22
Tamy öffnete die Tür. Sie sah blass aus, und ihr Haar war feucht, vermutlich hatte sie kurz zuvor geduscht. Sie trug eine alte Trainingshose mit ausgebeulten Knien und ein Tanktop, das früher vermutlich mal weiß gewesen war, inzwischen aber die Farbe eines grauen Herbsthimmels hatte.
»He«, sagte Babel, und Tamy trat zur Seite, damit sie eintreten konnte.
»He.«
Unschlüssig stand Babel im Flur, die Hände in den Jackentaschen. »Wie geht’s dir?«
»Ganz gut.« Sezierend lag ihr Blick auf Babel. »Dir dafür nicht.«
»Ich weiß.«
»Brauchst du irgendwas? Salben, Eis, ein bisschen Verstand?«
»Autsch, das war deutlich.«
Tamy verschränkte die Arme und nahm ihre Türsteherpose ein. Das war kein gutes Zeichen, wie Babel wusste. Unter dem strengen Blick schrumpfte sie noch ein bisschen mehr, als sie es in der letzten halbe Stunde ohnehin schon getan hatte.
»Am Anfang hab ich noch gedacht, dass du vielleicht einfach nur Pech hast«, sagte Tamy. »Aber inzwischen glaube ich fast, du suchst den Ärger. Schau dich doch mal im Spiegel an. Kaum sind deine Schwellungen abgeheilt, kriegst du schon die nächsten.«
»Das ist nicht meine Schuld«, begehrte Babel auf. »Einer muss ja dafür sorgen …«
Tamy winkte ungeduldig ab. »Und genau davon rede ich. Du bist nicht Superman. Und auch nicht Mutter Theresa. Du musst dich nicht um alles kümmern.« Sie atmete tief durch. »Aber wahrscheinlich kannst du gar nichts dafür. Eine gewisse Unvernunft liegt wohl in der Familie.«
»Hör mal, ich bin dir wirklich dankbar, dass du Judith …« Sie brach ab, weil es der Rede ähnelte, die sie vor ein paar Wochen schon einmal gehalten hatte. Babel schuldete Tamy eine Menge, das ließ sich nicht einfach so in Worte fassen.
»Schon gut. Aber mal ehrlich, Babel, tritt in nächster Zeit ein bisschen kürzer. Such ein paar untreue Ehemänner. Von mir aus auch Steuersünder fürs Finanzamt. Aber lass für eine Weile die Finger von tödlichen Hexenverschwörungen, das raubt mir den Spaß.«
Betreten senkte Babel den Blick. Vielleicht sollte sie die Sache mit Clarissa erst später zur Sprache bringen. Am besten am Telefon. Außerhalb von Tamys Reichweite.
»Ich hab mir das nicht ausgesucht«, erwiderte sie vorsichtig. »Man hört nicht plötzlich auf, eine Hexe zu sein. Es wird immer irgendwelche Gefahren geben, das ist wie bei der Feuerwehr.« Babel sah zu der Tür, hinter der sie Judith vermutete, weil sie von dort aus starke Impulse aus dem Energienetz empfing. »Wie geht es ihr?«
»Deine Schwester ist eine seltsame Frau …«
»Wem sagst du das.«
»Körperlich geht’s ihr gut, aber …« Tamy zuckte mit den Schultern. »Es hat sie ziemlich mitgenommen, Babel. Was immer da zwischen den beiden vorgefallen ist … so einen Verrat steckt niemand leicht weg.« Sie deutete mit dem Daumen auf die Tür, und Babel ging langsam darauf zu. Sie überlegte, was sie sagen sollte, aber es fiel ihr nichts Rechtes ein, außer: Schokolade hilft. Für Beziehungsfragen war sie nicht unbedingt die beste Wahl.
Als Babel die Tür öffnete, bekam sie einen kleinen Schlag, weil Magie die Luft erfüllte und in die Gegenstände eingedrungen war. Judith saß auf dem Bett und starrte die Wand an. Eine Welle magischer Energie erfasste Babel, die allerdings nur noch die Nachwehen darstellte. Der Zauber, den Judith gewirkt hatte, musste schon ein paar Minuten zurückliegen.
Es war ein starker Zauber gewesen.
»Was ist es?«, fragte Babel und näherte sich ihr vorsichtig. Sie konnte keine Ritualzutaten sehen, weder auf dem Bett noch auf dem Fußboden.
