19
Babel wusste nicht, wie lange sie dagestanden und ihn angesehen hatte. Jedenfalls begriff sie plötzlich mit absoluter Klarheit, dass sie sich niemals ganz von ihm entfernen konnte. Er war ein Teil von ihr, ganz gleich, ob er in einer anderen Stadt lebte, ob sie miteinander schliefen oder ob Babel in einen anderen Mann verliebt war. Sam würde immer eine Rolle in ihrem Leben spielen.
Weil sie aus demselben Holz geschnitzt waren.
Als sie mit den Fingerspitzen seine Schulter berührte, sah er auf. »Ich werde mir den Kerl vornehmen, Babel, das kannst du mir nicht ausreden. Damals ist er verschwunden, bevor ich ihn mir schnappen konnte, noch mal lass ich ihn nicht entwischen.«
Sie seufzte. »Verrat mir, was ich machen soll. Judith wird nicht zulassen, dass du ihren Freund umbringst, du kennst sie. Soll ich zusehen, wie sie sich zwischen euch schmeißt? Denn das ist genau das, was sie tun wird. Dass du es mit ihm aufnehmen kannst, trau ich dir zu, auch wenn er inzwischen seine Magie aktiviert haben dürfte. Aber zwei Hexen?« Sie schüttelte den Kopf.
Langsam stand er auf. Sein Blick huschte kurz zur Tür, und sie begriff, dass er abschätzte, ob er es an ihr vorbeischaffen würde, bevor sie ihn mit ihrer Magie aufhalten konnte.
»Diese Sache hat nichts mit euch zu tun«, erwiderte er.
»Wenn du Judith angreifst, um an ihn ranzukommen, werde ich ihr helfen, auch gegen dich. Das ist dir doch klar, oder?«
»Verdammt, Babel!«, rief er und packte sie am Arm. Sein Zorn erzeugte ein Stechen auf ihrer Haut, aber sie wich ihm nicht aus. »Du verstehst nicht, wie …«
Einem Impuls nachgebend schlang sie die Arme um ihn. Beinahe schmerzhaft erwiderte er die Umarmung. Aber sie beschwerte sich nicht.
»Um meinetwillen«, flüsterte sie ihm eindringlich ins Ohr. »Lass ihn.« Sie ahnte, was sie da von ihm forderte, aber sie kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, dass sie Auguste bis aufs Blut verteidigen würde.
Als Sam tief einatmete, ahnte sie, dass sie gewonnen hatte. Vorsichtig löste er sich von ihr und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. »Ich gebe ihm einen Aufschub, solange deine Schwester mit ihm zusammen ist. Aber sobald sie ihn in die Wüste schickt, gehört sein Arsch mir.«
»In Ordnung.« Fest küsste sie ihn auf der Mund, seine Hände griffen nach ihrem Haar. In diesem Kuss konnte sie seine Wut spüren, aber auch die Leidenschaft, die zwischen ihnen herrschte.
Als sie sich wieder voneinander lösten, murmelte er: »Deine Schwester hat einen wirklich schlimmen Geschmack, was Männer betrifft.«
»Einige Leute sagen das auch über mich.«
»Kein Wunder, wenn du dich mit Plags einlässt.« Er grinste schief.
In diesem Moment erklang von unten ein lautes: »Babel!« Es war Judith. »Ich hab ihn.«
Sie warf Sam einen dankbaren Blick zu, dann drehte sie sich um und verließ das Schlafzimmer. Er folgte ihr, blieb aber auf dem Flur neben dem Wohnzimmer stehen und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Er würde das Zimmer, in dem der Ombre war, nicht betreten. Ihre Fingerspitzen streiften seinen Arm, als sie an ihm vorüberging.
Irgendwann würden sie einander all die Geschichten erzählen, die sie in den Jahren fern voneinander erlebt hatten. Er würde ihr den Namen dieser anderen Liebe nennen und sie ihm beichten, dass sie ihn manchmal vermisst hatte, und sie würden einen Weg finden, die Wut aufeinander zu begraben und sich die Verletzungen, die sie durch den anderen erlitten hatten, verzeihen.
