DAMALS

Babels 20. Geburtstag

Nachdem sie sich endlich von Sam getrennt hatte, war sie bei Hilmar untergekommen. Er hatte sie gefunden, als sie nachts durch die Straßen geirrt war. Die Magie voll aufgedreht und wie ein Leuchtfeuer dabei, auf großer Flamme runterzubrennen.

An einer Haltestelle hatte er sie angesprochen. Ausgerechnet. Als sein Wagen neben dem Haltestellenhäuschen hielt, hatte sie drei seiner Reifen platzen lassen, bevor sie begriff, dass er sich nicht auf ein Duell mit ihr einlassen, sondern nur reden wollte.

»Ich kenne dich doch«, hatte er gesagt, und nach einer Weile war ihr auch eingefallen, dass sie ihm tatsächlich vor Jahren mit ihrer Mutter begegnet war. Damals hatte Maria ihn abfällig Bibliothekar genannt, aber Babel davor gewarnt, ihn zu unterschätzen. Er lebte am anderen Ende der Stadt, ein bisschen außerhalb, und kümmerte sich nicht um die anderen Hexen, wenn sie ihn ebenfalls in Ruhe ließen. Was Maria tat.

Babel hatte so sehr gezittert, während sie mit ihm sprach, dass die Scheiben des Haltestellenhäuschens trüb wurden und die Steinplatten unter Babels Füßen Risse bekamen. Hilmar hatte sie gemustert und irgendwann festgestellt: »Um dich herum sind Dämonen. Du ziehst sie auf der anderen Ebene an.« Es war eine Feststellung, die sie nicht überraschte. Das Flüstern in ihren Ohren war seit einigen Wochen ihr ständiger Begleiter.

Nachdem sie sich von Sam getrennt hatte und aus ihrer Unterkunft verschwunden war, ohne jemandem zu sagen, wohin, hatte sie überlegt, einfach nach Hause zu gehen. Aber sie ertrug den Blick nicht, mit dem ihre Mutter sie ansehen würde. Dieses vorwurfsvolle Starren, das sagte: Ich habe dich doch gewarnt! Deswegen irrte sie auch durch die Stadt, in der Hoffnung, dass das stetige Summen der Dämonen irgendwann leiser wurde.

»Brauchst du einen Schlafplatz? Ich kann die Dämonen auch bannen, wenn du das willst«, hatte Hilmar irgendwann gesagt, und erschöpft hatte sie nur genickt. In diesem Moment war es ihr gleich gewesen, welche Gefahren auf sie lauern konnten, wenn sie mit einer anderen Hexe mitging. All die Schauergeschichten ihrer Kindheit verblassten angesichts der Aussicht auf eine Dusche, ein Bett und die Ruhe in ihrem Kopf, wenn er tatsächlich die Dämonen fernhalten konnte. Also war sie mit ihm gegangen.

Und ein Jahr lang geblieben.

Obwohl er eine Hexe war wie sie, hatte er Babel an diesem Abend ein Zimmer in seinem Haus angeboten. Am Anfang hatte sie noch gedacht, dass er dafür eine Gegenleistung erwartete. Aber er war nie nachts in ihr Zimmer gekommen, und irgendwann hatte sie begriffen, dass es ihm um etwas ganz anderes ging. Hilmar hatte keine eigenen Kinder, und ihm lag daran, sein Wissen weiterzugeben. Er war tatsächlich der Bibliothekar, als den ihn ihre Mutter beschimpft hatte. Ein Sammler des alten Wissens, ein Bewahrer, und in Babel fand er eine gelehrige Schülerin.

Die ersten Wochen waren hart gewesen, doch mit seiner Hilfe war es ihr irgendwann besser gegangen, und das Summen der Dämonen war eines Tages verstummt. Er drängte sie dazu, ihre Kräfte zu trainieren, damit Babel sie in Schach halten konnte, aber das war ein mühsamer Prozess, und es gab mehr Tage, an denen sie versagte, als solche, an denen sie Fortschritte erzielte.

Seit ihrem Einzug bei Hilmar sprachen Judith und Maria nicht mehr mit ihr, aber das war nicht verwunderlich. Ihre Mutter war einfach zutiefst beleidigt, dass sich Babel mit ihren Problemen an eine Hexe außerhalb der Familie gewandt hatte. Das kam in ihren Augen einem Verrat gleich. Babel war es nur recht. Hilmar urteilte nicht über sie, seine Geduld schien keine Grenzen zu kennen, und endlich hatte Babel das Gefühl, jemanden gefunden zu haben, der ihr Antworten auf die zahlreichen Fragen geben konnte, die sie tief in sich spürte.

