7

Nachdem sie Annabelles Wohnung verlassen und das Siegel erneuert hatten, fuhr Tom sie ins Büro. Stumm saßen sie im Auto vor dem Haus, und Babel überlegte, was sie sagen sollte. Aus den geöffneten Fenstern im ersten Stock ertönte zur Abwechslung der frühe Johnny Cash, und an der Hauswand fand sich ein neues Graffiti. Tod allen Bossen! Vermutlich war es sogar echt und nicht von den Plags.

Toms Blick war finster, und seine Finger krampften sich um das Lenkrad, bis die Knöchel weiß wurden. Als sie ihre Hand auf seine legte, sah er überrascht auf, als wäre ihm erst jetzt wieder eingefallen, dass sie neben ihm saß.

»Ich werde mit den anderen in der Wagenburg reden müssen«, sagte er. »Wir müssen uns überlegen, wie wir uns schützen können. Wir können nicht so weitermachen wie bisher, das ist zu gefährlich.«

Babel nickte. »Hör zu, morgen will ich mit den anderen Hexen reden, und ich glaube, es ist besser, wenn du nicht dabei bist, das stiftet nur Verwirrung. Ihr müsst überlegen, wie ihr euch verteidigen könnt, und du kannst nicht überall gleichzeitig sein. Du nützt deinen Leuten mehr, wenn du bei ihnen bist.«

»Und wer deckt deinen hübschen Hintern, wenn’s brenzlig wird?«

Unter seinem herausfordernden Blick stieg ihr die Hitze in die Wangen. »Wann hast du dir meinen Hintern angesehen?«

»Bei dem Kostüm hat man einen ziemlich guten Ausblick.«

»Aha.«

Stumm starrten sie sich an, bis er sagte: »Du weißt, dass ich dir dankbar bin, oder?«

Sie nickte.

»Gut.«

Urd bellte und unterbrach die Spannung, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte. Der Anblick des dicken Speichelfadens, der von ihren Lefzen nach unten und auf das Polster der Rückbank tropfte, genügte, um Babels Anspannung ein wenig zu lockern.

»Ganz ehrlich, ich verstehe nicht, wie du das erträgst«, sagte sie zu Tom und deutete auf die Sauerei.

Er warf einen Blick auf seine Hündin. »Na ja, wir haben alle unsere Schwächen.«

»Ja, aber wir sabbern nicht alle das Mobiliar voll.«

»Kommt noch, kommt noch.«

»Vorher erschieß ich mich«, murmelte sie beim Aussteigen, aber das schien er nicht mehr zu hören. Als der Wagen davonfuhr, sah sie ihm kopfschüttelnd nach, während Urd enthusiastisch die Rückscheibe ableckte. Deine Probleme möchte ich haben, dachte Babel und ging ins Haus.

Im Büro erlebte sie eine weitere Überraschung, denn als sie die Tür öffnete, saß Mo in ihrem Stuhl und stopfte sich die letzten Reste einer Bratwurst in den Mund. Gefolgt von Pommes rot-weiß. Heute verkündete sein T-Shirt Bösartiger Kobold, was ja irgendwie fast wieder stimmte. Grinsend hob er die verschmierte Hand und winkte.

»Was machst du hier? Wo ist Karl?«

»Ich bin hier!«, kam es aus der Küche, und gleich darauf erschien Karl mit einem Teller, auf dem eine riesige Portion Glasnudeln dampfte. Der Geruch von Chilisoße hüllte den gesamten Raum ein.

»Was macht der hier?«, fragte Babel und zeigte mit dem Daumen auf den Plag, der es sich auf ihrem Platz gemütlich gemacht hatte. Durch den verschmierten Ketchup sah er aus wie das Opfer eines Splatterfilms.

»Er wollte sich den Papagei anschauen.«

»Ich hab dir doch gesagt, da gibt es nichts zu sehen. Außerdem ist Tom gerade mit dem Auto weg, du hättest mitfahren können.«

Mo zuckte mit den Schultern und verspeiste in aller Seelenruhe seine Pommes. »Tom ist nicht mein Babysitter.«

Ungehalten setzte sich Babel auf die Ecke des Schreibtischs und langte nach einer Pommes, die drohte, jeden Augenblick von Mos Pappschale zu fallen.

