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Der Himmel interessierte sich nicht für die Toten. Es gab keinen dramatischen Regen, der auf dunklen Regenschirmen glänzte, oder graue Sturmwolken, die ein aufgebrachter Wind vor sich hertrieb. Stattdessen zeigte sich über Babel ein wolkenloses Blau, das beinahe schmerzhaft in den Augen brannte, während sie den breiten Weg hinunterlief.

Der Sommer kündigte sein unaufhaltsames Kommen an, und in der Luft hing die erste Ahnung der folgenden Hitze.

An einem solchen Tag sollte man ein Picknick machen oder einen Spaziergang, dachte Babel. Auf keinen Fall sollte man zu einer Beerdigung gehen und dabei eine schwarze Jeans und eine dunkelgraue Bluse tragen – nur weil es das Einzige im Schrank war, das angemessener Trauerkleidung auch nur halbwegs ähnelte.

Seufzend schob Babel die Hände in die Hosentaschen. Ihre Schritte wurden langsamer, und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob es überhaupt eine gute Idee gewesen war, hierher zu kommen.

Beerdigungen waren etwas für die Familie des Verstorbenen. Freunde. Oder wenigstens Bekannte. Nichts davon traf auf Babel zu, denn sie war Madame Vendome, die eigentlich Sonja hieß, lediglich ein einziges Mal begegnet – und die ganze Geschichte hatte in einer Katastrophe geendet. Dass sie jetzt zu ihrer Beerdigung ging, lag nur an diesem nagenden Gefühl, das ihr keine Ruhe ließ: das Bedauern darüber, Sonjas Tod nicht verhindert zu haben.

Hätte sie Mikhail schneller durchschaut, wäre die Geschichte anders verlaufen. Dann würde Sonja noch leben und ihre albernen magischen Salons abhalten, und Babel hätte nicht grün und blau geschlagen im Krankenhaus gelegen.

Angespannt lief sie weiter, während unter ihren Schuhen der Kies knirschte.

Der Anblick im Spiegel war in den letzten zwei Wochen schon besser geworden. Das Veilchen um das rechte Auge verblasste zu einem grün-gelben Schleier, unter der verkrusteten Oberlippe kam eine hellrosa Narbe zum Vorschein, und auch die Schwellung am Unterkiefer ging langsam zurück.

Leider senkten die Menschen, denen Babel auf der Straße begegnete, noch immer hastig den Blick, wenn sie ihr ins Gesicht gesehen hatten, als wäre sie eine gemeingefährliche Irre, die jeden Moment die Beherrschung verlieren könnte, wenn man sie nur falsch anschaute.

Vielleicht war daran aber auch die steile Falte zwischen Babels Augen schuld, die von ihrer geringer werdenden Geduld zeugte. Denn seit dem Vorfall mit Mikhail, seinem Dämon und Sonjas Tod vor ein paar Wochen war ihre Umgebung dermaßen rücksichtsvoll, dass Babel am liebsten laut geschrien hätte.

Selbst Tamy, ihre AA-Sponsorin, hielt sich mit klugen Ratschlägen zurück. Stattdessen warf sie Babel bedeutungsschwere Blicke zu, die sie stärker niederdrückten, als es jeder Ratschlag gekonnt hätte. Seit zwei Monaten war Babel bei keinem einzigen Montagstreffen mehr gewesen, und wie immer schien Tamy genau zu riechen, was in ihr vor sich ging.

Die Scham darüber, erneut die Kontrolle über ihre Kräfte verloren zu haben, hielt Babel davon ab, den Leuten ihrer Selbsthilfegruppe gegenüberzutreten, die ihr über so lange Zeit eine Stütze gewesen war – und alles, was Tamy dazu sagte, war: »Du hast da was total falsch verstanden.«

Mit ihren einsneunzig hatte die Türsteherin, die Haar wie Rapunzel besaß, auf sie heruntergesehen und die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt, als wäre Babel ein uneinsichtiges Kind.

Und für einen Moment hatte sie sich auch genauso gefühlt.

»Wir versagen alle mal irgendwann, Babel. Scham über deine Fehler wird dich nicht weiterbringen.«

Sie wusste, dass Tamy recht hatte, aber ihr Magen war noch nicht so weit, wieder zu den Montagstreffen zu gehen und sich somit einzugestehen, dass sie sie immer noch brauchte. Was ihr einmal das Leben gerettet hatte, kam ihr jetzt nur wie eine zusätzliche Prüfung vor.

