20
Es war eine der schlimmsten Prüfungen, die Babel je durchgemacht hatte. Das Warten kannte sie von anderen Aufträgen, das war nichts Neues. Ein Großteil ihrer Arbeit bestand darin, die Zielobjekte zu beobachten. Aber noch nie war es ihr so schwergefallen. Stundenlang saß sie mit Sam im Auto und wartete darauf, dass Neumann seinen Arbeitsplatz verließ und eventuell die Hexe aufsuchte, der er als Mörder zur Seite stand. Und mit jeder Stunde, die verging, fragte sich Babel mehr, ob es richtig war, was sie hier tat.
Während sie untätig blieb, ging Neumann seinen Geschäften nach, als wäre nichts geschehen. Er hatte zu Mittag gegessen, auf dem Rückweg zur Zeitung noch eine Packung Zigaretten gekauft und war mit seinen Kolleginnen zurückgeschlendert wie jeder andere auch.
Doch Babel wusste es besser.
Nachdem sie sein Energienetz gesehen hatte, kam es ihr vor, als würde dieser blasse Geist den wirklichen Mann überdecken. Der Anblick dieser Totenenergien hatte sich in ihr Gehirn gebrannt. Mehr als einmal war sie kurz davor, aus dem Wagen zu springen, um in das Gebäude zu rennen und sich ihn vorzunehmen.
Erstaunlicherweise war es Sam, der einen kühlen Kopf bewahrte und ihr ein paarmal beruhigend die Hand auf die Schulter legte. Es sah ganz danach aus, als hätte er in den letzten Jahren doch etwas dazugelernt.
Während sie gegenüber dem Gebäude warteten, tätigte Babel mehrere Anrufe. Zuerst rief sie Karl an, danach Tamy. Beide bat sie, sich bereitzuhalten, falls sie Hilfe benötigte. Karl war kaum davon abzuhalten, zur Zeitung zu fahren, bis sie ihm versicherte, dass sie nicht allein war und Unterstützung hatte. Tamy hingegen brummte nur »Okay« und legte auf.
Danach meldete sie sich bei Tom, der allein auf dem Platz der Wagenburg zurückgeblieben war. Die Plags waren aufgebrochen.
»Du musst sie anrufen, Tom. Sag ihnen, sie können vielleicht bald zurückkommen.«
»Was?«
»Wir haben ihn.«
Für einen Moment war er sprachlos, dann platzte er heraus: »Wo? Wer ist es?«
Sie zögerte. »Hör zu, ich werde mich um ihn kümmern …«
»Babel, sag mir, wer es ist!«
»Damit du herkommst und ihn kaltstellst?«
Sie hörte, wie er am anderen Ende tief durchatmete. »Ich werde nichts Dummes anstellen, okay? Wir schnappen ihn zusammen. Ist es dieser Journalist? Wir haben ein Recht darauf, es zu wissen!«
»Tut mir leid, Tom, ich kann’s dir jetzt nicht sagen, das ist zu deinem eigenen Besten, glaub mir.«
»Verdammt, Babel, das kannst du nicht …«
»Ich melde mich, wenn die Sache vorbei ist.« Sie unterbrach das Gespräch und schaltete das Handy ab, dann starrte sie unglücklich darauf.
»Das war nicht gerade die feine englische Art«, sagte Sam.
»Tom wird das verstehen.«
»Sicher?«
Sie schaute ihn nicht an. Er konnte zu gut in ihrem Gesicht lesen, ihre Unsicherheit und Halbwahrheiten darin erkennen. Sie wollte Tom nicht in Gefahr sehen, denn sie wusste, er würde sich auf den Mörder stürzen, sobald er wusste, wer es war. Aber sie wollte auch nicht, dass er ihr die Chance vermasselte, die andere Hexe ausfindig zu machen, die hinter ihrer aller Rücken operierte. In Babels Stadt.
Sie glaubte nicht, dass Tom das verstehen würde.