»Was’n mit dir passiert?«, nuschelte er und deutete auf ihre Kleidung.

»Das ist Tarnung.«

»Haste in ’ner Versicherung ermittelt?«

Undankbares Balg.

»Musst du nicht zur Schule oder so was?«, fragte sie.

»Die kommt auch mal ohne mich zurecht.«

»Sehr witzig. Weiß Tom, dass du hier bist?«

Er senkte den Blick, als er antwortete: »Kann sein.«

»Was ist mit deinen Eltern?«

Einen winzigen Augenblick stoppte er in der Bewegung, dann verschwand die Pommes in seiner Futterluke. Mit vollem Mund nuschelte er: »Sind mit einem Zirkus unterwegs. Keine Ahnung, wann die zurückkommen.«

Karl und Babel sahen einander an – sie wusste nicht, ob sie dem Jungen die Geschichte glauben sollte. Als er die Portion verdrückt hatte, wies sie auf die Küche. »Sieh zu, dass du deine Pfoten sauber kriegst. Wenn ich nachher auch nur einen einzigen Ketchupfleck auf unseren Unterlagen finde …«

Feixend erhob er sich und stapfte aus dem Raum. Als er an Xotl vorbeiging, rief der Papagei: »Mittaaagessen!«, und Mo antwortete: »Träum weiter.«

Während das Wasser lief, beugte sich Babel zu Karl und flüsterte: »Warum hast du ihn reingelassen?«

Aber ihr Partner schien sich keine Sorgen zu machen. Stattdessen zuckte er nur mit den Schultern. »Was sollte ich machen? Die Tür absperren? Das ist doch nur ein Junge. Ich wollte ihn nicht wegschicken.«

»Warum nicht?«

Er warf einen Blick in Richtung Küche, in der Mo an der Spüle stand und sich die Hände wusch, als wäre er ein ordentlich erzogenes Kind. »Na ja, er ist extra hergekommen und dann … Ich dachte einfach, er macht vielleicht eine harte Zeit durch, wegen seinen Leuten und so.«

»Wir sind auch nicht seine Babysitter. Bei dem musst du aufpassen, dass er nichts mitgehen lässt.«

»Keine Bange, Babel, ich passe auf. Mit solchen Jungs kenne ich mich aus.«

»Das ist kein Junge, das ist ein Plag, vergiss das nicht. Die wachsen in dem Glauben auf, dass Hexen fast so schlimm sind wie die GEZ

Er lachte und verschluckte sich. Ein paar Nudeln lagen bereits neben dem Teller, und Babel verzog angewidert das Gesicht.

»Ich mein’s ernst, Karl. Der Junge hat Freunde. Die Plags sind eine eingeschworene Gesellschaft und passen aufeinander auf. Warum sollte er ausgerechnet bei mir Zeit verbringen?«

»Manchmal bist du erstaunlich kurzsichtig, Babel«, erwiderte Karl und rührte mit schwungvollen Bewegungen die Chilisoße unter, wobei noch mehr Nudeln auf dem Tisch landeten. »Der Junge geht einfach dorthin, wo er sich am sichersten fühlt, das ist doch nicht schwierig zu verstehen.«

»Zu einer Hexe?«

Karl sah sie an, als sei sie begriffsstutzig. »Zu einer Frau, die mehr Macht hat als die Leute, die er kennt, und die mit einem Fingerschnippen das Blut ihrer Gegner zum Kochen bringen kann.«

War das wirklich der Grund, warum Mo hier war?

»Komm schon, sieh ihn dir an, Babel. Der ist nicht anders als andere Jungs in seinem Alter. Er spielt den großen Macker, aber in Wirklichkeit fürchtet er sich zu Tode.«

Nachdenklich betrachtete sie Mo, der zurückkam und sich die nassen Finger an der Hose abwischte – und auf einmal sah sie nur einen Teenager, der nicht wusste, wie er mit der Situation umgehen sollte. Vielleicht hatte Karl recht.

Sie seufzte. »Na schön, er kann eine Weile hierbleiben, aber wenn er was anstellt, fliegt er raus.«

Sie setzte sich auf ihren Stuhl, und Mo vertiefte sich in ein Gespräch mit Xotl, der sich in seiner Ruhe gestört fühlte und Mo mit Schimpfwörtern bedachte. Der Junge amüsierte sich prächtig.