Aber wieder einmal mussten all diese Dinge warten. Mitten in einem Sturm lässt es sich schwer reden.
Babel betrat das Wohnzimmer und stellte fest, dass Judith noch immer auf dem Sofa saß, die Augen geschlossen, die Stirn vor Konzentration gefurcht. Offenbar hatte sie noch nicht gemerkt, was sich abspielte. Tom hingegen stand mit verschränkten Armen und eiserner Miene am Fenster.
Dieser Mann hat das Herz eines Riesen, dachte sie, als sie ihn dort stehen sah. Es ist ein Wunder, dass er noch nicht abgehauen ist.
Ja, man fragt sich, was er nur an dir findet, nicht wahr?
Auf einem Stuhl saß Auguste, ein Küchentuch unter die Nase gedrückt. Seine Schutzwälle waren aktiviert, allerdings nicht voll hochgefahren. Seine rechte Hand war in der Hosentasche zur Faust geballt, und Babel vermutete, dass er darin ein Messer versteckt hatte.
Du wächst nicht in einem Pariser Vorort auf, ohne ein, zwei Tricks zu lernen.
Die Sekunden verstrichen, begleitet von Babels Herzschlägen, und spannungsgeladene Stille erfüllte den Raum, bis Judith die Augen öffnete und sagte: »Er ist …« Weiter kam sie nicht, denn ihr Blick fiel auf Auguste. »Was zum Henker …« Sie stand auf, trat auf ihn zu und nahm seine Hand nach unten. »Was ist denn hier los?«
Wütend sah sie erst Tom, dann Babel an. Als die beiden schwiegen, richtete sich ihr Blick auf die Zimmertür. »Sam«, stellte sie fest, und schlagartig schalteten sich ihre Schutzwälle an. Das führte allerdings auch bei Babel zu einem Aufwallen der Magie. Drohend ging Judith einen Schritt auf Babel zu.
»Das würde ich lassen, wenn ich du wäre«, knurrte Babel. »Dein Freund hat Glück, dass ich Sam nicht freie Bahn lasse, nach dem, was er mir erzählt hat. Ich würde also vorschlagen, ihr haltet alle miteinander die Füße still, und wir lösen erst mal die anderen Probleme.«
Auguste fasste nach Judiths Hand und schüttelte den Kopf. Babel konnte sehen, wie ihre Schwester die Zähne aufeinanderbiss.
»Ist schon in Ordnung, Chérie. Es gibt Dinge, auf die ich nicht besonders stolz bin … Es war wohl angebracht …«
Aus dem Flur war ein Krachen zu hören.
Vermutlich hatte Sam mit der flachen Hand gegen die Küchentür geschlagen.
Unsicher musterte Judith ihren Freund, nahm aber die Schilde ein Stück herunter, sodass auch Babel die Magie abschwächte. Ihre Haare waren elektrisch geladen und hoben sich an den Spitzen sanft in die Luft.
»Später will ich eine Erklärung dafür«, sagte Judith bestimmt, bevor sie sich an Babel wandte. In ihrem Blick lag eine leise Anklage, aber Babel hob das Kinn und verschränkte die Arme. Zur Abwechslung lag die Schuld nicht auf ihrer oder Sams Seite. Wenn Judith unbedingt ein Verhältnis mit einem Ombre eingehen wollte, dann musste sie auch lernen, mit den Konsequenzen zu leben.
»Was hast du herausgefunden?«, fragte sie stattdessen, um die ganze Sache voranzutreiben.
