17

Inzwischen hatte sich der Himmel zugezogen. Die Sonne verbarg sich hinter schnell ziehenden Wolken, und die Luft roch nach Regen. Als Babel die Maschine vor ihrem Haus parkte und Toms Wagen hinter ihr in die Parklücke fuhr, war sie bereit, den Tag als beendet zu betrachten. Die Fahrt auf den löchrigen Straßen war alles andere als schmerzstillend gewesen. Mit zusammengebissenen Zähnen stieg sie von ihrem Motorrad.

»Ein Bier, eine heiße Dusche und eine Massage. Und zwar in dieser Reihenfolge. Für heute habe ich wirklich genug.«

In dem Augenblick, in dem sie das Gartentor aufschloss, bemerkte sie jedoch die Gestalt, die auf dem unteren Ast ihres Apfelbaums saß und zu ihr herüberstarrte, als gäbe es den Zauber auf dem Haus gar nicht.

Bei seinem Anblick seufzte Babel. »Du hast mir gerade noch gefehlt.« Mürrisch winkte sie Peking herunter. »Das ist nicht mal eine Eiche, und wir sind hier auch nicht in Dresden.«

Tom, der neben sie getreten war, folgte ihrer Blickrichtung, während Peking mit einem breiten Grinsen behände wie ein Affe vom Baum kletterte und auf den Boden sprang. Er hatte zwar etwas Farbe gewonnen seit ihrer letzten Begegnung, doch in seinen Augen saß noch derselbe irrlichternde Blick wie zuvor. Das rote Haar bildete einen unangenehmen Kontrast zu seiner Haut.

Babel schob das Tor auf, und Tom versuchte, sich Peking zu nähern, aber der wich ihm aus und brachte Abstand zwischen sie.

»Was machst du hier?«, fragte Tom und verschränkte die Arme. »Du solltest doch bei den anderen sein.«

Peking antwortete nicht, sondern wackelte nur mit dem Kopf.

»Langsam kriege ich den Verdacht, er ist auf meinen Garten scharf, wenn er hier immer ungebeten reinschneit.« Babel schloss die Haustür auf, die sich zur Hälfte grün färbte, weil die Magie noch immer unbewusst von Babel ausging.

Irgendwann muss ich mich mal für eine Farbe entscheiden.

Erschöpft hing sie die Jacke an die Garderobe. Die Plags folgten ihr in die Küche, in der noch immer das Chili auf dem Tisch stand, allerdings erkaltet und zu einer braunen Masse erstarrt. Babel schüttete es zurück in den Topf und stellte ihn erneut auf den Herd. Dann nahm sie drei Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich an den Küchentisch.

Gierig griff Peking nach seiner Flasche und trank die Hälfte in einem Zug, als wäre er ein Ballermann-Besucher im Trinkwettbewerb. Fasziniert beobachtete Babel, wie sich sein Kehlkopf auf und ab bewegte.

»Übung macht den Meister, was?« Sie schob die zweite Flasche über die Platte zu Tom, der ihr gegenüber Platz genommen hatte, während Peking mit der Flasche in der Hand um sie herumlief und dabei ein Gespräch mit sich selbst führte. Sein Gemurmel war jedoch nicht zu verstehen.

Eine Weile saßen sie so da, ein jeder gefangen in seinen Gedanken, bis Tom auf einmal unvermittelt sagte: »Die anderen reisen morgen ab.«

Als sie ihn ansah, hob er die Hand.

»Lass uns nicht darüber reden. Ich wollte es dir nur sagen, damit du Bescheid weißt. Ich muss morgen früh noch mal hin, um mit den anderen zu reden, aber danach … Ich will nicht darüber nachdenken, dass das hier unser Zuhause ist. Was es uns kostet und was wir verloren haben. Nicht jetzt. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, ersticke ich an meiner Wut.« Seine Hand, die auf dem Tisch lag, ballte sich zur Faust. »Ich muss mich konzentrieren. Wenn wir das beenden wollen …«

Manchmal war es besser, nicht nachzudenken und einfach weiterzurennen. Sie verstand das.

Plötzlich knallte Peking seine Flasche auf den Tisch, erschrocken schauten sie zu ihm auf.