»Was soll’n das heißen, hä? Willst du sagen, dass du mich scheiße findest, oder was?«

»Daaarmgeburrrt!«

»Wenigstens hab ich keine Federn am Arsch!«

Auf diese Weise ging es eine Weile hin und her, bis Karl Johnny zugunsten von Dolly ablöste, in der irrigen Annahme, dass ihre Stimme den Dämonenpapagei und den Plag irgendwie besänftigen würde. Es führte allerdings nur zu merkwürdigen Geräuschen aus dem Untergeschoss, die sie nach ein paar Minuten als Klopfen gegen die Heizungsrohre identifizierten. Offenbar war die Hutmacherin nicht sehr angetan von Dolly Parton.

Babel brannte darauf, Karl von den neuesten Entwicklungen zu erzählen, aber sie wollte Mo nicht weiter beunruhigen. Auch wenn der Gedanke, sie könne ihn beschützen, eine Illusion war, so war es immer noch besser als gar keine Hoffnung. Karls Blick sagte ihr, dass er das verstand.

Indessen zog er den roten Umschlag aus einem Papierstapel, in den sie den Brief am Abend zuvor geschoben hatte. Bei seinem Anblick ballte Babel die Hand zur Faust.

Karl hielt den Brief in die Höhe. »Auf den bin ich vorhin gestoßen. Der ist an dich adressiert, was ist damit?«

»Nichts.«

»Willst du ihn nicht öffnen?«

»Nein.«

Erstaunt sah er sie an.

Es juckte sie in den Fingern, den Brief an sich zu reißen, und genau deshalb sagte sie hastig: »Steck ihn in den Reißwolf.«

»Ist das dein Ernst?«

»Ja.« Offenbar war sie nicht in der Lage, sich seiner selbst zu entledigen, also musste es jemand anders für sie tun.

»Wie du meinst.« Karl beugte sich zu dem Schredder hinab, der unter dem Tisch stand. Als das Geräusch des Schredders den Raum erfüllte, atmete Babel erleichtert auf. War doch gar nicht so schwierig gewesen. Jetzt war das Ding aus der Welt und stellte keine Gefahr mehr dar. Sie hätte ihn gleich Karl geben sollen, oder Tamy.

Es wird dir nichts nützen, Babel.

Du kannst mich mal.

»Wie läuft’s mit Tom?«, fragte Mo plötzlich mitten in ihre Gedanken hinein. Er lehnte im Türrahmen, die Arme verschränkt, während sich Xotl im Hintergrund seine verbliebenen Federn putzte.

»Wir kommen voran.«

»Das meine ich nicht. Habt ihr schon gevögelt?«

Sprachlos starrte sie ihn an. »Bitte?«

Er grinste nur, während Karl pfiff und es vorzog, sich in die Küche zu verziehen.

»Darauf kriegst du keine Antwort.«

»Sei doch nicht so prüde. Sieht doch jeder Idiot, dass du scharf auf ihn bist. Kann’s dir nicht verübeln. Er hat diese Wirkung auf Weiber.«

»Na, du musst es ja wissen. Bist wohl Experte, was?«

Er steckte die Hände in die Hosentaschen und bekam große Ähnlichkeit mit dem besagten bösartigen Kobold auf seinem Shirt. »Bist ja nicht die Erste, die ihm schöne Augen macht.«

»Ich mache ihm keine schönen Augen!«, erwiderte Babel lauter.

»Doch, tust du.«

»Nein, tue ich nicht.« Jetzt schrie sie, und Mo schrie zurück: »Klar!«

»Kinder!«, kam es aus der Küche und »Pfui, pfui, pfui« aus dem Käfig.

Mo grinste unentwegt. »Allerdings hatte er vorher noch nie was mit einer Hexe, das ist was Neues.«

»Wie schön.«

Er ließ sich einfach nicht davon abbringen und redete weiter, obwohl die Falte zwischen ihren Augenbrauen jedem Idioten klargemacht hätte, dass Babel nicht darüber reden wollte.