So hältst du also deine Versprechen?
Ich erweitere sie, das ist keine Schande.
Nein, nur selbstsüchtig.
Sie seufzte. Sie konnte nur darauf hoffen, dass sich Tom wieder beruhigen würde.
Es dauerte noch vier weitere Stunden, bis Neumann endlich erneut das Gebäude verließ und in sein Auto stieg. So vorsichtig wie möglich folgten sie ihm ins Stadtzentrum, wo er in einer Hauptstraße hielt, in der viele Ladengeschäfte platziert waren. Am späten Nachmittag wimmelte es auf den Gehwegen von Passanten. Sie erschwerten einen möglichen Zugriff auf Neumann.
Sie hatten Glück und fanden eine Parklücke, von der sie eine gute Aussicht auf den Mann hatten, als er ausstieg und zielsicher auf ein Haus zusteuerte. Er klingelte, aber es öffnete niemand. Sie konnten sehen, wie er ein Handy aus der Tasche holte und wütend hineinsprach. Dabei gestikulierte er wild. Zum ersten Mal verlor sich der durchschnittliche Ausdruck in seinem Gesicht, und hinter der Maske war für einen kurzen Moment etwas Dunkles zu sehen – eine verzehrende Wut. Unruhig ging er vor dem Haus auf und ab und bedachte dabei die vorübereilenden Leute mit finsteren Blicken.
Während sie ihn beobachteten, konzentrierte sich Babel auf ihre Magie und fuhr sie bis zum Anschlag auf, bis sich die Spitzen ihrer Haare wie elektrisch aufgeladen in die Luft erhoben. Minuten später tauchte endlich ein weiterer Wagen auf, der in die Einfahrt fuhr und dort stehen blieb. Vor Aufregung raste Babels Herz.
Als sie jedoch sah, wer dem Wagen entstieg, hielt sie die Luft an.
Den hochgewachsenen Körper, Haarfarbe und Gesichtsform, all das kannte sie, und sie wusste sofort, wen sie vor sich hatte.
Nikolai.
Clarissas Enkel, der sie um Hilfe gebeten hatte.
… eine tragische Geschichte …
Auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Friedrich Neumann war nicht, wer er vorgab zu sein. In Wirklichkeit hieß er Mikhail und war Nikolais magisch passiver Bruder, der nie die Wege der Hexen gehen würde, weil seine magischen Anlagen nicht funktionierten – und der irgendwann zum Mörder geworden war.
Der Junge hat dich reingelegt.
Sie sah Nikolais Gesicht vor sich, als er in dem Café vor ihr gesessen hatte und ihr dort die Eifrigkeit etwas zu lernen gestanden hatte. Diese Nachgiebigkeit in den Augen, die fast Mitleid in ihr ausgelöst hatte … Konnte sie sich wirklich so in ihm getäuscht haben? Hatte er sie etwa nur deshalb gebeten, ihm zu helfen, um in ihre Nähe zu kommen?
Stell dir vor, du wärst auf sein Anliegen eingegangen und hättest ihn in dein Haus gebracht.
Eine nervöse Unruhe umgab ihn. Mikhail redete auf ihn ein, aber Nikolai schüttelte wiederholt den Kopf. Seine Haltung war gebückt und eingeschüchtert, und es fiel Babel schwer, in ihm den großen Manipulator zu sehen, der er offenbar war.
»Ich kenne ihn. Er heißt Nikolai.«
Sam warf einen Blick in den Rückspiegel. »Hier sind zu viele Menschen. Du solltest ihn nicht auf offener Straße angreifen. Das erzeugt zu viel Aufmerksamkeit.«
»Ich muss mit ihm reden.« Bevor Sam sie davon abhalten konnte, stieg sie aus. Hinter sich hörte sie ihn fluchen und dann die zweite Autotür klappen. Nach nur wenigen Schritten reagierte ihr Netz auf Nikolai, und auch er zuckte zusammen.