»Keine Zeit zum Schweigen … Still jetzt!« Auffordernd legte er den Zeigefinger an die Lippen und nickte, als hätte jemand eine Frage gestellt. »Peking hat’s euch gesagt. Zu viel reden … Schweigen, pst, pst …« In seinen Augen brannte ein Feuer, das sich ganz auf Babel konzentrierte.

»Ich verstehe kein Wort von diesem Gerede«, murmelte Tom frustriert. »Kannst du nicht einfach sagen, was du willst, Herrgott noch mal?«

Peking sah ihn nachsichtig an, und für einen kurzen Augenblick schien es Babel, als zeige sich in seinem Blick so etwas wie Mitgefühl, doch dann wandte er sich wieder an sie.

»Hexe … Peking hat ihn gesehen … alle haben gesehen. Das blaue Licht …« Er streckte die Hand nach ihr aus, ließ sie dann aber wieder sinken. Vielleicht, weil Babel noch immer vor Magie glühte.

Es fiel ihr schwer, sich zu bewegen. Die Anstrengungen des Tages zogen wie Bleigewichte an ihr. Ganz still saß sie da, während sie Peking nachdenklich betrachtete und wieder den beißenden Geruch nach Zitrone wahrnahm. Der Plag wusste etwas, das das Puzzle weiter zusammenfügen würde, da war sie sich sicher. Irgendwo in diesem wirren Gestammel steckte ein Hinweis, den sie nur übersetzen musste.

Er setzte sich im Schneidersitz vor sie auf den Boden und legte die Stirn an ihr Knie.

»Ich hab da so ein Gefühl, Tom … Er versucht, uns etwas zu sagen. Das hat er von Anfang an getan. Wir müssen nur herausfinden, was es ist.«

Einen Moment war es still, bevor sich Tom erhob und neben Peking auf den Boden setzte. Er legte dem anderen die Hand auf die Schulter, und sie konnte sich vorstellen, wie die Wärme seiner Hand durch den dünnen Stoff von Pekings T-Shirt und der Blick seiner grünen Augen ihm unter die Haut drangen.

»Ein Gesicht … schon einmal …«, flüsterte Peking. Er lehnte seine Stirn gegen Toms.

Eine Weile saßen sie so beieinander, und Babel beneidete sie fast um die Nähe, die sie teilten. Um die absolute Gewissheit, dass da jemand war, auf den man sich verlassen konnte, wenn die Welt um einen herum zusammenbrach.

Aber konnte Peking wirklich etwas wissen, oder war das Wunschdenken? Was versuchte er, ihnen zu sagen?

Schon einmal …

Bedeutete das, dass der Täter kein Fremder war? Das hatte auch der Staatsanwalt vermutet.

»Es muss jemand sein, den ihr kennt, Tom.«

Er hob das Gesicht.

»Irgendetwas übersehen wir …«

Sie waren so damit beschäftigt gewesen, den Hexen hinterherzujagen, dass sie alles andere außer Acht gelassen hatten. Aber vielleicht war das der falsche Ansatz.

»Bist du sicher, dass ihr in letzter Zeit nicht mit jemandem geredet habt, der sich plötzlich für euch interessiert hat? Wenn die Hexe Hilfe hat, dann hättet ihr sie nicht bemerkt. Denk noch mal nach, da muss irgendjemand gewesen sein.«

Aufgeregt griff Peking nach Toms Schultern. Sein Körper wirkte im Vergleich zu Tom ausgezehrt. Die hypnotische Kraft und Schönheit der Plags hatte sich bei ihm in ein Fieber verwandelt, das ihn von innen heraus verbrannte. »Reden! … reden …«, krächzte er.

Tom schüttelte den Kopf, und Peking klopfte ihm mit der Faust gegen die Brust. Er schrie: »Ein Bild hier, ein Bild da …«, und plötzlich zuckte Tom zusammen.

»Du meinst den Journalisten?«

Peking klatschte in die Hände. »Genug gesagt!«

Fragend sah Babel Tom an, der sich an etwas zu erinnern versuchte.