Da war ich schon mal weiter, oder? Ich hatte die Sache im Griff, und dann … Puff. Ein einziger Kontakt mit den Dämonenebenen, und sie war ihnen wieder genauso verfallen wie schon einmal vor vielen Jahren.

Und meine Scham darüber ist alles, was ich im Moment habe.

Aber Tamy schien auch das zu verstehen.

Kein Wunder also, dass Babel seit Tagen dieses Zucken im linken Auge verspürte, das ihr verriet, wie dünn ihr Geduldsfaden tatsächlich geworden war. Und der Gang über den Friedhof machte es auch nicht besser, denn inzwischen beunruhigte sie der Gedanke, an diesem Grab zu stehen.

Das Gefühl verstärkte sich noch, als sie sich der ausgewiesenen Stelle näherte, an der das Begräbnis stattfinden sollte, und lediglich ein einziger Mann in einem grünen Overall zu sehen war. Einen Schritt neben ihm gähnte das dunkle Loch, in dem sie alle irgendwann enden würden. Die Vorstellung deprimierte Babel.

Irritiert warf sie einen Blick auf die Uhr. War sie vielleicht zu früh? Doch sie hatte sich nicht geirrt – die Bestattung hätte schon vor zehn Minuten beginnen sollen, aber außer ihr war niemand hier.

Das war eigenartig. Schließlich hatte Sonja es hervorragend verstanden, mit ihren schwachen magischen Kräften der prominenten und wohlhabenden Klientel Geld aus der Tasche zu ziehen, indem sie den Leichtgläubigen die Karten legte oder ihnen Tränke braute. Sie war eine schöne Frau gewesen, mit roten Locken und Kurven an den richtigen Stellen, eine Frau, die sich zu inszenieren wusste – da hatten sich die Leute gern erzählen lassen, dass sie eine Hexe war.

Mit dem, was Babel tat, besaß das Ganze allerdings wenig Ähnlichkeit.

Dass nun von jenen Leuten kein Einziger zu ihrer Beerdigung kam, um der großen Madame Vendome die letzte Ehre zu erweisen – und dabei gesehen zu werden –, konnte Babel nicht glauben.

Zögernd trat sie auf den Mann im Overall zu, der ihr missmutig entgegensah. Seine Mundwinkel waren so weit nach unten gezogen, dass sie beinahe sein fliehendes Kinn berührten, und die buschigen Augenbrauen trafen sich über der Nasenwurzel. Selbst seine Nase schaffte es irgendwie, Missbilligung auszudrücken.

»Entschuldigen Sie«, sprach Babel ihn an, »ist hier die Beerdigung von Sonja Schubert?«

»Wem?«

»Madame Vendome?«

»Oh, die …« Der Mann schüttelte den Kopf und schmatzte ungehalten. »Wenden Sie sich an die Friedhofsverwaltung, da gab’s ein Problem …«

»Ein Problem?«

»Sind Sie Familie?« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Nein.«

Der Mann blickte sich um wie ein Kind, das weiß, dass es gleich eine Dummheit begehen wird und trotzdem nicht anders kann, dann beugte er sich zu ihr hinüber und flüsterte: »Offenbar ist die Leiche verschwunden.«

»Verschwunden?«

Er nickte. »Ja, ja. Heute Morgen wollten wir den Sarg fürs Krematorium holen, da war er weg. Seitdem ist hier die Hölle los, sag ich Ihnen.« Seine Haltung verriet deutlich, was er davon hielt. »Wenn Sie mich fragen, taucht der Sarg bald wieder auf, ich meine, der kann ja nicht einfach verschwinden, und das Schloss an der Tür war auch in Ordnung.« Er winkte ab. »Den hat keiner geklaut. Wahrscheinlich haben die den bloß noch nicht abgeholt. Da hat einer gepennt.« Er steckte die Hände in die Brusttasche des Overalls, während Babel ihn fassungslos anstarrte.

Nachdem die Staatsanwaltschaft gegen Mikhail Anklage erhoben hatte, war Sonjas Leiche endlich zur Beerdigung freigegeben worden. Offiziell galt die Sache als Raubüberfall mit Todesfolge, über die wahren Hintergründe wurde natürlich nichts bekannt. Dafür hatte Babel gesorgt. Schließlich konnte man den Behörden schlecht erklären, dass Mikhail ein Hexer war, der versucht hatte, mithilfe von Sonjas Totenenergie sein magisches Potenzial zu aktivieren.

»Ich hoffe nur, dass die den Schlamassel bis zum Mittag klären«, unterbrach der Mann ihre Gedanken. »Ich muss auch mal wieder an die Arbeit, die macht sich ja nicht von allein.«

Geistesabwesend nickte sie. Trotz des warmen Wetters fröstelte sie auf einmal, denn ein eigenartiges Gefühl beschlich sie – und es war alles andere als angenehm.