Langsam hob Judith den Kopf und sah sie ernst an. Ihre Augen waren rot und geschwollen, die Nase wund geputzt. In ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, den Babel bisher an ihr nicht gekannt hatte. Er ähnelte dem, den sie im Spiegel oft sah. Eine gewisse Distanziertheit. Misstrauen.
Das war neu bei Judith.
»Ein Fluch.« Es klang teilnahmslos.
»Wie hast du das gemacht, du hattest doch nichts bei dir.«
Judith legte den Kopf schief und sah sie auf diese merkwürdige, neue Weise an. »Weißt du eigentlich, wie oft ich dich um deine Fähigkeiten beneidet habe?«
»Judith …«
»Nein, ehrlich. Wir wussten immer alle, dass du die Stärkste von uns warst. Als Kind hab ich deswegen oft geheult, und Mutter musste mich trösten.«
Das hatte Babel nicht gewusst.
»Später hab ich mich dann gefragt, warum ausgerechnet diejenige die meiste Kraft gekriegt hat, die am wenigsten damit anfangen kann. Du hast Mutter nie richtig zugehört, wenn sie uns etwas erklärt hat, weil du immer alles intuitiv schaffen konntest.«
»Das stimmt doch nicht, Judith.«
»Doch, sonst wüsstest du, wozu ich in der Lage bin, auch mit wenig.« Sie hielt Babel ihre Hand entgegen, und auf der Handfläche waren winzige Symbole mit Judiths eigenem Blut gezeichnet. Es erinnerte Babel an Hennazeichnungen.
Judith ließ die Hand wieder sinken. Babel fragte nicht weiter. Sie wusste auch so, dass der Fluch Auguste galt. In einer Hinsicht hatte Judith unrecht, denn obwohl Babel keine Vorstellung davon hatte, wie sie den Fluch vollbracht hatte, so wusste sie doch, dass er dem Ombre nicht nur einen Schnupfen bescheren würde.
Auguste hatte einen großen Fehler begangen, als er annahm, Judith wäre schwach und nachsichtig. Es dauerte lange, bis ihre Schwester einem Mann etwas wirklich übel nahm, aber wenn er es einmal geschafft hatte, sie richtig zu verärgern, dann konnte sie wie eine Plage über ihn kommen.
Was immer sie ihm hinterhergeschickt hatte, es würde dafür sorgen, dass er seines Lebens nicht mehr froh wurde. Vielleicht bediente sie sich dabei ihrer Tiermagie: Krähen, die ihm die Augen aushackten, oder giftige Schlangen, die sich um seinen Hals wanden. Babel war jedenfalls froh, nicht in seiner Haut zu stecken.
Sie setzte sich neben Judith auf das ungemachte Bett, unter dem Tamys Hanteln hervorlugten, und nahm ihre Hand. Eiskalte Finger verschränkten sich mit ihren, und Babel übertrug ihre eigene Wärme auf sie, bis sie spürte, dass sich Judiths Haut erwärmte.
Ein kleines Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht ihrer Schwester. »Weißt du noch, wie du mir mal einen Schmetterling geschenkt hast?«
»Nein.«
»Aber ich. Da waren wir noch ganz klein. Ich hab fürchterlich geheult wegen irgendwas. Da hast du mir einen Schmetterling auf die Hand gesetzt.«
»Mhm. Keine Ahnung, wo ich jetzt einen Schmetterling herkriegen soll.«
Judith lachte. Es war ein dunkler Ton, aber es war ein Anfang. »Ich bin inzwischen ein bisschen größer geworden. Eine Flasche Wein tut’s auch.«
»Du willst dich betrinken?«
»Klar, hab ich mir doch verdient, meinst du nicht? Und du auch. Was soll man auch sonst machen, wenn man manipuliert, benutzt und abserviert wird? Da hilft nur eine ordentlich durchzechte Nacht!« Sie nickte bekräftigend.