Alles in allem war es ein gutes Jahr gewesen.

»Woran denkst du?« Hilmar trat neben sie und reichte ihr eine Tasse Kaffee.

Sie sah zu ihm auf, lächelte und griff nach der Tasse. Den kurzen Schmerz, den das heiße Porzellan in ihre Finger schickte, ignorierte sie. Sie drehte die Tasse, bis sie nach dem Henkel greifen konnte.

»Hast du dir überlegt, was du heute machen willst?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Nichts Spektakuläres. Wie wäre es mit Kino?«

Sein tiefes Lachen erfüllte die Küche. »Ob wir beide uns auf einen Film einigen können, bezweifle ich.«

»Ja, ja, kommt jetzt wieder, dass du schon so alt bist und ich ein Jungspund?«

»Du bist ein Jungspund.«

Babel rollte mit den Augen. »Aber ja doch.« Sie warf einen Blick auf den Geburtstagskuchen, der bereits gegen Mitternacht ein Drittel seines Umfangs eingebüßt hatte und den nächsten Tag vermutlich nicht mehr erleben würde. Bei seinem Anblick musste sie auf einmal blinzeln, und etwas schnürte ihr die Kehle zu. Ein paarmal schluckte sie, bis sie sicher sein konnte, dass die Tränen dort blieben, wo sie waren. Eingeschlossen in ihrem Inneren.

Gerade als sie den nächsten Schluck Kaffee nehmen wollte, breitete sich in ihr diese altbekannte Wärme aus, die ihr Herz schneller schlagen ließ. Erschrocken wandte sie sich dem Fenster zu.

»Was ist?«, fragte Hilmar.

Sie wusste nicht, was sie ihm sagen sollte. Stattdessen starrte sie auf das Fenster, aber hinter der dichten Gardine war nichts zu sehen.

Hilmar runzelte die Stirn, trat ans Fenster und schob die Gardine zur Seite. »Das kann doch nicht wahr sein«, fluchte er und marschierte an ihr vorbei zur Eingangstür.

Babel musste nicht fragen, was er im Garten gesehen hatte.

Warum ausgerechnet heute?

Kurz darauf hörte sie Hilmars wütende Stimme: »Was willst du hier?«

Sams Antwort konnte sie nicht verstehen, aber seine Stimme besaß jenen Ton, der Langeweile ausdrückte. Wie immer war es Sam egal, wen er verärgerte, er kam einfach her. Auf das Territorium einer Hexe. Uneingeladen.

Babel konnte seine Nähe fast schmerzhaft in ihren Eingeweiden spüren. Nichts war ihr jemals so schwergefallen wie die Trennung von ihm, und noch immer bildete sie sich ein, seine Berührungen manchmal auf ihrer Haut spüren zu können. Oder sein Flüstern …

Sie werden sich deinem Willen beugen. Keine Hexe zuvor hat die Dämonen so beherrscht …

Mit zitternden Knien ging sie in den Flur. Sie wollte ihm sagen, dass er verschwinden sollte. Dass sie ihn nicht wiedersehen wollte. Dass sie es ernst gemeint hatte, als sie gesagt hatte, dass Schluss wäre. Die Sache zwischen ihnen erledigt.

Noch einen Schritt tat sie nach vorn, ihre Hand suchte Halt an der Wand. Vor dem Eingang stand Hilmar, den Arm drohend erhoben. Sam sah sie nicht, er musste direkt vor Hilmar stehen. Aber seine Anwesenheit setzte ihre Sinne in Brand, und sein Energienetz verband sich mit ihrem.

»Hab ich dir nicht schon das letzte Mal gesagt, du sollst dich von ihr fernhalten, Junge?«

»Was interessiert’s mich, was du sagst«, erwiderte Sam.

Babel konnte sich vorstellen, welchen Gesichtsausdruck er trug. Arrogant und furchtlos wie alte Veteranen, die längst die Angst vor dem Tod verloren hatten. Sam hatte immer versucht, so viel in sein Leben zu pressen, wie er konnte. Er hatte keine Furcht davor, dass es aus den Nähten platzte.

