Epilog
Mitzi öffnete die Augen und räkelte sich genüsslich in dem herrlich kuscheligen Durcheinander aus zerwühlten weißen Laken, zwei Decken und einem Plumeau. In einem flüchtigen Augenblick des Schreckens fragte sie sich, wo sie war. Dann fiel es ihr wieder ein, und sie lächelte.
Kein Geräusch war zu hören. Alles war nahezu gespenstisch still: ein gedämpftes, unheimliches, lautloses Schweigen. Der fremde Raum war von sanftem weißem Licht durchflutet. Die schweren pflaumenblauen Samtvorhänge, nicht vollständig geschlossen, ließen einen hellen Streifen auf die glänzenden Bodendielen fallen.
Ein Lichtstrahl auf einem Schlafzimmerboden.
Sie drehte den Kopf und lächelte schläfrig in das dicke Federkissen. Es war der Morgen des ersten Weihnachtstags, es schneite, und sie war weder zu Hause noch allein.
Zaghaft schob sie ihren Fuß über das breite Bett, bis er Joels nacktes Bein berührte. Sich ausstrecken und die Haut des anderen fühlen.
Mitzi seufzte vor lauter Wonne.
Joel schlief neben ihr. Sie gönnte sich den Luxus zu beobachten, wie er atmete, im Schlaf von Natur aus hinreißend schön, wie nur wenige Menschen nach Ende der Kindheit. Wenn sie einatmete, atmete er aus.
Möge diese Liebe niemals enden …
Es war in jeder Hinsicht rundherum so, wie sie es sich erträumt hatte. Es entsprach in jeder Hinsicht ihrer Vorstellung von Romantik – wie in dem Song »Amoureuse«.
Vorsichtig, um Joel nicht zu wecken, schlüpfte sie aus dem Bett und erwartete einen Kälteschock. Erstaunlicherweise war es im Zimmer herrlich warm, sodass sie nackt zum Fenster tappte und eine Ecke des dicken Vorhangs anhob.
Hazy Hassocks hatte sich über Nacht in ein Winterwunderland verwandelt. Der Anblick war atemberaubend. Der Tag brach gerade an, orangegelbes Licht strömte über das hügelige Weiß, noch immer trudelten Schneeflocken sanft vom Himmel und ließen sich nieder. Eiszapfen hingen wie riesige Stalaktiten von allen Fensterbrettern des Faery Glen, und der von Norden her kommende Wind wehte nach wie vor eisigen Frost durch das Dorf.
Im Erdgeschoss schliefen all ihre Freunde und Verwandten zweifellos noch unter den Stapeln von Decken und Federbetten, die Otto und Boris zur Verfügung gestellt hatten. So hatten Doll und Brett sich ihre Hochzeitsnacht wahrscheinlich nicht vorgestellt. Man hatte ihnen zwar mit Rücksicht auf den besonderen Anlass und die Schwangerschaft ein Zimmer angeboten, sie hatten jedoch dankend abgelehnt und mit allen anderen bis in die frühen Morgenstunden weitergefeiert.
Nun, mit fast allen anderen.
Joel murmelte etwas im Schlaf. Sie drehte sich um und sah ihn an. Himmel, war er hinreißend. Er räkelte sich behaglich, legte den Arm über ihr Kissen und schlief weiter. Das steht ihm auch zu, dachte Mitzi und errötete bei der Erinnerung an die Wonnen der Nacht.
Und ehe er erwachte, müsste sie sich im Badezimmer einschließen und einige Spuren verwischen. Wo war ihre Handtasche? Ach … wie war sie denn da hinaufgekommen? Geworfen? Getreten? Mannomann …
Fröstelnd, eher aufgrund der arktischen Szenerie draußen als wegen der tatsächlichen Raumtemperatur, griff sie sich Joels Pullover von dem wilden Kleiderhaufen auf dem Fußboden. Er war weich und liebkoste ihren nackten Körper wie eine Umarmung. Als provisorisches Negligé – ein Wort, das zu einer Nacht solcher Lust und Leidenschaft vorzüglich passte – war er genau richtig.
