattet, Tamy. Ich geb dir nachher Geld, damit du dir erst mal was zum Anziehen kaufen kannst.«

»Wir sollten nachsehen, was noch zu retten ist«, mischte sich Judith ein und hakte sich bei Tamy unter. »Vielleicht ist nicht alles zerstört.«

»Viel wird es nicht mehr sein«, erwiderte die Türsteherin. »Die Freundin, die mich angerufen hat, wohnt schräg gegenüber von mir. Sie hat einen ziemlich guten Blick auf mein Haus. Die Polizei hat gesagt, dass vermutlich eine Gasflasche explodiert ist.«

»Du kochst doch gar nicht mit Gas.«

»Ich weiß.« Tamy atmete tief durch und fuhr sich mit der freien Hand durchs Haar. »Scheiße, Mann …« Für einen Moment sah sie verloren aus.

»Wo willst du jetzt hin?«, fragte Judith besorgt, und Babel dachte zum ersten Mal daran, dass auch Judiths Sachen bei Tamy gewesen waren – und ein Schlafplatz. »Wir können erst mal in ein Hotel gehen, ich habe ja noch meine Karte bei mir.« Sie schüttelte ihre Handtasche.

Es wunderte Babel, dass Judith Tamy auch in ein Hotel folgen wollte, anstatt bei ihr Unterschlupf zu finden, aber vielleicht wollte sie die andere Frau nach einem solchen Schock auch nicht allein lassen. Tamy war nicht ohne Grund bei AA, auch wenn sie schon seit Jahren trocken war.

»Ich werde erst mal zu mir fahren«, antwortete Tamy, »und dann sehen wir weiter. Die Polizei will sicher mit mir reden.«

»Ich komme mit dir.« Judiths Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass sie darüber nicht diskutieren würde. Das schien auch Tamy zu merken, denn sie nickte nur.

Über ihnen begann der Himmel zu grollen, und die Bäume, die den Parkplatz säumten, bogen sich gefährlich weit zur Seite. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Regen sie alle durchweichen würde.

»Bist du sicher, dass du das schaffst?«, fragte Babel, und Judith begriff sofort, was sie meinte.

»Wir sind jetzt gewarnt, ich pass schon auf. So schnell überrumpelt mich niemand. Wenn wir bei Tamy fertig sind, kommen wir wieder zu dir. Clarissa will dich aus der Stadt haben. Sie denkt, wenn wir ausgeschaltet sind, wirst du den Schwanz einkneifen. Aber so einfach machen wir es ihr nicht.«

Babel nickte nachdenklich.

»Was bedeutet das?«, fragte Mo, der die letzten Minuten geschwiegen und mit der Fußspitze über den Boden gescharrt hatte. Er war immer noch bleich wie ein Laken.

Düster sah Babel ihn an. »Krieg.«

In der Ferne war der erste Blitz zu sehen, und Mo zog die Schultern hoch.

»Wir müssen uns überlegen, wie wir euch aus der Stadt kriegen«, sagte Babel. »Ich will, dass ihr euch eine Weile verzieht, solange das hier läuft.«

»Du wirst uns brauchen.« Tamys Gesicht hatte einen Ausdruck angenommen, den Babel an ihr noch nie gesehen hatte.

»Ich brauche euch lebend noch mehr. Ihr könntet zu Judith gehen. Du hast Platz genug für Tamy, Karl und Mo. Oder ihr geht mit Tom, er kennt genug Leute …«

»Du redest Unsinn!«, erwiderte Judith. »Wirst du Samuel auch bitten zu gehen?«

Überrascht schaute Babel auf. Diese Frage erwischte sie unvorbereitet. Ihr wurde bewusst, dass sie keine Sekunde lang daran gedacht hatte. Es war ihr einfach nicht in den Sinn gekommen. Er würde ohnehin nicht gehen, selbst wenn sie ihn darum bat.

Du willst ihn dabeihaben, wenn alles den Bach runtergeht, was?

»Dachte ich mir.« Judith warf Tamy einen Blick zu. »Wir bleiben, oder?«

Die Türsteherin nickte. »Du kannst uns brauchen, Babel. Du hast selbst gesagt, dass Clarissa versucht, uns zu vertreiben. Wenn wir jetzt verschwinden, hat sie dich genau da, wo sie dich haben will, und gegen ihre Familie hast du allein keine Chance.«

Babel wusste, dass die beiden recht hatten, aber es fiel ihr schwer, diese Hilfe anzunehmen. Sie war es nicht gewohnt, dass andere Opfer für sie brachten, und sie war den Leuten nicht gern etwas schuldig.

Das sind nicht irgendwelche Leute. Das ist deine Familie. Und eines dieser Familienmitglieder liegt jetzt im Koma.

Babel warf einen Blick zurück zur Eingangstür des Krankenhauses. Und sie konnte wieder die Wut spüren, die sich in ihren Zellen festgesetzt hatte. Sie würde sich von Clarissa ihr Zuhause nicht kaputt machen lassen. Sie hätte gleich zurückschlagen sollen, als Clarissa die Toten auf Judith hatte ansetzen lassen. Der Überfall auf Karl wäre dann vielleicht nicht passiert.

Ah, dieses vertraute Gefühl der Schuld.

Grimmig klappte Babel noch einmal ihr Handy auf, während die anderen sie neugierig beobachteten. Sie wählte Clarissas Nummer, und schon bei der vierten Zahl fegte ein schwacher Wind über den Fußboden und wirbelte den Kies auf, weil Babels Wut die Magie außer Kontrolle geraten ließ.