»Vor ein paar Monaten war ein Journalist bei uns … Er kam zwei Tage hintereinander, um einige von uns für eine Artikelreihe zu interviewen.«

»Und das fällt dir erst jetzt ein?«

»Das ist nichts Neues für uns, Babel, solche Anfragen kriegen wir öfter. Autoren, Journalisten, Studenten … Es gibt viele, die mal was über Wagenburgen schreiben wollen oder selbst überlegen, in eine zu ziehen. Der Kerl war nicht der Erste, der mit Fragen bei uns aufgetaucht ist. Außerdem war er magisch passiv und hatte absolut kein Problem mit uns. Keiner von uns hat sich an ihn erinnert, als wir die Liste aufgestellt haben.«

Sie konnte ihm ansehen, dass er um Fassung rang, weil er nicht daran gedacht hatte.

»Habt ihr kontrolliert, ob die Artikelreihe tatsächlich erschienen ist? Ob der Kerl, der euch interviewt hat, wirklich für eine Zeitung arbeitet?«

»Keine Ahnung, ich jedenfalls nicht. Ich selbst hab auch kaum mit ihm geredet.«

Er stand wieder auf, und Babel trat zu ihm. Als sie mit den Fingerspitzen seine Brust berührte, entspannte sich seine Haltung ein bisschen, aber sein Blick war nach wie vor finster.

»Ich lass Karl das überprüfen«, sagte sie und küsste ihn kurz auf den Mund. »Es ist nicht deine Schuld, vergiss das nicht. Vielleicht haben wir jetzt einen Ansatzpunkt. Vielleicht kriegen wir die Hexe über ihren Helfer.«

»Selbst wenn sich rausstellt, dass der Kerl tatsächlich etwas mit den Morden zu tun hat – wie kann er der Hexe geholfen haben, wenn er keine Magie wirken kann? Er wird den Reflexpunkt der Opfer kaum mit einem Stift markiert haben.«

»Nein, dazu hätte er ihn außerdem von außen als solchen erkennen müssen, und das ist nicht möglich.« Sie seufzte. »Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, was hier vorgeht. Die anderen Hexen waren nicht gerade eine Hilfe, und irgendwie ergibt das alles auch keinen richtigen Sinn. Du eignest dir doch nicht solche Energien an, wenn du dann nichts damit anfängst. Und da ist einfach nichts …« Sie hob die Hände. »Ich kann einfach nichts im magischen Netz spüren.«

Grübelnd standen sie beieinander, und ihre Unruhe erfüllte die Luft, aber auf einmal kam Urd bellend in die Küche gelaufen und ließ sich neben Peking nieder, der die Dogge zufrieden hinter den Ohren kraulte. Auf dem Herd begann das Chili zu kochen, und widerwillig schob es Babel auf eine andere Platte. Ihr war der Appetit vergangen. Trotzdem nahm sie drei Teller aus dem Schrank und stellte sie auf den Tisch. Es war merkwürdig, etwas so Alltägliches zu tun, während all diese Dinge ungeklärt waren.

Manche Dinge fragen nicht nach Katastrophen. Auch Mörder müssen essen. Genau wie du.

Aber schlafen sie auch?

Die Frage ist nicht, ob sie schlafen, sondern, wovon sie träumen.

Während des Essens murmelte Peking vor sich hin, aber die Sätze ergaben keinen Sinn mehr. Babel erkannte darin Zitate aus Romanen, Moby Dick und James Ellroy, und eine Anleitung zum Bauen eines Solardachs. Letzte Erinnerungen aus Pekings Leben, die noch nicht verblasst waren und den Mann aufblitzen ließen, der er einmal gewesen war. Sein stetiges Gemurmel bedrückte Babel ebenso wie der Gedanke, dass sie ihr Versprechen noch nicht erfüllt hatte.

Wolltest du nicht diesen Toten ihre Sühne verschaffen?

Das werde ich auch.

Das Lachen in ihrem Hinterkopf besaß einen bekannten Klang.

Nach dem Essen erzählte Babel Karl am Telefon von den neusten Entwicklungen und konnte ihn nur schwer davon abhalten, zu ihr zu fahren, um nach ihr zu sehen. Es war seltsam rührend, wie er sie herumkommandierte, und zur Abwechslung störte es sie auch nicht.