Im Badezimmer, wieder unbekleidet und nach vollendeter Köperpflege, betrachtete Mitzi gequält ihr Spiegelbild.
Die Liebesromantik der vergangenen Nacht bei Kerzenlicht und Champagner und lodernder Leidenschaft mochte wundervoll gewesen sein – doch nichts, aber auch gar nichts, vermochte in dem grellen Licht des verschneiten Morgens die Spuren der Verwüstung zu kaschieren.
Da sie keine Zahnbürste dabeihatte und auch keinen Kulturbeutel oder Notreserven an Feuchtigkeitscreme, hatte Mitzi sich mit der Hafermehlseife des Faery Glen geschrubbt, ihre Zähne mit einem Wattestäbchen gereinigt und die verschmierte Wimperntusche mit dem nassen Zeigefinger entfernt. Sie hatte ihr feuchtes Haar nach dem Duschen aus dem Gesicht gestrichen, und in dem erbarmungslosen Badezimmerspiegel wurden alle Runzeln und Falten und südwärtigen Senkungen ihres Körpers übermäßig hervorgehoben und bloßgestellt.
Liebe Güte! Am Po hatte sie Zellulitis auf der Zellulitis!
Sie begutachtete ihren Körper aus allen Winkeln und zuckte schließlich die Schultern. Für ihr Alter und nach der Geburt von zwei Kindern gar nicht so übel. So war sie eben. Zwar würde sie sich immer große Mühe geben, ihren Körper zu pflegen und zu cremen, aber das Alter würde natürlich seinen Tribut fordern. Sie konnte und wollte nicht wie Tarnia um ewige Jugend kämpfen. Vielleicht fand sich in Granny Westwards Aufzeichnungen ja irgendeine Mixtur, mit deren Hilfe sich der Zahn der Zeit ein wenig aufhalten ließe. Wahrscheinlich aber wohl eher nicht. Zu Zeiten von Granny Westward war man ja schließlich noch nicht so sehr auf seine äußere Erscheinung und Eitelkeit fixiert.
Ja nun, das war eben ihr Körper, er war alles, was sie hatte, und sie fühlte sich wohl darin. Und außerdem schien Joel mit ihr ja mehr als zufrieden gewesen zu sein.
Verschmitzt lächelnd zwinkerte sie ihrem Spiegelbild zu. Nachdem sie ihre Augen mit Kajal und einer Spur Wimperntusche umrandet und Lippenstift aufgetragen hatte, besprühte sie sich leicht mit Opium. Es war genau das richtige Parfüm für die Hochzeit gewesen – jetzt am Morgen als Duftnote wahrscheinlich zu schwer, aber immer noch verführerischer als Hafermehl.
Mitzi schlüpfte wieder in den Pullover und öffnete die Badezimmertür. Joel schlief immer noch. Die Badezimmeraktivitäten hatten ihn nicht geweckt. Sie hätte gerne den kleinen Wasserkocher in Gang gesetzt und Kaffee gekocht, wollte ihn aber nicht stören. Stattdessen setzte sie sich auf das breite Fensterbrett und betrachtete den Schnee.
Die Hauptstraße war kaum wiederzuerkennen in ihrem neuen, silbrig glitzernden weißen Gewand. Irgendwo in der Ferne röhrte ein Schneepflug, und freudiges Kindergeschrei tönte durch die Stille. Die Kirchenglocken von Hazy Hassocks stimmten ihr Festtagsgeläut an. Dem Pfarrer war es wohl gelungen, sich einen Weg durch den Schnee zu bahnen. Mitzi fragte sich, wie viele Schäfchen seiner Einmal-im-Jahr-Gemeinde es an diesem Morgen wohl schaffen würden, durch die Märchenlandschaft schlitternd zur Kirche zu kommen, um für das Wunder vor all den Jahren Dank zu sagen?
Doch wenn dieser Morgen himmlisch war, so war die vergangene Nacht reine Magie gewesen.