Babel seufzte tonlos. »Er hat dich nicht mit Vorsatz verführt, wenigstens das muss ich ihm zugestehen. Er hat nur einfach nicht … widerstehen können.«
Ungehalten schnaufte Judith. »Nenn mich altmodisch, aber es gibt einen Unterschied dazwischen, einem Drang nachzugeben, weil sich die Gelegenheit bietet, und sich eine Gelegenheit zu schaffen. Wenn du deinen Partner in Tiefschlaf versetzt, um dann heimlich aus dem Hotelzimmer zu verschwinden, sagt das alles darüber aus, wie sehr du ihn liebst.« Sie schnaufte wieder. »Außerdem, was hätte er dann mit dem Zombie gemacht? Ihn im Koffer versteckt?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das Thema ist durch! Ich will keinen Mann, bei dem ich Angst haben muss, dass er mich im Schlaf erstickt, nur weil er mir dann endlich sagen kann, was ich tun soll. Dein Tom hätte so was sicher nie gemacht.«
»Tom sicher nicht«, sagte Babel und ließ den zweiten Teil des Satzes weg.
Neugierig sah Judith sie an. »Weißt du, Babel, ich hab mir überlegt, vielleicht machst du es auch ganz richtig. Ich meine, was ist besser als ein Mann …« Sie hob auffordernd die Hände.
»Zwei Männer?«, fragte Babel zweifelnd.
»Exakt!«
»Du hast bereits mit einem Mann an deiner Seite Schwierigkeiten, und jetzt kommst du auf die Idee, dass die Lösung darin liegt, es mit einer Dreiecksbeziehung zu versuchen? Glaub mir, das funktioniert nicht so einfach. Es ist jedenfalls nichts, was ich mir ausgesucht habe. Es ist einfach passiert.«
»Aber wenn es funktioniert, bedeutet es doppelt so viel Spaß. Vielleicht sollte ich das auch versuchen.«
»Ich erinnere mich daran, dass du das bereits getan hast«, erwiderte Babel trocken. »Das Wochenende auf Ibiza … Du hast mir Fotos gezeigt.«
Stirnrunzelnd sagte Judith: »Ach ja? Stimmt, du hast recht. Aber ich weiß nicht, ob man das zählen kann, immerhin waren die Jungs verwandt. Cousins oder so.«
Einen Moment lang wartete Babel noch auf die Erklärung, welchen Einfluss der Verwandtschaftsgrad auf die Anzahl der beteiligten Personen in einem Flotten Dreier hatte, aber Judith schien bereits das Interesse an ihrer neu aufgestellten These zu verlieren. Sie stand auf und besaß plötzlich wieder Ähnlichkeit mit der, die sie vor dieser ganzen Sache gewesen war.
Bis zu einem gewissen Grad war das allerdings immer auch beängstigend.
Plötzlich erschien Tamy im Türrahmen. Sie lehnte sich dagegen, musterte sie beide abwechselnd, und Judith warf ihr dieses strahlende Lächeln zu, das Babel von ihr gewohnt war; und auch wenn es die Augen noch nicht ganz erreichte, so war es doch ein Versprechen, dass Judith wieder ganz die Alte werden würde. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Eine Weile würde sie ihre Wunden lecken und dann wieder auf Eroberungstour gehen.
»Und du kommst mit uns«, sagte sie und deutete auf Tamy, die skeptisch die Augenbraue hochzog.
»Wohin?«
»Auf Kneipentour. Mit mir und Babel.«
»Hältst du das für eine gute Idee? Wenn ich mir deine Schwester so ansehe, gehört die ins Bett.«
Judith machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach was. Sie wird einfach ein bisschen Magie wirken, und schon ist sie wieder wie neu, du wirst sehen.«
Babel warf Tamy hinter Judiths Rücken einen Blick zu, der hoffentlich sagte: Lass dir einfallen, wie wir aus der Nummer wieder rauskommen.
Aber Tamy antwortete nur: »Na schön.«
Offenbar hatte Babels Blick etwas anderes transportiert, als sie gehofft hatte.
»Das wird großartig!«, rief Judith. »Ihr werdet sehen.«
Sie verschwand im Bad, während Tamy ihr einen Moment lang nachsah und dann Babel fragend anschaute, aber die zuckte nur mit den Schultern und stand auf.
»Wenn Judith ausgehen will, dann können wir sie offenbar nicht davon abhalten.«
»Ja, sieht ganz so aus.« Kopfschüttelnd trat Tamy an ihren Schrank, um eine Jeans und ein T-Shirt herauszunehmen. Interessiert stellte Babel fest, dass beides vermutlich zu den besseren Sachen gehörte, die Tamy besaß.