»Leg dich hin, du musst dich ausruhen. Ich mein’s ernst, Babel.«

»Ich merk’s. Du hast sogar die Anlage abgestellt.«

Sie bat ihn, nach dem Journalisten zu forschen, der die Plags aufgesucht hatte, nannte ihm Namen und Zeitung und versprach, dass sie beim geringsten Anzeichen von Übelkeit und Kopfschmerzen in die Notaufnahme fahren würde.

»Glaub mir, ich habe keine Gehirnerschütterung, Karl.«

»Und woher willst du das wissen?«

Weil sie wusste, wie sich das anfühlte. Aber das behielt sie für sich.

»Ruf mich an, sobald du die Information hast, okay?«

Nach dem Gespräch änderte sie den Plan und verschob die heiße Dusche nach hinten. Stattdessen stieg sie in den Keller hinab, in dem es Gott sei Dank nicht mehr nach Schlachthof roch, und nahm aus einer Tupperschüssel ganz hinten im Schrank eine Packung Zigaretten, die der Ingenieur bei seinem letzten Besuch vergessen hatte.

»Das habe ich mir heute verdient, oder?«, fragte sie die Katzenstatuen, die wie immer schwiegen und auf deren Köpfen sich inzwischen Staubschichten wie kleine Hüte gebildet hatten. »Wenn das hier vorbei ist, muss ich unbedingt den Keller aufräumen«, murmelte sie und schloss die Tür hinter sich. Der Keller konnte warten.

Am oberen Ende der Treppe lehnte Tom am Geländer und sah skeptisch zu ihr herab. »Ist das der Platz, an dem du die Schrumpfköpfe aufbewahrst?«

»Ja, wenn du brav bist, zeige ich sie dir irgendwann.«

»Danke, verzichte.«

Grinsend zuckte sie mit den Schultern und stieg nach oben. Inzwischen war es draußen bereits dunkel geworden.

»Ich geh im Garten eine rauchen, okay? Kommst du ein paar Minuten klar hier? Ich meine wegen Peking.«

»Ich werde ihn in ein Taxi bugsieren, damit er zur Wagenburg zurückkommt, und dann können wir uns überlegen, wie wir weiter vorgehen, in Ordnung?«

Er küsste sie noch einmal, bevor Babel die Terrassentür auf- und hinter sich wieder zuschob und die Ruhe des Gartens sie umfing. Ein paarmal atmete sie tief durch, bevor sie den Garten durchquerte. Die Magie in ihrem Innern hatte sich beruhigt, aber in ihrem Kopf wirbelten die Bilder noch immer durcheinander. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie den Einbrecher nicht aufgehalten hatte, als sie Gelegenheit dazu gehabt hatte, und kam sich vor wie eine Hürdenläuferin, die sich in dem Moment ein Bein bricht, in dem sie über einen Baumstamm springt und falsch aufkommt. Es war einfach zu dumm gewesen.

Im Dunkeln hockte sie sich mit dem Rücken an die Mauer. Von diesem Platz aus konnte sie beobachten, wie Tom telefonierte. Peking lag auf dem Sofa und Urd auf dem Teppich davor. Gelegentlich fuhr auf der Straße ein Auto vorbei, aber ansonsten war es still.

Doch dieses Mal übertrug sich die Ruhe nicht auf Babel. Im Gegenteil – es wirkte wie die Ruhe vor dem Sturm. Nervös beobachtete sie das Haus, als könne jeden Moment etwas über sie hereinbrechen. Auch das Nikotin verdrängte diese Unruhe nicht aus ihrem Blut.

Während Babel tiefe Züge machte, dachte sie an diese andere Hexe, die irgendwo in der Stadt unterwegs war und nur noch auf die eigene Gier hörte. Die auch vor Mord nicht zurückschreckte.

Was willst du wirklich? Wozu brauchst du all diese Totenenergie der Plags?

Der Garten gab keine Antworten, aber nach ein paar Minuten verspürte sie plötzlich dieses altbekannte Kribbeln im Magen und die Endorphine in ihrem Blut, die nicht vom Nikotin stammten. Sie weigerte sich, den Kopf zu drehen, um Sam anzusehen, der sich wie ein Schatten näherte. Stattdessen starrte sie weiter auf das beleuchtete Wohnzimmer und zog an der Zigarette.