Joel hatte mit ihr zu »Witchcraft« getanzt, und sie hatten sich hemmungslos dicht aneinandergeschmiegt zur Musik bewegt. Sie war so glücklich gewesen wie noch nie im Leben. Doll und Lu hatten ihnen beim Tanzen zugesehen und breit gegrinst. Und als Joel später, mitten während »Do You Believe In Magic?« in Richtung Bar verschwunden war und mit Otto und Boris etwas nicht zu Verstehendes besprochen hatte, war Mitzi einfach davon ausgegangen, dass er nur noch mehr Champagner bestellte.
Sie war völlig überrascht gewesen, als er ihr die Hand reichte und sie von der wilden Party im Schankraum fort unter niedrigen Deckenbalken durch die knarzenden Flure des Faery Glen geführt hatte.
»Hat uns irgendwer hinausgehen sehen?«, hatte er lächelnd gefragt.
Sie hatte den Kopf geschüttelt.
»Gut.«
Noch immer Hand in Hand hatten sie die enge eichengetäfelte Treppe erklommen, und Joel hatte am Ende des Korridors eine Tür aufgeschlossen.
Das Schlafzimmer – weiße Wände mit von dunklen Balken durchzogener niedriger Decke und eingerichtet in sattem Pflaumenblau und Creme – wurde von winzigen Lampen erhellt.
»Oh!« Erstaunt hatte Mitzi sich das üppig dekorierte Himmelbett angesehen. »Oh …«
»Es ist nicht die Hochzeitssuite«, hatte Joel mit leicht besorgtem Blick erklärt. »Die haben Otto und Boris für das glückliche Brautpaar reserviert, falls die beiden es sich noch anders überlegen. Aber dies hier tut es auch, oder?«
Unfähig, etwas zu sagen, hatte Mitzi genickt.
Joel hatte sie an sich gezogen. »Ich hatte reichlich Zeit, darüber nachzudenken, warum du – ich meine wir – nun ja, was nach unserem Abend bei Lorenzo schiefgegangen war.«
»Es war mein Fehler. Ich habe mich albern benommen und hätte dir erklären sollen -«
»Keine Entschuldigungen.« Joel hatte sich zu ihr herabgebeugt und sie zärtlich geküsst. »Nicht jetzt. Ich war an dem Abend auch nicht besonders glücklich über die Aussicht, von Lulu und Shay gestört zu werden. Ich wollte auch, dass es etwas Besonderes ist. Nur war mir in der Hitze des Augenblicks der Wunsch nach dem Besonderen dann wohl irgendwie entfallen – wie wir Männer eben so sind.«
Mitzi hatte die Arme um seinen Hals geschlungen. »Ich dachte, du hättest geglaubt, ich wollte dich einfach nicht.«
»Ja, hab ich auch. Eine ganze Zeit lang. Natürlich war es dein gutes Recht, es dir anders zu überlegen, aber ich habe mich doch gefragt, was ich falsch gemacht hatte. Nichtsdestotrotz«, und wieder hatte er sie geküsst, »bin ich ein dickköpfiger Kerl, und ich wollte dich immer noch, und weil ich dich liebte, konnte ich nicht einfach fortgehen und dich vergessen, auch wenn ich es wirklich mit aller Kraft versucht habe. Und nun möchte ich mein ungehobeltes Macho-Getue wiedergutmachen.«
»Ich danke dir – es ist fantastisch!« Mitzis Blick war durch das Zimmer gewandert und ruhte dann wieder auf seinem schönen Gesicht. »Ich habe dich gar nicht verdient. Ich – ich wollte, dass jene Nacht etwas Besonderes wäre … aber es war auch noch etwas anderes im Spiel …«
»Was denn zum Beispiel?«
»Ach, so Dummheiten wie, dass ich nicht auf ein flüchtiges Abenteuer aus war und nicht riskieren wollte, verletzt zu werden und -«
»Ich meine es wirklich ernst mit dir«, hatte Joel gesagt. »Was mich betrifft, gilt es für immer und ewig. Auch ich bin festen Beziehungen aus dem Weg gegangen aus Angst, verletzt zu werden. Auch für mich war es ein großes Risiko, mich auf dich einzulassen. Aber ich war bereit, es einzugehen, weil ich dich so sehr liebe.«
Mitzi schluckte. »Und der Altersunterschied …? Was, wenn du dir mit einer neuen Partnerin Kinder wünschst? Was, wenn -?«
»Das Leben ist voll von Was-wenn-Fragen, Mitzi. Aber das Leben ist auch sehr kurz. Wenn sich einem die Chance auf Glück bietet, sollte man sie durch Grübeleien über Was-wenn nicht verspielen. Der Altersunterschied ist nur gering und vollkommen unwichtig. Und nein, ich habe mir noch nie Kinder gewünscht. Und jetzt hör auf, dich zu entschuldigen. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch!«, hatte sie geseufzt, voller Erleichterung und Liebe und reinem Glück. »So sehr …«
Dann hatte er sie geküsst, und sie hatte ihn geküsst, und Kleider waren zu Boden geglitten in Eile und Lust und hitziger Leidenschaft, und alles andere war unwichtig geworden. Gar nichts hatte mehr eine Rolle gespielt.