»Was …« Zielsicher drehte er sich zu ihr um. Mikhail folgte seinem Blick.
Als Nikolai Sam erblickte, weiteten sich seine Augen überrascht. Sie konnte sein Netz deutlich spüren, ihre Energien glitten an den Passanten vorbei auf ihn zu. Babel drehte die Magie auf, bis sie auf Nikolai wie ein riesiges Warnschild wirken musste. Nikolai taumelte zurück, versuchte aber nicht zu fliehen. Ihre Energien gruben sich in sein Netz, hielten ihn fest, und sie spürte, wie sein schwacher Widerstand nachgab.
Ich hab dich.
Sie war nur noch wenige Armlängen von ihm entfernt, als sich Mikhail plötzlich umdrehte und die Straße hinunterrannte. Erschrocken sah Nikolai ihm nach, aber er rührte sich nicht von der Stelle, denn er wusste, wenn er sich auch nur einen Zentimeter bewegen würde, würde Babel sein magisches Netz zerfetzen.
»Soll ich ihm hinterher?«, fragte Sam, aber Babel schüttelte den Kopf.
»Zu viele Leute. Wir wissen, wer er ist, den Kerl kriegen wir. Ich muss zuerst mit Nikolai reden.« Bei ihm angekommen, packte sie ihn am Arm und drückte ihn an den Wagen. Es war ihr gleich, was die Leute dachten, die irritiert die Köpfe umwandten.
»So sieht man sich wieder, Kleiner. Willst du mir vielleicht was erzählen? Zum Beispiel, warum dein Bruder nach Totenenergie stinkt?«
Unter dem Angriff ihrer Magie bebte er. Sie drohte sein magisches Netz zu überlasten. Sein Gesicht war leichenblass, und er zitterte am ganzen Leib. Er schien nicht in der Lage, ihr zu antworten.
»Hast du hier eine Wohnung?«, fuhr Babel ihn an.
Er nickte schwach.
»Okay, dann reden wir dort weiter.«
»Babel«, warnte Sam, aber sie schüttelte den Kopf. Sie wollte sich Nikolais Wohnung ansehen, auch wenn es sein Territorium war. Sie zog ihn vorwärts, ließ aber seinen Arm nicht los. Auf wackligen Beinen führte er sie zu dem Hauseingang, an dem Mikhail geklingelt hatte.
Als er in seine Hosentasche greifen wollte, grollte Sam: »Vorsicht, Junge«, und es dauerte einen Moment, bis Nikolai einen Schlüssel herauszog, so sehr zitterten seine Hände. Offenbar hatte Nikolai vor Sam sogar noch mehr Angst als vor Babel.
Die Wohnung lag im zweiten Stock. An der Tür war kein Namensschild angebracht. Die Wohnung selbst war klein und kaum eingerichtet. Es gab lediglich ein altes Sofa und einen Tisch im Wohnzimmer, dazu haufenweise Kisten mit Büchern und Zutaten für Rituale. Auf dem Fußboden zeigten sich schwache Spuren von Ritualen, die mit Farbe ausgeführt worden waren. Soweit Babel es überschauen konnte, handelte es sich vor allem um Übertragungs- und Stärkungszauber. In der Luft hing der schwache Geruch nach Terpentin.
Das hier war nicht Nikolais Wohnung. Es war sein Unterschlupf. Der Treffpunkt, an dem er sich ungestört mit seinem Bruder treffen konnte, ohne dass seine Familie etwas davon merkte, denn offiziell wohnte er bei Clarissa, solange er in der Stadt war.
»Weiß deine Großmutter von alldem?« Babel erfasste mit einer Geste den Raum.
Zu dritt standen sie in dem kargen Wohnzimmer. Sam blockierte die Tür zum Flur, während Babel den magischen Spuren nachging. Noch immer zitternd schleppte sich Nikolai zum Sofa und ließ sich darauf fallen. Wie eine Marionette, der man die Schnüre durchgeschnitten hatte, sank er in sich zusammen.