Zwei Züge später ließ er sich lautlos neben ihr nieder und nahm ihr die Kippe aus den Fingern, um selbst einen Zug zu nehmen.

»Hast du wieder deine alte Abneigung gegen Türen entdeckt?«

Er lachte leise. »Willst du, dass ich deinem Plag über den Weg laufe?«

Sie verspannte sich. Keine zwanzig Meter von ihr entfernt wartete Tom auf sie, aber Sam hatte mit seinem Auftritt gewartet, bis die Plags auf den Flur getreten und aus Babels Sichtfeld verschwunden waren. Als könnte er es riechen.

»Geht’s dir gut?«, fragte er und klang ausnahmsweise mal nicht spöttisch.

Sie spürte seinen Ellbogen an ihrem und den Wunsch, sich gegen ihn sinken zu lassen. »Ich lebe noch.« Sie wandte ihm das Gesicht zu und betrachtete sein Profil, aber viel konnte sie wegen der Dunkelheit nicht erkennen. »Bist du deswegen hier?«

»Ich hatte so ein eigenartiges Gefühl …« Angespannt stieß er Rauch durch die Nase aus.

Eigentlich hätte sie wissen müssen, dass er an diesem Abend auftauchte, denn seltsamerweise besaß er einen sechsten Sinn dafür, wenn sie sich in Gefahr befand. Während die Verbindung zu ihm bei ihr lediglich reagierte, wenn er in ihre Nähe kam, ging es bei ihm noch um einiges tiefer. Sie hatte nie herausgefunden, woran genau das lag – es war eines dieser Mysterien, die die Magie manchmal mit sich brachte.

Es war so typisch für sie beide, wie sie aus dem Dunkel heraus beobachteten, und erinnerte Babel in erschreckender Weise an früher. Wenn sie bei Sam war, schien dieses Dunkel gleichzeitig wie ein schützender Mantel und wie ein Moor, in dem sie immer mehr versank.

Mit der freien Hand strich er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr, und über ihnen zog ein Schwarm Vögel vorüber, der sich schwarz gegen den Nachthimmel abhob. Ein paar Herzschläge lang gab sie sich dieser Nähe zu ihm hin, dann stand sie auf und lehnte sich gegen den Stamm des Apfelbaums, an die dem Haus abgewandte Seite. Von dort aus sah sie auf Sam herab. Ihr Misstrauen ihm gegenüber saß tief, und ihrer Beziehung mangelte es in vielerlei Hinsicht an Vertrauen, wenn auch nicht an Verständnis.

»Ich hasse es, wenn du mich ansiehst, als wäre ich das personifizierte Böse«, murmelte er.

»Der Gedanke ist ja nicht vollkommen abwegig, oder?« Bevor sie es verhindern konnte, war ihr der Satz entschlüpft, und am Anspannen seiner Schultern konnte sie erkennen, dass es ein Fehler gewesen war.

»Willst du jetzt darüber reden?«, fragte er zurück, sein Blick war herausfordernd.

Wollte sie darüber reden, dass er jemanden töten konnte? Über die ganze Geschichte mit Hilmar?

Nein, eigentlich nicht. Sie sprachen nie darüber, hatten es kein einziges Mal getan. Nur ab und zu entschlüpften ihr solche Sätze, weil diese dunkle Stunde zwischen ihnen stand und ein zusätzliches Band schuf, das sie aneinander fesselte.

Sie schüttelte den Kopf, und Sam drückte die Zigarette im feuchten Boden aus, bevor er aufstand. Vor ihr blieb er stehen und musterte sie intensiv.

Sie standen sich gegenüber, keine Handbreit entfernt, und Babels Atem beschleunigte sich. Sein Blick brannte sich in ihren, und auf einmal verschwand alles, was sich wie eine Klammer um ihren Brustkorb gelegt hatte: der Schreck, die Angst vor dem Kommenden, die Zweifel an ihren Fähigkeiten.

Du Dummkopf! Lernst du denn nichts?

Nur einen kurzen Moment …

»Komm zurück zu mir«, flüsterte er, während ihre Hand über seinem Herzen lag.