Mal ehrlich, willst du am Ende deines Lebens feststellen, dass du die Hälfte vergeudet hast?

Und genau das war das Problem, denn Sam hatte ja mit allem recht. Sie wollte dieses pralle Leben, das er versprach. Den Rausch, die Macht, das Fühlen. Sie hatte nur nicht erwartet, dass es so einen hohen Preis hatte. Am Ende hatte es sich herausgestellt, dass sie nicht bereit war, ihn zu zahlen.

Ich bin nicht du, hatte sie bei ihrem letzten Treffen gesagt, als er über Hilmars Mauer gesprungen war, um sie zu sehen, und Hilmar ihn nach fünf Minuten rausgeschmissen hatte.

»Babel braucht dich nicht, sie will dich nicht sehen, verstehst du das? Verschwinde, oder ich sorg dafür.« Hilmars Haltung versteifte sich, sein Ton wurde eisig.

Babel erkannte, dass er kurz davor war, Magie einzusetzen, um Sam loszuwerden. Beunruhigt trat sie in die Tür, und endlich fiel ihr Blick auch auf Sam, der Hilmar nicht beachtete und ganz auf sie konzentriert war. Sein Mund war zu diesem einladenden Grinsen verzogen, und sein Blick versprach alle möglichen Genüsse. Sofort schmeckte sie wieder die Süße, die so typisch für ihn war.

»Geh, Sam, bitte.« Sie lehnte den Kopf an den Türrahmen, während er einen Schritt auf sie zumachte. Aber Hilmar packte ihn am Arm.

»Jetzt hab ich langsam genug von deinen Spielchen, Junge. Du hörst sofort auf damit, hier rumzuschleichen. Keine unverhofften Besuche mehr. Du hörst auf, ihr nachzustellen. Du rufst sie nicht an, du triffst sie nicht. Du wirst einfach aus ihrem Leben verschwinden. Ist das klar?«

Einen Moment lang sah Sam Hilmar an, konzentrierte sich ganz auf ihn. Als er den Kopf abwandte, war klar, dass es ihn nicht interessierte, was Hilmar zu sagen hatte. Hilmar war für ihn nicht mehr als eine lästige Behinderung auf dem Weg zu seinem eigentlichen Ziel. Etwas, das man umgehen musste.

Wütend verstärkte Hilmar seinen Griff.

»Ich würde loslassen, wenn ich du wäre«, grollte Sam.

Und in diesem Augenblick setzte Hilmar seine Magie ein. Babel spürte die magische Explosion, das Brennen in ihren Synapsen, und kaum hatte sie begriffen, was vor sich ging, sackte Sam auch schon in sich zusammen. Den Oberkörper im Schmerz zusammengekrümmt, war er auf die Knie gestürzt und hielt sich den Kopf, und dieser reißende Schmerz übertrug sich als dumpfes Echo auf sie.

»Hilmar!« Sie wollte an ihm vorbeistürzen, aber er drehte sich zu ihr um und packte sie an den Schultern. Zog sie fort von Sam, der sich am Boden krümmte.

»Gib ihm nicht nach, Babel, sonst kommst du niemals davon los. Geh ins Haus zurück, ich kümmere mich darum.«

Geschockt starrte sie auf Sam, der sich wie ein wundes Tier unter Hilmars Magie ächzte und wand.

»Babel …«, kam es von Sam. Er streckte die Hand nach ihr aus, die Finger gekrümmt, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie konnte ihn doch hier nicht alleine lassen. Sie wollte nicht, dass er Schmerzen erlitt. Trotz allem war er schließlich …

»Geh ins Haus, Babel«, sagte Hilmar noch einmal nachdrücklich und schob sie in Richtung Tür.

Sams Lachen klang rau.

Hilmar ließ sie los und drehte sich zornig um. »Halt endlich den Mund!«

»Warum … Angst, sie könnte gehen? Dann wärst du wieder ein einsamer alter Mann, nicht wahr?«

Es war genau das Falsche. In seinem Zorn dehnte Hilmar die Magie noch weiter aus, und Sam begann zu schreien.

Wie erstarrt stand Babel da. Die Panik hatte sie fest im Würgegriff, sie wusste nicht, was sie tun sollte.