Konnte eine Leiche wirklich verlegt werden? War das nur ein Versehen? Zufall?

Hätte es sich bei dieser Leiche um die alte Großmutter von irgendwem gehandelt, hätte sich Babel vielleicht mit dieser Erklärung abgefunden, aber wenn Hexen im Spiel waren, tat man gut daran, nicht an Zufälle zu glauben.

Doch soweit Babel wusste, war von den in der Stadt ansässigen magisch Aktiven niemand in den Bereichen der Nekromantie unterwegs, obwohl in diesen Ritualen so viel Macht steckte. Das hatte auch seine guten Gründe.

Die Versuchung, einen geliebten Menschen mithilfe der Magie zurückzuholen, war für jede Hexe groß, ebenso wie sich der Energien zu bedienen, die die Totenebene bereitstellte. Aber die meisten Hexen taten es am Ende nicht, denn der Preis, den sie dafür zahlten, war einfach zu hoch. Solche Rituale verlangten viel Blut und große Opfer; sie waren kompliziert und erforderten ein hohes Maß an Konzentration, über das nur wenige magisch Aktive verfügten. Die Mehrzahl der Nekromanten brauchten Jahre, um diese Rituale zu meistern – und jedes Mal liefen sie Gefahr, sich in der Magie zu verlieren.

Außerdem kamen die Toten nie so zurück, wie sie als Lebende gewesen waren. Man konnte aus einem toten Ding nichts Lebendiges mehr machen. Diese eine Barriere konnte auch die Magie nicht überwinden.

Die ins Fleisch zurückgezwungenen Toten waren nur noch Schatten ihrer selbst, Marionetten der Hexe, die sie beschwor, denn sie waren an ihre Meister gebunden und mussten jedem Befehl nachkommen. Für Hexen war die Nekromantie das letzte Tabu, und in den meisten Städten wurden magisch Aktive, die sich darauf spezialisiert hatten, nicht geduldet.

Babel war in ihrem Leben nur zweimal einem Nekromanten begegnet, und beide Male war ihr vor Abscheu die Galle hochgekommen.

Zögerlich verabschiedete sie sich von dem Friedhofsmitarbeiter und lief langsam den Weg zurück, den sie gerade erst gekommen war.

In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander wie in einer Nacht, in der man keine Ruhe finden kann und sich unruhig im Bett hin und her wälzt. Das schöne Wetter kam ihr auf einmal verdächtig vor. Wie ein umgekehrtes Omen, bei dem allzu schöne Dinge manchmal nur die Vorboten von Katastrophen waren.

Seit sie Sam getroffen hatte, kannte sie sich mit solchen Sachen aus.

Oh, hat dieses Dämonenkind nicht ein Gesicht zum Niederknien? Da vergisst man doch gern, dass in seinem Fahrwasser stets Katastrophen schwimmen, nicht wahr?

Bei dem Gedanken an Sam trat sie gleich fester auf, als könne sie mit den Absätzen die Erinnerung an ihn zertreten, aber das nützte natürlich nichts.

Wenn es so einfach wäre, hättest du das schon vor Jahren gemacht, nicht wahr?

Nachdem sich Samuel vergewissert hatte, dass sie den Angriff des Dämons überlebte, war er wieder untergetaucht. Es hatte ihm vollkommen gereicht, nach vier Jahren Funkstille plötzlich vor Babels Tür zu stehen und ihr Gefühlsleben erneut durcheinanderzubringen. Ausgerechnet, als sie dabei war, sich in Tom zu verlieben, musste sie feststellen, dass der Funke zwischen Sam und ihr noch nicht erloschen war. Eine einzige Begegnung reichte schon, um das Feuer neu zu entfachen – und eine kalte Dusche hatte nichts gebracht.

Danach war er jedoch wieder verschwunden, und obwohl sie damit zufrieden sein sollte, dass er sich seither nicht mehr bei ihr meldete, schien sie plötzlich nicht mehr in der Lage, ihn zu vergessen. Ständig tauchte er in ihren Gedanken auf, in ihren Träumen, und manchmal glaubte sie sogar, ihn auf der Straße zu sehen. Dabei wusste sie genau, dass er es nicht sein konnte, denn die magische Verbindung, die sie vor Jahren eingegangen waren, zeigte ihr an, wenn er sich ihr näherte.

Es war ein bisschen so, als würde man zu jemandem sagen: Denk nicht an ein tanzendes blaues Nilpferd! Und schwupps hatte man den Kopf voller Schwergewichte.