Seine Stimme klang flach und leise, als er endlich antwortete. »Nein. Großmutter weiß nicht mal, dass Mikhail in der Stadt ist.«
Babel stellte sich ihm gegenüber an die Wand. In dieser Wohnung sollte sich das Rätsel also lösen. Sie dachte an Annabelles Wohnung und wie sehr man dort gespürt hatte, welcher Mensch in ihr gelebt hatte. Doch diese hier passte zu dem Geist, den sie in Mikhail gesehen hatte. Die Leere war nur das Spiegelbild dessen, was in seinem Inneren herrschte.
»Dein Bruder hat die Plags umgebracht«, sprach sie in die Stille, und es klang seltsam hohl in diesem leeren Raum.
Nikolai nickte. Jeglicher Widerstandsgeist war aus ihm gewichen.
»Warum?«
»Er wollte seine magischen Anlagen aktivieren.«
Entsetzt starrte sie ihn an. »Das ist nicht dein Ernst.«
Doch Nikolai nickte nur noch einmal und schloss die Augen. Sein Kopf fiel nach hinten auf die Lehne, er öffnete leicht den Mund. Die Erschöpfung hüllte ihn ein wie ein Mantel.
Babel wusste nicht, ob sie ihm glauben sollte, aber die fehlenden Puzzleteile rückten plötzlich an ihren Platz, und es entstand ein Bild, das so ungeheuerlich war, dass Babel fassungslos an der Wand nach unten rutschte.
»Du meinst wie eine Starthilfe?«, fragte Sam von der Tür aus. Er hatte die Arme verschränkt und ließ Nikolai nicht aus den Augen. »Ist das überhaupt möglich?«
Hilflos hob Nikolai den Kopf. »Er sucht seit Jahren einen Weg … Es gibt Berichte darüber, alte Legenden …«
»Legenden, pah. Wir sind hier nicht bei Wünsch dir was.« Babel schnaubte.
Sein Blick bekam etwas Flehentliches, und es kam ihr vor, als suche er nach ihrem Verständnis. »Er hat geglaubt, wenn er magische Energien durch sich durchjagt, kann er das magische Potenzial aktivieren.«
Nachdenklich betrachtete Babel die Zeichen auf dem Fußboden. »Es könnte möglich sein. Mikhail ist zwar magisch passiv, aber er ist auch das Kind einer Hexe. Vielleicht verfügt er über die Kraft, aber nicht über die Möglichkeit, sie auszudrücken. Wie ruhende Gene.« Sie verschränkte die Arme und fixierte Nikolai. Plötzlich fiel es ihr leicht, das Bild zusammenzusetzen; alles lag nun offen vor ihr. »Du hast die Energie auf ihn übertragen, nicht wahr? Du warst dabei, als er die Plags getötet hat. Aber weil die Totenenergie auf ihn übergegangen ist, finden sich an dir keine Spuren.«
Er musste nicht antworten, sie sah ihm die Wahrheit auch so an.
»Aber wie hast du es geschafft, die Energien zu bewegen? Du hast nicht mal annähernd genug Kraft dafür.«
Er deutete auf einen Karton neben ihr, und als sie sich darüberbeugte, sah sie, dass mehrere Schmuckstücke darin lagen. Vor allem Armreife aus Silber und Ringe aus Gold. Es war der Schmuck einer Frau.
»Du hast dich bei deiner Großmutter bedient. Sie besitzt so viele aufgeladene Stücke, dass es ihr wahrscheinlich gar nicht aufgefallen ist, als ein paar davon verschwanden, nicht wahr? So ist es dir gelungen, dir zusätzlich Kraft anzueignen.«
Er nickte.