Clarissa ließ das Telefon dreimal klingeln, bevor sie abnahm. »Hast du mir etwas zu sagen?«, waren ihre ersten Worte, die weder freundlich noch aggressiv klangen. Nur gerade so, als würde sie über das Mittagessen reden. Sie versuchte nicht einmal mehr, ihre Taten zu leugnen.

Babel ballte die freie Hand, bis ihre Fingernägel tief ins Fleisch stachen. »Du konntest es einfach nicht lassen, was? Aber du hast Pech gehabt, Tamy war nicht in ihrer Wohnung.«

»Das weiß ich. Ob du es glaubst oder nicht, es liegt mir nicht daran, ein Blutbad anzurichten. Wenigstens nicht, bevor ich dich noch einmal gewarnt habe.«

»Das haben wir ja bei Karl gesehen.«

»Nun ja … Ich bin kein Unmensch, ich lasse dir Zeit, deine Sachen zu packen. Zwei Tage, das ist alles. Danach musst du die Stadt verlassen.«

»Ich weiß nicht, wieso du den Eindruck hattest, dass ich das tun würde, Clarissa, aber nur für den Fall, dass du es nicht verstanden hast: Ich werde nirgendwohin verschwinden. Ich habe dich gewarnt, und jetzt gehört dein Arsch mir.« Sie legte auf, bevor die andere Hexe noch irgendetwas erwidern konnte, und stützte die Hände in die Hüften. Nacheinander sah sie die anderen an. »Clarissa macht keinen Hehl daraus, dass sie nicht verhandeln will.«

»Wir können sie schaffen«, murmelte Judith, aber sie klang nachdenklich.

»Du darfst sie nicht unterschätzen. Sie sind immerhin zu viert; Anatol, Lorelei, Clarissa und vielleicht auch Nikolai, das sind vier Hexen,; wir sind nur zu zweit.«

»Vergiss nicht, du hast Sam. Das Dämonenkind kann wenigstens einmal in seinem Leben nützlich sein. Und dein Plag wird sicher auch seinen Beitrag leisten können. Und mit Tamy hast du noch ordentlich Muskeln auf deiner Seite.«

»Mag sein.« Skeptisch betrachtete sie Judith, deren Magie vor unterdrücktem Zorn flackerte und an Babels Energienetz kratzte. »Während ihr zu Tamy fahrt, gehen Mo und ich zu mir. Ich muss Sam und Tom informieren und einen Plan entwickeln.«

»Was, glaubst du, hat Clarissa vor?«, fragte Mo, der nervöse Blicke zu der Hecke warf, hinter der noch immer Xotls Käfig stand, und aus deren Richtung plötzlich eindeutige Rufe zu hören waren.

»Dreeeck … Unverschääämt! … Hexendreeeck …«

Sie drehten sich zu der Hecke um, die nur wenige Schritte von ihnen entfernt war.

»Wir sollten ihn holen«, murmelte Mo und machte sich daran, den Käfig über die Hecke zu hieven, was allerdings nur schwer gelang, weil der Papagei aufgeregt mit den Flügeln schlug und so den Käfig ins Wanken brachte.

»Alle tooot … Brrrei … Hexendreeeck …«

»Zur Abwechslung bin ich mir nicht mal sicher, ob er uns meint«, sagte Babel trocken, beugte sich vor und klopfte mit dem Mittelfinger gegen den Käfig, nachdem Mo ihn vor ihnen abgestellt hatte. Darauf schnappte Xotl mit seinem Schnabel nach ihr. »He, du Aasgeier! Diese Hand füttert dich, da solltest du dir überlegen, ob du sie beißen willst.«

Ein paar Sekunden lang starrten der Vogel und sie sich in die Augen, dann gab Xotl ein Geräusch von sich, das nach einem beleidigten Schmatzen klang. Er streckte den Kopf vor, was aufgrund seines nackten, federlosen Halses grotesk aussah.

»Nicht daaa … nicht daaa!«

Wie vor den Kopf gestoßen zuckte Babel zurück. Sie begriff, dass die Beulenpest ihr gerade einen Vorwurf machte.

Wegen Karl.

Xotl war nicht beleidigt, weil sie ihn hinter einer Hecke abgestellt hatte oder weil er nur sein übliches unangenehmes dämonisches Selbst war – er war sauer, weil sie nicht auf Karl aufgepasst hatte.

»Heeexe …«

Ja, das stimmt, du bist eine mächtige Hexe, aber das hast du nicht verhindert, nicht wahr? Weil du schwach warst.

Einen Kampf zu vermeiden ist nicht immer Schwäche.

Nein, aber manchmal dumm.

»Also, was machen wir jetzt?«, wiederholte Mo seine Frage, und Babel richtete sich zögernd auf.

»Clarissa legt es auf eine offene Konfrontation an. Aber sie wird nicht aus ihrem Bau rauskommen. Ihr Grundstück ist mit ihren Energien aufgeladen, seit Generationen in Hand der Familie … Das ist, als würden sie auf einer magischen Batterie leben.«

»Sie wird warten, dass wir zu ihr kommen«, ergänzte Judith den Gedanken.

»Ganz genau.«

»Was tun wir also?«

Babel lachte freudlos. »Wir tun ihr den Gefallen.«