Aber ich war ja nie fort …

Ihre Magie dehnte sich aus, umfing sie beide und tauchte die Ecke des Gartens, in der sie standen, in undurchdringliche Dunkelheit, die selbst Geräusche verschluckte.

»Sag mir, dass du das nicht willst, Babel.«

»Ich will es nicht.«

Er drückte sich an sie. »Du lügst.«

»Warum fragst du dann erst?«

Selbst in der Dunkelheit leuchteten seine Augen, und auf einmal schien es nichts anderes mehr zu geben als den Blick darin.

Millimeter um Millimeter beugte er sich tiefer, und sie ließ es wie erstarrt geschehen. Als er sie endlich küsste, war es wie eine Heimkehr.

Nichts hat sich geändert. Er schmeckt noch wie früher, er küsst noch wie früher.

Sie ließ sich gern von ihm verschlingen, wie die Sonne vom Wolf, bevor sie wiedergeboren wurde. Auf der Zunge konnte sie die Süße der verbotenen Frucht schmecken. Das Dämonische. Die Stimme in ihrem Kopf verstummte, und alles fiel von ihr ab, bis sie nicht mehr unterscheiden konnte zwischen ihm und ihr. Es spielte auch keine Rolle mehr.

Wie von selbst griff sie nach ihm, presste ihn enger an sich, um mit ihren Körpern das zu schaffen, was ihre Energien längst getan hatten. Die Magie schlug Funken, die Luft um sie herum erwärmte sich.

Ungeduldig öffnete er ihre Hose und fuhr mit der Hand hinein. Er fand sie feucht, und als er das Zittern ihrer Oberschenkel spürte, drehte er sie um und zog ihr die Hose in die Knie. Sie hörte das Geräusch seines Reißverschlusses, und keine drei Herzschläge später schob er sich von hinten in sie.

»Verdammt …«, presste er hervor.

Regungslos verharrten sie. Babel hatte die Augen geschlossen. Das Gefühl, von ihm ausgefüllt zu werden, verdrängte alle Gedanken. Ihr ganzes Sein konzentrierte sich auf die Stelle, an der sie verbunden waren. Seine Finger gruben sich in ihre Hüfte, fast schmerzhaft, aber das war ihr gleich.

Der Hunger, der so lange in ihr eingesperrt gewesen war, drang nach oben. Drängte sie dazu, die Muskeln anzuspannen und Sams Schwanz einzukerkern.

»Babel …«, flüsterte er heiser und begann endlich, sich zu bewegen. Zuerst langsam und fest, dann immer schneller. Dabei glitt er jedes Mal fast ganz hinaus, nur um wieder tief zuzustoßen. Sie konnte ihn spüren, wie er sie mit jedem Stoß dehnte, an ihren Wänden rieb und diese köstliche Spannung erhöhte, von der Menschen nie genug bekommen können.

Eine Hand verließ ihre Hüfte und suchte sich ihren Weg nach vorn. Sie ließ den Kopf zwischen den Armen hängen, konzentrierte sich nur noch auf seine Stöße.

»Fester.«

»Ja … sag mir … was du willst …«

Dich. In mir.

Es gab nichts mehr außer ihm und dem Gefühl der Rinde unter ihren Fingern. Es war, als würde sie leichter und leichter werden, fast schwebend.

»Fester … fester«, stöhnte sie, und seine Stöße wurden unkontrolliert. Hörten auf, Rücksicht zu nehmen. Da war nur noch dieser Instinkt, fast tierisch, der sie beide antrieb, und dieses Feuer in ihrem ganzen Körper. Er senkte seine Zähne in ihren Nacken, und das Gefühl implodierte. Sie fiel in ihren Körper zurück, erschöpft und lebendig. Und alles außer diesem einen Gefühl schrumpfte zur Bedeutungslosigkeit.

Schwer atmend lehnte sie sich an den Baum, und er folgte ihrer Bewegung, weil er noch immer in ihr steckte. Mit seinem Körper bedeckte er ihren, sie konnte seinen rasenden Herzschlag spüren. Sie konnte die Wellen fühlen, wie sie sich von ihrem Unterleib ausbreiteten und endlich auch ihre Hände erreichten. Alles kribbelte wie hunderte Fingerspitzen auf ihrer Haut. Als sie nach unten schaute, sah sie, wie sich die Rinde auf ihrer Seite vom Baum geschält hatte und der Efeu von der Mauer auf sie zugekrochen kam.