»Vielleicht will er mal was ausprobieren.«

»Vielleicht solltest du einfach mal die Klappe halten.«

»Ich will doch nur helfen.«

»Wir brauchen deine Hilfe nicht.«

Ein Schulterzucken war die Antwort, und die nächsten Minuten verbrachte er damit, ihr Toms Vorzüge aufzuzählen. Dazu gehörten offenbar nicht nur Ehrlichkeit und Humor, sondern auch die Tatsache, dass er schon mal einen Zwei-Meter-Skin auf die Bretter geschickt und dessen Kumpel das halbe Ohr abgebissen hatte, als sich die beiden feigerweise zu zweit an Tom rangemacht hatten. Die Fähigkeit, einem Gegner das Ohr abzubeißen, während man ihn sprichwörtlich an den Eiern hat, schien Mo für eine erwähnenswerte Tugend zu halten, mit der man bei Frauen punkten konnte. Babels erstarrten Gesichtsausdruck hielt er wohl für Begeisterung, denn er schmückte die Geschichte so lange aus, bis man annehmen konnte, Tom hätte sich gegen ein Dutzend Männer verteidigt. Zweifellos war er Mos heimlicher – oder nicht ganz so heimlicher – Held.

»Sag mal, würde es dich gar nicht stören, wenn er …« Sie vollführte eine vage Handbewegung, die ahnen ließ, worauf sie hinauswollte, ohne vulgär zu werden.

»Nee.«

»Darf ich fragen, warum?«

»Wenn du etwas mit ihm hast, wirst du doch nicht zulassen, dass ihm was passiert, oder?« Er stand da, die Hände noch immer in den Hosentaschen, und versuchte, lässig und clever rüberzukommen, aber an seinen angespannten Schultern konnte sie die Angst ablesen, die tief in ihm steckte.

Karl hatte recht gehabt. Ganz gleich, was der Junge von Magie hielt, offenbar glaubte er, dass Babel über die Macht verfügte, diese Geschichte zu einem guten Ende zu bringen. Sie wünschte, sie könnte da so sicher sein wie er.

»Wir kriegen das hin«, sagte sie leise, und er nickte abrupt.

In diesem Moment klingelte sein Handy. Er ging ran und legte nach einem kurzen »Okay« wieder auf. »Ich muss zurück zur Wagenburg. Tom hat den Rat zusammengerufen.« Mit gerunzelter Stirn schaute der Junge erst das Telefon in seiner Hand und dann Babel an.

Die Plags verfügten über keine festen Hierarchien. Wenn sie sich zu einer Gruppe zusammenschlossen wie in der Wagenburg, entschieden sie nach Mehrheitsprinzip, wobei jeder Plag, der älter war als zwölf, eine Stimme besaß. So einfach war das.

»Er hat keine guten Nachrichten, oder?«, fragte Mo.

Babel wich seinem Blick aus. Sie sollte es Tom überlassen, was er den Plags erzählte, aber anlügen wollte sie den Jungen auch nicht, deshalb schüttelte sie einfach den Kopf.

Einen Moment lang wurden seine Augen groß und zeigten, dass er eigentlich nur ein Kind war, dann verschloss sich sein Gesicht wieder, und der bekannte trotzige Ausdruck tauchte auf. »Ich hau jetzt ab.« Mit einem letzten Blick auf den Papagei rief er: »Bis bald, altes Federvieh!«, und Xotl antwortete: »Blechschwein!«

Mo schlüpfte aus dem Büro, und Babel hörte ihn die Treppen hinunterpoltern. Ihr blieb nicht viel mehr übrig, als ihm hinterherzurufen: »Und lass dieses Mal das Motorrad stehen!«

Als die Haustür ins Schloss fiel, kam Karl aus der Küche und setzte sich wieder auf seinen Platz.

»Glaubst du, dass alle Jugendlichen so sind, oder ist der hier nur einfach ein besonderes Exemplar?«, fragte sie ihn mit verschränkten Armen.