»Jetzt wird mir auch klar, dass Mikhail gar nicht dein Werkzeug war. Du bist seines.«
Nikolai drückte die Handflächen gegen die Augen und krümmte sich nach vorn. Seine bebenden Schultern zeigten an, dass er weinte. »Ich wollte das nicht …«
»Das sagen sie hinterher alle.« Verächtlich schaute Sam ihn an. Mitleid konnte Nikolai von ihm nicht erwarten. Seine Schwäche, Nein zu sagen, hatte vier Menschen das Leben gekostet.
»Sein Plan ist nicht aufgegangen, oder? Die Energie war nicht genug, deswegen hat er es immer und immer wieder versucht. Und du hast ihn nicht davon abgehalten.«
»Du verstehst das nicht«, rief Nikolai plötzlich. Zum ersten Mal schien Leben in ihn zu kommen. »Du hast deine Magie, du kannst nicht wissen, wie man sich fühlt …«
»Nein, kann ich nicht. Wir haben alle unser Säcklein zu tragen, aber wir werden deshalb nicht alle zum Mörder.«
»Warum die Plags?«, fragte Sam, aber Nikolai blickte ihn nur stumm an, als habe der Ausbruch seine Kräfte aufgebraucht.
Daher antwortete Babel für ihn. »Die Energie von Menschen ist zu schwach, und bei Hexen musste er befürchten, dass sie sich wehren.«
So einfach ist das. Irgendjemand legt den Wert deines Lebens fest und zack! Weg bist du.
Auf einmal wusste sie auch, warum Mikhail sie verfolgt hatte. Er hatte sehen wollen, ob sie Schwächen hatte. Vielleicht war ihm klar geworden, dass die Totenenergie der Plags nicht reichte, um sein Potenzial zu aktivieren, und er begann, Hexen in Betracht zu ziehen. Und dann hatte er seinen Bruder auf sie angesetzt, in der Hoffnung, er könnte Babel Geheimnisse über die Ebenen entlocken, um deren Kraft für sich zu gewinnen.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis Mikhail versuchen würde, Hexen anzugreifen.
»Wie seid ihr vorgegangen?«, fragte sie, aber Nikolai schwieg beharrlich.
Wütend stieß sie sich von der Wand ab, doch Sam war schneller. Mit nur wenigen Schritten war er am Sofa, versetzte Nikolai einen Fausthieb, der ihn flach auf den Rücken streckte. Blut schoss aus seiner Nase, Tränen liefen ihm über die Wange, dieses Mal jedoch wegen des Schmerzes.
»Mach den Mund auf, Kumpel.« Drohend hob Sam den Arm, und Nikolai hob abwehrend die Hand.
»Nicht«, flüsterte er. Vorsichtig tastete er seine Nase ab und verzog das Gesicht. Vermutlich war sie gebrochen. Als er sprach, nuschelte er. »Durch die Interviews hat er sich die passenden Plags rausgesucht. Die mit einer möglichst reinen Albenlinie. Wenn er sie sich vorgenommen hat, habe ich … habe ich … ihr Nervennetz sichtbar gemacht …«
»Damit Mikhail wusste, wo der Nervenpunkt lag, den er treffen musste«, ergänzte Babel, und Nikolai schaute sie unglücklich an.
»Was wollte er noch einmal in Annabelles Wohnung?«
»Wir hatten einen der Ringe verloren, Mikhail hat ihn geholt.«
Die Polizei hatte dem Ring keine Bedeutung beigemessen, immerhin war es ein Damenring. Wenn Nikolai die in ihm verankerte Magie während des Rituals aufgebraucht hatte, war es nicht verwunderlich, dass Babel ihn nicht gespürt hatte.
»Er ist mein Bruder«, flüsterte Nikolai, als würde das alles erklären, und vielleicht tat es das auch, aber es entschuldigte ihn nicht.