Als die Türsteherin ihren amüsierten Blick bemerkte, wurde sie tatsächlich verlegen. »Wenn ich es schon nicht verhindern kann, dann muss ich ja nicht wie ein Lump aussehen.«
»Mein Gott, entdecke ich da wirklich so etwas wie Eitelkeit an dir? Als Nächstes wirst du mir noch gestehen, dass da irgendwo in den Tiefen deines Kleiderschranks tatsächlich ein Kleid darauf wartet, hervorgezogen zu werden.«
Die Antwort bestand in einem Schnauben, das Babel zum Lachen brachte. Dieses Lachen hielt an, bis Judith zurückkam und Tamy kritisch dabei beobachtete, wie diese sich umzog.
»Du solltest dein Haar offen tragen«, gab sie zum Besten.
»Vergiss es.«
Judith runzelte die Stirn. »Aber du hast wirklich sehr schönes Haar.«
»Hör mal«, Tamy drehte sich zu ihr um und hob den Zeigefinger. »Nur weil ich gesagt habe, dass du heute hier pennen kannst, heißt das nicht, dass du dich auch in mein Leben einmischen sollst. Ich trage mein Haar so, wie ich es will, verstanden?«
»Bitte, wie du meinst. Kein Grund, gleich so hochzugehen.« Beleidigt wandte sich Judith ab, aber schon in der nächsten Sekunde kam sie auf Babel zu und legte ihr den Arm um die Schulter. »Da fällt mir ein, Mutter hat gestern angerufen. Sie will dich besuchen kommen. Ich habe gesagt, du hättest sicher nichts dagegen.«
»Was?«
Judith klopfte ihr auf die Schulter. »Ach, sie will sicher nur sehen, wie es uns geht. Du weißt doch, dass man vor ihr nichts geheim halten kann.«
»Was?«
»Nun schau doch nicht so, es sind doch nur ein paar Tage.«
Entsetzt ließ sich Babel zurück auf das Bett sinken. »Wie kannst du das sagen? Sie wird ja nicht bei dir wohnen!«
»Vielleicht bringt sie ja Vater mit.«
Babel legte den Kopf in die Hände. Ihre Mutter kam nie zu Besuch – nicht ein Mal in den vier Jahren, in denen sie nun schon in dieser Stadt lebte. Warum wollte sie unbedingt jetzt vorbeischneien? Ausgerechnet, während Tom und Sam bei ihr eingezogen waren.
»Na, so schlimm wird’s schon nicht werden«, warf Tamy ein, die gerade ein Baseballcap aufsetzte.
Woraufhin Judith und Babel sie anblickten, als hätte sie Chinesisch gesprochen.
»Du kennst unsere Mutter nicht«, sagte Judith trocken. Die Aussicht, dass sich Babel mit ihr rumschlagen musste, schien sie ebenso aufzuheitern wie die Vorfreude auf eine durchfeierte Nacht.
Sie stellte sich neben Tamy und hakte sich bei ihr unter. Diesmal galt ihr Lächeln Babel, die noch immer auf dem Bett saß und versuchte, das drohende Übel zu erfassen. Da hatte sie nun also einen Dämon besiegt, einen Nekromanten und seinen Zombie vernichtet – und nun das. Als hätte sie zu Hause nicht genug Probleme.
Wie sollte sie ihrer Mutter erklären, dass nicht nur ein Plag, sondern auch Sam bei ihr wohnte? Es gab Dinge, die erzählte man seinen Eltern einfach nicht. Als sie damals mit fünfzehn ihre Unschuld an den Eisverkäufer verloren hatte, hatte sie darüber auch Stillschweigen bewahrt. Zumindest, bis ihrer Mutter aufgefallen war, dass sie dauernd kostenloses Eis in großen Plastikdosen mit nach Hause brachte.
»Nun zieh doch nicht so ein Gesicht. Heute Abend lassen wir’s krachen.« Judith zog Tamy hinter sich her, und es blieb Babel nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Wenn sie Glück hatte, verlangte Judith wenigstens nicht von ihr, dass sie tanzte.
Und vielleicht konnte sie ja für einen Abend vergessen, dass Clarissa vermutlich gerade dabei war, einen Krieg anzuzetteln. Oder wie sie in Zukunft gedachte zu verhindern, dass sich Tom und Sam die Köpfe einschlugen – oder ob sie wirklich ein größeres Bett brauchte.
Babel hatte die Münze in die Luft geworfen, und es sah aus, als wäre sie endlich am Boden aufgetroffen. Nur zeigte sie überraschenderweise weder Kopf noch Zahl, sondern war einfach auf der Kante stehen geblieben.