Undeutlich erinnerte sich Mitzi, dass sie sich vorgenommen hatte, ihm eines Tages von »Amoureuse« zu erzählen, als sie auf die bauschige Federdecke des Himmelbetts gesunken waren. Eines Tages.
»Guten Morgen.«
Die glückseligen Erinnerungen an die vergangene Nacht verblassten, und rasch wandte sie sich vom Fensterbrett ab. »Dir auch einen guten Morgen.«
Joel setzte sich im Bett auf und sah wie alle Männer nach einer leidenschaftlichen Nacht absolut hinreißend aus. Es war einfach nicht fair, dachte Mitzi, dass Frauen am Morgen danach immer so mitgenommen wirkten, während Männer …
»Du siehst umwerfend aus.« Er schwang sich aus dem Bett und tappte zu ihr. »Geh wieder ins Bett, ich mache uns Kaffee. Ach – trinkst du eigentlich morgens lieber Kaffee oder Tee?«
»Kaffee«, erwiderte Mitzi kichernd, als er sie küsste. »Ist das nicht wunderbar?«
»Wunderbar«, stimmte Joel zu und sah aus dem Fenster. »Ebenso wunderbar wie das da draußen. Und das hier …«
Sie lief zum Bett zurück, zog den Pullover aus und schüttelte die Kissen auf. Dann schmiegte sie sich unter die Decken und beobachtete ihn voller Liebe und Begehren.
Der Kaffee war überraschend stark und heiß. Sie schafften es, ihn aneinandergekuschelt zu trinken und dabei fast nichts zu verschütten.
Irgendwo weit unten im Faery Glen waren Otto und Boris schon auf und machten Frühstück. Der köstliche Duft von gebratenem Speck zog durch die Bodendielen nach oben.
»Frühstück …« Joel küsste ihr feuchtes Haar. »Wünschen Madame das Frühstück im Bett einzunehmen?«
»Unbedingt!« Sie strahlte ihn an. »Und bevor das ganze Dorf da unten aufwacht und hier heraufgerannt kommt.«
»Ein klein bisschen wirst du allerdings noch warten müssen. So oder so, die Tür ist abgesperrt, und ich habe beide Schlüssel. Du bist mir bedingungslos ausgeliefert.«
»Oh, wie gut … Ich frage mich, ob Doll und Brett es für ihre Flitterwochen bis zum New Forest schaffen werden. Und ob unser Weihnachtsessen für die Armen und Einsamen überhaupt stattfinden kann, und -«
»Das kannst du alles später noch herausfinden.« Joel nahm ihr sanft die Kaffeetasse aus der Hand. »Nichts ist unmöglich, wie du sehr wohl weißt. Nicht für dich. Aber könnten wir vorher bitte noch sicherstellen, dass die letzte Nacht nicht nur Folge irgendeines heidnischen Zaubers war, mit dem du mich belegt hast?«
»Das sollten wir unbedingt«, seufzte sie selig und schmiegte sich an ihn, während er sie zu sich zog und sie küsste. »Ach, und fröhliche Weihnachten!«
»Fröhliche Weihnachten, Mitzi Blessing …«