»Ein Bruder, der abgehauen ist. Der dich allein gelassen hat. Schöner Bruder.«
Darauf antwortete er nicht, sank nur wieder in sich zusammen. Sam kam zu ihr herüber und stellte sich neben sie. Seine Stimme war zu einem Flüstern herabgesunken. »Was wirst du jetzt machen?«
Düster starrte sie vor sich hin. »Die Polizei wird diese Geschichte kaum glauben. Die Genprobe ist vermutlich von Mikhail, und für die Beamten gibt es kein glaubwürdiges Motiv. Er wäre schneller aus der U-Haft, als wir uns umsehen können.«
»Dann überlass ihn den Plags. Wozu haben die ihre Hunde?«
»Das können wir nicht tun.«
»Warum nicht? Er hat ihre Leute mit auf dem Gewissen, also sollen sie auch entscheiden, was mit ihm passiert.«
»Dann würde Clarissa einen Krieg gegen die Plags beginnen.«
»Und das ist schlecht, ja?«
Trotz der Situation musste sie lächeln. »Ja.«
Sie ging zu Nikolai hinüber und forderte ihn auf, ihr sein Handy zu geben. Damit wählte sie Mikhails Nummer, aber es war keine Überraschung, dass er es ausgeschaltet hatte.
»Weißt du, wo er sich jetzt aufhalten könnte?«
»Nein. Wo er wohnt, weiß ich nicht.«
Sam ließ die Fingerknöchel knacken. »Ich kann die Wahrheit aus ihm rausprügeln«, bot er an.
Nikolai wich vor ihm zurück. »Ich schwöre, ich weiß nicht, wo er ist.«
»Schon gut, ich kann ihn im magischen Netz finden, dazu brauche ich ihn nicht«, erwiderte Babel. Ihre Magie war noch immer mit Nikolais Netz verbunden, und auf einmal formte sich in ihrem Kopf eine klare Vorstellung davon, wie sie ihn bestrafen könnte. Langsam tastete sie sich an seinen Energielinien entlang, übte Druck aus und erfasste die Knotenpunkte in seinem System.
Es dauerte nicht lange, bis er spürte, was sie tat. Panisch riss er die Augen auf und kam auf sie zugekrochen. Er heulte Rotz und Wasser. »Das … das kannst du … nicht machen!«
»Nein? Du meinst, weil ich dir damit Gewalt antue? Weil ich kein Recht habe, auf dein Leben einzuwirken? Komisch, diese Skrupel hattest du nicht, als es um die Plags ging. Aber das ist ja etwas anderes, nicht wahr?« Sie verstärkte den Druck und spürte, wie das magische Netz unter ihren Wellen nachgab und riss. Seine Schreie klangen ihr in den Ohren, aber sie ließ nicht von ihm ab.
Wie eine wild gewordene Katze zerfetzte sie sein magisches Netz, trennte Verbindungen und riss Löcher hinein, bis nur noch wenige Linien existierten, die das Grundgerüst seiner Magie waren und nicht zerstört werden konnten, ohne ihn umzubringen. Seine Energie übertrug sich auf sie, bis ihre Haarspitzen wie elektrisch aufgeladen nach oben wehten. Sie konnte Sams Blick auf sich spüren, und als sie aufsah, las sie von seinem Gesicht dieselbe Erregung ab, die auch durch ihren Körper floss. Durch ihre Verbindung fühlte er die Macht, die in ihr steckte. Für ein paar Sekunden stand sie regungslos im Raum und ließ die Wellen über sich hinwegrollen, gefangen in seinem Anblick, der sie zurückbrachte in die Zeit vor über zehn Jahren. Nichts hat sich geändert, sagten seine Augen.
Mühsam unterbrach sie den Blickkontakt und schaute auf Nikolai hinab. Es würde Jahre dauern, bis er wieder Magie wirken konnte. Er war nur noch eine wimmernde Masse, die sich vor dem Sofa zusammengerollt hatte wie ein Igel.
Sie beugte sich zu ihm hinunter. »So oder so bezahlen wir alle für unsere Sünden, da muss man gar nicht warten, bis man tot ist.«
Ohne ein weiteres Wort verließ sie mit Sam die Wohnung.
Die Jagd war noch nicht zu Ende.