Ihr werdet den Garten noch in einen Wunderwald verwandeln.

Der Gedanke war wie ein Schlag ins Gesicht. Wie aus einem Traum wachte sie auf. Fast panisch löste sie sich von Sam, aber sobald er aus ihr geglitten war, fühlte sie, wie ihre Knie zitterten. Hastig zog sie die Hose hoch.

Ich hab den Verstand verloren.

»Nicht!« Er griff nach ihr, drehte sie zu sich um und drückte sie erneut gegen den Baum. »Tu das nicht. Du wirst jetzt nicht hier wegmarschieren und so tun, als wäre nichts gewesen.« Sein Gesicht verzog sich zornig.

»Sam …«

»Vergiss es. Dir läuft noch mein Samen zwischen den Beinen raus, und ich kann deine Erregung feucht auf mir spüren, da wirst du nicht den Mumm haben, mir zu sagen, das würde nichts verändern. Das verändert alles, meine Schöne.«

Schlagartig war es da, das schlechte Gewissen, als Stein im Magen. Er hatte recht. Das veränderte alles, aber genau das wollte sie ja nicht.

Du bist schon wieder dabei, alles kaputt zu machen.

»Tom …«

»Vergiss den Kerl! Himmel, Babel, wie deutlich muss das noch werden, damit du es endlich begreifst? Du hast gerade Sex gehabt, keine zwanzig Meter entfernt von ihm. Glaubst du wirklich, das macht man, wenn man verliebt ist?«

»Oh bitte …« Sie wollte sich von ihm entfernen, aber er hielt sie fest.

»Sei kein Dummkopf, Babel. Das mit ihm wird nie funktionieren. Dein Platz ist bei mir.«

Sie lachte bitter. »Du glaubst immer noch, dass ich wie das alte Paar Schuhe bin, was? Siehst du nicht, dass das Wahnsinn ist, was wir hier machen? Jedes Mal, wenn wir zusammenkommen, wird dabei jemand verletzt. Ich trau mir selbst nicht, wenn ich in deine Nähe komme, und wie man sieht, hab ich damit recht.« Sie riss sich von ihm los und stürmte davon.

Er versuchte nicht, sie aufzuhalten. Stattdessen zog er sich in das Dunkel an der Mauer zurück. Doch auch wenn sie ihn nicht mehr sah, spürte sie noch immer die Verbindung zu ihm. Entschlossen ging sie weiter.

Was hast du nur getan?

Als Tom sie aus dem Dunkel auftauchen sah, öffnete er die Terrassentür und lächelte. Bei seinem Anblick schämte sie sich wie noch nie in ihrem Leben.

»Was hast du denn so lange draußen gemacht?«

»Nachgedacht.«

»Und, zu einem Entschluss gekommen?«

»Ja.«

»Verrätst du ihn mir?«

Statt einer Antwort küsste sie ihn heftig und schlang die Arme um ihn. Überrascht drückte er sie an sich. Er fühlte sich gut an. Warm. Richtig.

Als er leise lachte, übertrug sich das Vibrieren seines Brustkorbs auf sie. »Na, mit der Entscheidung kann ich leben.«

Sie hob den Kopf und sah ihm lange in die Augen. »Ich will, dass das zwischen uns funktioniert.«

»Okay.«

»Okay.«

Noch einmal küsste sie ihn, dann zog sie ihn ins Wohnzimmer und schloss die Terrassentür. Sam hatte sich keinen Zentimeter bewegt.

Als Babel das Zimmer durchquerte, kam Urd zu ihr, schnüffelte an ihr herum und bellte.

»Wahrscheinlich riecht sie den Modergeruch vom Garten«, versuchte Babel zu scherzen und schob Urd energisch von sich. »Ich brauche eine Dusche.«

»Soll ich dich begleiten«, fragte Tom mit einem Grinsen.

»Wenn du magst.«

Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf, und mit jeder Stufe verschlimmerte sich ihr schlechtes Gewissen.

Was mache ich hier nur?

Dummheiten. Und du kannst niemanden dafür verantwortlich machen außer dir selbst.