»Mit Sicherheit kann ich natürlich nicht sagen, dass er es ist, aber auf einem alten Industriegelände im Südwesten zeigt sich eine Menge Totenenergie. Sie leuchtet wie ein Signalfeuer im Netz der Stadt.« Erneut schloss sie die Augen und hielt sich an Augustes Stuhllehne fest. »Soweit ich das erkennen kann, ist kein Friedhof in der Nähe. Vielleicht war das mal ein Chemiewerk, viele Schornsteine. Sieht verlassen aus. Backstein.«
»Das ist das alte VEB-Gelände hinter dem Steinbruch«, mischte sich Tom ein. »Die suchen seit Jahren einen Käufer dafür, aber die Mauern der Fabrik stehen unter Denkmalschutz, deshalb können sie sie nicht einfach abreißen.«
»Ich weiß, wo das ist«, nickte Babel. »Keine Fußgänger. Weitläufiges Gelände. Ein guter Platz, um sich für eine Weile zu verstecken.« Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Na schön, am besten …«
Mitten im Satz wurde sie von Toms Handy unterbrochen.
Er fischte es aus der Hose, warf einen Blick auf das Display und nahm ab. Nach nur wenigen Augenblicken sagte er: »Ich komme«, dann legte er wieder auf. Beunruhigt sah er Babel an. »Die Nachbarn haben ein paar Schläger mobil gemacht, die jetzt vor der Wagenburg stehen. Wolfgang hat gesagt, dass Mo ganz scharf drauf ist, ihnen eine Abreibung zu verpassen. Die Sache eskaliert. Wenn wir uns da reinziehen lassen, liefern wir den Nachbarn auch noch Gründe, bei der Stadt gegen uns vorzugehen.«
»Himmel, warum kommt denn immer alles zusammen? Können sich die Probleme nicht mal auf unterschiedliche Tage verteilen? Ich schwöre, wenn Daniel jetzt noch vor meiner Tür auftaucht, um zu fragen, wie weit ich mit dem Fall bin, wäre ich nicht überrascht.«
Tom kam zu Babel herüber und legte ihr die Hände auf die Hüfte. »Kann die Sache mit dem Nekromanten noch ein paar Stunden warten? Ich muss zu meinen Leuten.«
Sie atmete tief durch. »Geh ruhig, wir kriegen das hin.«
»Das beantwortet die Frage nicht.«
»Doch, tut es.«
Zweifelnd sah er sie an. Sie musste keine Gedankenleserin sein, um zu wissen, was ihm durch den Kopf ging. Er ließ sie nur ungern auf die Jagd nach dem Nekromanten und seinem Zombie allein gehen, wenn Sam kurz davorstand, sich mit dem Ombre und Judith anzulegen. Wahrscheinlich erwartete er, dass ein Blutbad ausbrechen würde, sobald er ihnen den Rücken zuwandte.
Und vermutlich hatte er damit recht.
In diesem ganzen Chaos war er der Fels in der Brandung. Aber so sehr sie sich auch wünschte, dass er an ihrer Seite bleiben würde, so sehr kannte sie seine tiefe Verbundenheit mit seinen Leuten – und auch sein Verantwortungsgefühl. Sie wollte ihn nicht in die Lage bringen, sich zwischen ihnen entscheiden zu müssen.
Daher legte sie ihm die Hand auf die Brust. »Ich verspreche, wenn das alles vorbei ist, fahren wir in Urlaub. Und sieh es doch mal so …« Lächelnd beugte sie sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: »Je schneller das alles geklärt ist, desto schneller kann Sam wieder in seine Wohnung ziehen.«
»Gutes Argument.« Er klopfte ihr kurz auf den Hintern, dann wandte er sich zum Gehen. »Sieh zu, dass du in einem Stück bleibst.«
»Werde mir Mühe geben.«
Er warf ihr einen letzten Blick zu, dann ging er nach draußen, und sie konnte hören, wie er zu Sam sagte: »Wenn ihr etwas passiert, mach ich dich dafür verantwortlich.«
Die Antwort verstand sie nicht, aber sie konnte sich den Inhalt vorstellen – und auch Sams Gesicht dazu.