Wütend über sich selbst, weil sie schon wieder über ihn nachdachte, biss Babel die Zähne aufeinander und ging noch ein bisschen schneller. Als könne sie so vor den eigenen Gedanken davonlaufen.

Sam war für sie mindestens so verlockend wie die Ebene, von der sein Vater stammte, und manchmal kam es ihr vor, als wäre sie nicht wegen ihrer Abhängigkeit von der Dämonenebene in der Selbsthilfegruppe gelandet, sondern seinetwegen.

Und hast du das nicht wunderbar im Griff?, fragte die gehässige Stimme in ihrem Kopf. Da verschwindet die Leiche einer Hexe, und du hast nichts Besseres zu tun, als über deinen dämonischen Liebhaber nachzudenken. Erinnerst du dich denn gar nicht mehr an das, was dir deine Mutter über die Rituale beigebracht hat, in denen Tote verwendet werden? Warum fröstelt dich wohl bei dem Gedanken daran?

»Zombie …«, flüsterte Babel und schloss für einen Moment die Augen.

Nicht einmal, als Hilmar gestorben war, hatte sie daran gedacht, ihn zurückzuholen, denn er hatte ihr erzählt, wie sehr er die Nekromantie verabscheute. Sie hätte es nicht ertragen zu sehen, wie er seinen eigenen Willen an sie verlor und in einer verrottenden Hülle gefangen wurde. Lieber ertrug sie den Schmerz, den sein Verlust ihr bereitete.

Noch einmal schaute sie sich zu der Grabstelle um. Dort stand noch immer der Mann im Overall, der gelangweilt mit der Schuhspitze Erde in das Loch kickte, während er darauf wartete, ob weitere Leute zu Sonjas Beerdigung auftauchten, die er informieren musste.

Sie wandte sich wieder ab und ging nachdenklich weiter.

Vielleicht sollte sie sich auch gar keinen Kopf machen. Vielleicht gab es im Universum mehr Zufälle, als sie annahm, und irgendein Angestellter hatte tatsächlich einen Fehler begangen. Das kam vor. Das Internet war immerhin voll mit Videos, in denen Menschen die verrücktesten Dinge passierten.

Zufällig.

Und manchmal überlebten sie die sogar. Sonja würde es dort, wo sie jetzt war, schließlich gleichgültig sein, ob ihre Leiche den Weg in dieses ausgehobene Loch fand oder mit einer falschen Beschriftung in irgendeinem Kühlraum lag. So viel stand fest.

Hexen waren von Natur aus nicht besonders religiös, weil sie genau wussten, dass der von den meisten Kirchen propagierte Himmel nicht auf die Toten wartete, sondern einfach eine neue Daseinsform auf einer anderen Ebene. Solange ihre sterblichen Überreste nicht in nekromantischen Ritualen verwendet wurden, die ihre Ruhe störten, interessierte es die Toten nicht, was genau damit geschah. Das war auch der Grund, warum sich die meisten Hexen für eine Feuerbestattung entschieden. So gingen sie sicher, dass mit ihren Körpern kein Schindluder getrieben wurde.

Sollte Babel die Sache also einfach auf sich beruhen lassen und darauf vertrauen, dass irgendwem schon einfallen würde, in welchem Kühlraum Madame Vendome aus Versehen gelandet war?

Wahrscheinlich wäre es für ihre geistige Gesundheit besser, wenn sie nicht überall Gefahr witterte. Nicht hinter jedem Ereignis steckte eine Verschwörung der magisch Aktiven.

Nein, aber es schadet nicht, auf der Hut zu sein. Wer über große Macht verfügt, wird immer irgendwann von Gier erfasst, da kannst du jeden Politiker oder auch Konzernchef fragen. Die Gier äußert sich nur unterschiedlich.

Aber was geht mich das an? Ich bin nicht für alles verantwortlich.

Natürlich. Du kannst dich zurücklehnen und entspannen. Warum sollte dich der Gedanke an eine verschwundene Leiche und das, was man möglicherweise damit anstellen könnte, auch beunruhigen? Die Bilder daran werden dich schon nicht um den Schlaf bringen …

Verdammt!

Misstrauisch schaute sie in den Himmel, als würde dort eine Antwort auf die Frage stehen, ob sie dieser Sache nachgehen sollte. Aber das Blau leuchtete noch genauso unschuldig wie zuvor.

Nein, der Himmel interessierte sich wirklich nicht für die Toten.

Tief beunruhigt ließ Babel den Friedhof hinter sich.