»Er mag dich.«

»Komische Art, das zu zeigen.«

Nachdem sie ihre Gedanken gesammelt hatte, erzählte sie Karl, was sie bei der Staatsanwaltschaft und dem letzten Tatort herausgefunden hatten. Währenddessen saß er schweigend in seinem Stuhl und rauchte einen Zigarillo. Ihre Mitteilungen gefielen ihm nicht, er wechselte nicht einmal die Platte, als Dolly ihre Lieder zu Ende gesungen hatte. Die Stille im Zimmer war geradezu erdrückend.

»Was wirst du als Nächstes tun?«, fragte er nach einer Weile und stieß kleine Rauchwolken in die Luft.

»Die anderen Hexen befragen.«

»Hältst du das für klug?«

»Mir bleibt nichts anderes übrig. Die Sache ist größer, als wir angenommen haben. Das können wir nicht einfach ignorieren.«

»Glaubst du wirklich, dass der Täter irgendwann zu uns kommen wird?«

»Wenn es sich um eine Hexe handelt, ja.« Sie nickte.

Sie arbeiteten schon so lange zusammen, und Karl kannte sich mittlerweile gut mit dem Alten Wissen aus – trotzdem gab es immer noch Aspekte, die er nicht verstand. Natürlich waren Hexen in erster Linie Menschen, das hieß, sie waren unterschiedlich. Aber es gab ein paar Eigenschaften, die sie alle teilten, weil es ihre Natur mit sich brachte. Gier war eine davon. Das Bedürfnis nach mehr Macht brannte in ihnen allen hell wie Feuer. Die magischen Energien schienen stets auf der Suche nach neuen magischen Quellen zu sein, als würde man ein Kraftwerk speisen. Die Frage war nur, wie eine Hexe damit umging. Ignorierte sie es? Konnte sie es unterdrücken? Oder lebte sie es aus?

Wenn eine Hexe Morde beging, um ihre Macht zu steigern, dann beantwortete dies die Frage von selbst. Die Gier war dann so stark, dass sie nicht vor anderen Hexen haltmachen würde. Auf sie traf die alte Redewendung zu: Wer Macht hat, will noch mehr davon.

Das war auch einer der Gründe, warum Babel zu den Montagstreffen ging. Es war ihre Art, mit der Gier umzugehen.

»Wäre es nicht klüger, sich so lange von dem Täter fernzuhalten, wie wir können, um Kräfte zu sammeln? Eine Strategie zu entwickeln?«

Das hatte sie sich auch schon gefragt, aber es würde bedeuten, die Stadt zu verlassen, ihr Territorium aufzugeben und an einem anderen Ort neu anzufangen. Aber Babel war nicht bereit, das Leben, das sie sich hier aufgebaut hatte, aufzugeben.

»Ich bin nicht der Typ, der gut abwartet, Karl. Das war ich noch nie. Außerdem wird die Hexe nur stärker, und je länger wir warten, desto schwächer wird unsere Chance, sie aufzuhalten. Und unter uns … Die Strategie sieht eigentlich ganz einfach aus.«

»Und wie, bitte schön?«

»Zielen und ausschalten.«

»Du meinst das im übertragenen Sinne?«

»Ich meine es, wie ich es sage.«

»Aber du willst nicht … jemanden … umbringen, oder?« Seine Stimme zitterte, und zum ersten Mal, seit sie sich kannten, galt das Misstrauen in seinem Blick ihr.

»Das habe ich nicht vor. Wenn ich Glück habe, kann ich die Hexe einfach handlungsunfähig machen, aber ich kann dir nicht sagen, was in einem Kampf auf mich zukommt.«

Die letzte blutige Auseinandersetzung mit einer Hexe hatte Babel drei Jahre zuvor gehabt. Damals war Judith von einem Zwillingspärchen angegriffen worden, das sich neu in dem Ort niedergelassen hatte, in dem Judith lebte. Nachdem die Neuankömmlinge Judiths Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt hatten, hatten sich Babel und Judith die beiden gemeinsam vorgenommen. Dabei hatte sich Babel zwei Rippen gebrochen, und Judith wäre fast verblutet. Außerdem verlor sie zwei ihrer Hunde. Aber immerhin hatten sie es geschafft, dem Pärchen solche Angst einzujagen, dass es aus der Stadt verschwand – allerdings erst sechs Wochen später, denn so lange hatten die beiden anderen Hexen mit inneren Verletzungen im Krankenhaus gelegen.