Ein paarmal atmete sie tief durch, bevor sie sich an Auguste und Judith wandte. »Okay, ihr wartet am besten in eurem Hotel auf uns. Ich rufe an, wenn alles vorbei ist.«
»Sollen wir denn nicht mitkommen?« Irritiert sah Judith sie an.
»Das halte ich für keine gute Idee. Im Moment sollten Auguste und Sam ein paar Meter und Wände zwischen sich lassen, bis sich die Gemüter ein bisschen beruhigt haben.«
Zustimmend nickte Auguste, aber Judith wollte sich nicht so leicht abspeisen lassen.
»Was habt ihr denn alle?«, rief sie verärgert. »Das ist doch albern. Du kannst unsere Hilfe brauchen. Was immer Auguste getan hat, liegt schon viele Jahre zurück und …«
»Lass gut sein«, erwiderte Auguste. Er schien kein Interesse daran zu haben, dass Babel Judith die Kurzfassung der alten Geschichte mitteilte. Wahrscheinlich wollte er ihr die zensierte Variante vorsichtig unter vier Augen beibringen.
Ja, wenn er ihr die Hände auf die Schultern legen kann und seine Lippen ihren Hals berühren, damit sie gar nicht erst zuhört, was er ihr erzählt.
Diese Konzentrationsschwäche bei schönen Männern liegt wohl in der Familie, was?
»Ihr geht jetzt besser«, sagte Babel, aber Judith schüttelte ungehalten den Kopf.
»So funktioniert das nicht, Babel.«
»Doch, genau so. Vergiss nicht, dass das meine Stadt ist. Ich weiß es zu schätzen, dass du deine Hilfe anbietest, aber das hier ist nicht dein Territorium.«
Judiths Blick brannte sich in ihren, aber Babel hielt ihm stand. Die Deckenlampe begann zu wackeln, und im Regal kippte ein Buch zur Seite, als sich ihre Magie instinktiv gegen Judith stemmte, um sie zum Gehen zu bewegen.
Ein paar Sekunden blieb ihre Schwester noch stehen, wo sie war, dann verließ sie mit erhobenem Kinn das Zimmer. Auch sie hatte Sam eine Botschaft auf den Weg zu geben. »Halt dich von meinem Freund fern«, zischte sie, bevor Auguste sie davon abhalten konnte.
Babel wartete, bis sich die Haustür hinter ihnen geschlossen hatte, dann ging sie ebenfalls aus dem Zimmer. Sam saß auf dem unteren Ende der Treppe, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Einen Moment lang sahen sie sich nur an. Sie lehnte sich an das Treppengeländer und legte das Kinn auf die Hände, die den Handlauf umschlossen.
»Wie fühlst du dich?«, fragte sie.
»Gut genug, um mit dir zu kommen.«
»Sicher?«
Er nickte, und als sie ihn immer noch zweifelnd musterte, fügte er hinzu: »Das sind nur blaue Flecken, Babel. Daran stirbt man nicht.«
»Du weißt, dass ich es verstehen würde, wenn du nicht mitkommen willst, ich meine, wegen dem, was damals …« Sie atmete tief durch.
»Ich falle nicht Ohnmacht, wenn ich einen Zombie sehe.«
»Mein Gott, musst du immer alles so kompliziert machen? Du weißt doch, worauf ich hinauswill.«
Langsam erhob er sich und legte ihr die Hand an die Wange. »Ja, ich weiß, was du meinst, aber der Gedanke, dass da draußen eine Seele gezwungen ist, in einem toten Körper dahinzuvegetieren, treibt mich in den Wahnsinn. Niemand verdient so ein Schicksal.«
Sie seufzte. »Okay. Dann lass uns gehen und den Nekromanten zur Strecke bringen.«
Nachdem sie die Rüstung aus dem Keller und etwas Salz aus der Küche geholt hatte, das sie in einem kleinen Plastikbeutel in der Jacke verstaute, machten sie sich mit Sams Wagen auf den Weg.