Hilmar hockte sich neben Sam und beugte sich zu ihm herab, aber sein bedrohliches Flüstern drang trotzdem an Babels Ohr. »Deine Zeit ist abgelaufen. Es ist genug. Du gibst jetzt auf, oder ich sorge dafür.« Er meinte jedes Wort ernst, und Babel erkannte, dass er in die Tat umsetzen würde, was zwischen den Zeilen stand.

Sam musste es auch gemerkt haben, denn auf einmal packte er Hilmar am Kragen und zog ihn zu Boden. Woher er die Kraft nahm, wusste Babel nicht, aber die Wut schien ihm Kräfte zu verleihen. Wie ein Berserker ging er auf Hilmar los und schlug auf ihn ein. Dabei blutete er selbst aus den Poren, denn Hilmars Magie umgab ihn wie eine zweite Haut und fügte ihm fürchterliche Schmerzen zu.

Das Knirschen von Knochen klang überlaut in Babels Ohren. Wie festgenagelt schaute sie auf die Szene, die sich vor ihr abspielte.

Tu etwas!, brüllte es in ihrem Kopf. Sie bringen sich um!

Aber sie konnte sich nicht bewegen.

Schwindel erfasste sie, ein blutroter Nebel, der ihre Magie lahmlegte. Da war nichts mehr in ihr, nur Angst und Entsetzen.

Sie sah, wie Sam den Arm hob, immer und immer wieder. Wie seine Faust herunterkrachte gegen Hilmars Wangen, seine Nase, die längst ein blutiger Klumpen war, und auch gegen seinen Kehlkopf, der unter der Wucht des Einschlags splitterte.

Zu spät, schoss es ihr durch den Kopf.

Als Sam endlich von Hilmar abließ, geschah das nur, weil er keine Kraft mehr hatte und die Reste von Hilmars Magie ihm eine Rippe brachen, die die Lunge durchdrang. Er brach auf dem anderen zusammen. Durch das viele Blut war kaum zu erkennen, wo der eine aufhörte und der andere anfing.

Eine plötzliche Welle erfasste Babel, ein Energieschub so gewaltig, dass es sie nach hinten schleuderte und sie gegen den Türrahmen prallte, an dem sie nach unten rutschte.

»Nein …«, schrie sie, aber es war bereits zu spät.

Sie spürte Hilmars Energien in sich, wie sich seine Totenenergie auf sie übertrug und ihr eigenes magisches Netz diese Energien gierig aufsaugte. Als spiele es gar keine Rolle, von wem sie stammten.

Babel übergab sich, als könne sie so die Energien wieder loswerden.

Sie wollte schreien, wollte ihre Wut gegen jemanden richten. Gegen Hilmar, weil er den Kampf begonnen hatte, als er Sam mit Magie angegriffen hatte. Gegen Sam, der nicht aufhören konnte. Und gegen sich selbst, weil sie nicht eingegriffen, sondern nur dagestanden hatte.

Für immer werde ich von diesem leisen Geräusch träumen, das Hilmar als Letztes von sich gegeben hat.

Sie hätte ihn retten können, aber sie hatte sich nicht gegen Sam stellen können.

Wie betäubt sah sie zu ihnen hinüber und wischte sich mit der Hand den Mund ab. Mit dem Rücken an der Hauswand gelehnt, saß sie da. Von Sam kam ein Röcheln, auf seinen Lippen bildeten sich blutige Blasen, aber Babel konnte sich nicht aufraffen, zu ihm zu gehen. Ihn zu berühren, ja, mit ihm zu sprechen.

Und auf einmal war es wieder da, das Summen auf der anderen Ebene, das wie ein Lachen klang. Die gehässigen Energiewolken, die sie umschwebten und darauf lauerten, dass sie einen entscheidenden Fehler machte, damit die Dämonen von ihr Besitz ergreifen konnten. Sie waren wie Zeugen.

Während in der Ferne ein Zug zu hören war, zog Babel die Knie an und umschlang sie mit den Armen. Auf einmal breitete sich in ihrem Innern eine nie gekannte Kälte aus. Überzog die Wut mit Eis, den Schmerz, die Angst, die Sehnsucht. All ihre Erinnerungen an das letzte Jahr. Und zum Schluss ihr Herz.

Babel erkannte die Kälte als das, was sie war.

Schuld.

Und das wirst du nie wieder los.