Davon hatte sie Karl nie erzählt. Bis heute glaubte er, sie hätte einen Radunfall gehabt, als sie ihre Schwester besucht hatte. Solche Auseinandersetzungen kamen selten vor, aber es gab sie. Wie die meisten Menschen scheuten sich auch Hexen davor, jemanden umzubringen – erheblichen körperlichen Schaden anzurichten, war jedoch etwas ganz anderes. Der Kampf um Territorien wurde manches Mal blutig geführt.

Dieses Mal ging Babel allerdings das erste Mal in einen Kampf, ohne zu wissen, was sie erwartete. Sie konnte ihren Gegner nicht einschätzen, und das machte sie nervös.

»Das ist alles eine Nummer zu groß, Babel«, sagte Karl. Mit einer ausholenden Geste umfasste er das Büro. »Als wir mit dem hier angefangen haben, hab ich doch nicht im Traum daran gedacht, dass es uns mal richtigen Ärger einbringen könnte, bei dem du draufgehen könntest.«

Es tut mir leid.

Entschuldigend sah sie ihn an. »Ich hätte dich warnen sollen. Seit ich mich erinnern kann, erklärte mir meine Mutter die Wege der Hexen. Ich kenne nichts anderes, und manchmal fällt es mir schwer zu begreifen, dass nicht alle so denken.«

Wieder schwiegen sie, und er griff unbewusst nach seiner Kette. Während er Babel nachdenklich betrachtete, sagte sie vorsichtig: »Vielleicht solltest du für eine Weile verschwinden …«

»Vergiss es.«

»Ich meine ja nur …«

»Und ich sagte, du sollst es vergessen! Ich werde dich sicher nicht hier allein mit dem allen lassen.« Fast beleidigt schaute er sie an. »Ich bin vielleicht keine große Hilfe, wenn es um Magie geht, aber ich habe Kontakte, und wer weiß, wann das mal nützlich wird.«

Sie sah ihm an, dass er seine Meinung nicht ändern würde – er hatte auch nicht aufgehört zu rauchen, als das Rauchverbot in die Kneipen gekommen und der Tabak immer teurer geworden war. Jeder hat das Recht, selbst zu bestimmen, wie er sich zugrunde richten will, hatte er damals behauptet, und heute schien er in einer ähnlich trotzigen Stimmung zu sein. Und irgendwie war Babel auch froh, dass Karl blieb.

»Von mir aus«, sagte sie zustimmend, »aber dann behalt deine Waffe ab jetzt bei dir. Nur für den Fall der Fälle, okay?«

»In Ordnung. Wir sollten zusehen, dass wir Verstärkung kriegen. Was ist mit deiner Freundin, der Türsteherin?«

»Tamy?«

»Hast du nicht gesagt, dass die einen Ochsen am Nasenring durch die Straße schleifen kann, wenn’s sein muss?«

Der Gedanke war ihr noch nicht gekommen, aber Karl hatte recht. Zusätzliche Muskeln waren kein schlechter Gedanke, denn auch Babel konnte ihre Augen nicht überall haben. Und sollte die Magie aus irgendeinem Grund versagen, konnte Tamy ihr den Rücken decken. Das setzte natürlich voraus, dass Babel ihr erst einmal von der Magie erzählte und Tamy nicht schreiend davonlief oder versuchte, Babel in eine Irrenanstalt zu stecken. Aber sie hatte ja sowieso vorgehabt, es ihr eines Tages zu erzählen, warum also nicht jetzt?

»Ich werde sie fragen.«

Er nickte und drehte sich endlich auf seinem Stuhl um, um die Anlage einzuschalten. Ausnahmsweise störte sie die Musik mal nicht, im Gegenteil, Babel fand sie beruhigend. Solange Dolly mit bebendem Busen über die Liebe sang, schien noch nicht alles verloren.

So saßen sie da und lauschten ihrer Stimme, während sie ihren Gedanken nachhingen.

Erst nach einer ganzen Weile fragte Karl: »Und jetzt?«

Babel stand auf und zog wieder einmal den Rock nach unten. »Jetzt fahre ich erst mal nach Hause und sehe zu, dass ich aus diesen Klamotten rauskomme. Das war wirklich genug Folter für einen Tag.«