8. Kapitel
Überredungstörtchen
Eine Tasse Vollkornmehl
Ein halbes Dutzend große Eier
Ein Stück beste Butter
Gehackte Nelkenblütenblätter
Eine Prise getrockneter Enzian
Eine gute Handvoll gehackter Ingwer
Schwarze Trauben, geschält und gewürfelt
Eine großzügiges Maß brauner Zucker
Drei Esslöffel schwarzer Rübensirup
Eier, Mehl und Butter in einer großen Schüssel zu
einem geschmeidigen Teig verrühren.
Nelkenblüten, Enzian und Ingwer hinzufügen.
Erneut durchrühren.
Zucker und Rübensirup einarbeiten.
Trauben dazugeben.
Mischung in kleine Muffinförmchen geben und bei
starker Hitze backen, bis sie aufgegangen und dunkelbraun geworden
sind. Aus den Förmchen nehmen und einzeln auf einem Gitter abkühlen
lassen.
Beachte: Um die Überzeugungskraft zur vollen
Entfaltung zu bringen, muss die Bäckerin der Plätzchen (und niemand
sonst) denjenigen, der sie isst, im Stillen beschwören, sich ihrem
Willen zu beugen. Es handelt sich hier um einen starken
Kräuterzauber, der nur mit den besten Absichten angewandt werden
darf.
Es war ein Tollhaus. Alle redeten wild
durcheinander. Mitzi stand auf der Bühne hinter einem wackeligen
Holztisch, dessen zahlreiche Einkerbungen nicht nur verkündeten,
dass Dave Kirsty »4ever« liebte, sondern auch eine schlimme Zote
über den Pfarrer umfassten, und äugte mit wachsender Nervosität in
den Zuschauerraum des Gemeindesaals von Hazy Hassocks hinab.
Aufgrund der dunkelgrauen Wolken und des heulenden
Sturmwinds draußen sowie der spärlich verteilten 40-Watt-Birnen war
es drinnen stockfinster. Die Halle war randvoll mit Leuten, von
denen vermutlich die Hälfte nur gekommen war, um sich ein bisschen
aufzuwärmen und eine Tasse Tee zu trinken, aber immerhin.
Die Überredungstörtchen standen in mehrere
Tupperdosen verpackt hinter Mitzis Stuhl. Sie wusste nicht, ob sie
sich auf ihre Wirkung verlassen konnte. Die Ereignisse nach dem
Wünsch-dir-was-Auflaufließen sich leicht erklären, aber Flos
wundersamer Geisteswandel gegenüber Lance? Gab es dafür irgendeine
rationale Erklärung? Mitzi atmete aus. Als sie gegangen war, hatten
sie Nase an Nase über den Küchentisch gebeugt dagesessen und
gekichert wie Schulkinder.
Womöglich waren Granny Westwards Kräutermischungen
weitaus wirksamer, als sie sich je hätten träumen lassen. Und
vielleicht sollte sie das Rezeptbuch lieber wieder auf den
Dachboden verbannen, wo es hingehörte. Vielleicht sollte sie –
ach, darüber würde sie später nachdenken. Jetzt hatte sie
Wichtigeres zu tun.
»Entschuldigung!« Mitzi räusperte sich nervös.
»Darf ich um eure Aufmerksamkeit bitten?«
Niemand nahm auch nur die geringste Notiz von ihr.
Das Meer aus Köpfen plapperte ungerührt weiter. Aufgrund der
schlechten Beleuchtung konnte Mitzi die Gesichter derer, die mehr
als vier Reihen weiter hinten saßen, nicht erkennen, doch sie
entdeckte alle ihre Freunde aus der Bücherei. Der Filzhutmann saß
zusammen mit Sally, June, Mick und den anderen ganz vorne. Er hatte
sich den Hut bis zu den Augenbrauen ins Gesicht gezogen und hielt
ein reichlich einschüchternd wirkendes Klemmbrett auf den Knien.
Mitzi hoffte, er würde keine peinlichen Fragen stellen.
Es waren viele Fremde da, vermutlich unter anderem
die Leute, die auf ihren Aushang reagiert hatten und mit denen sie
telefoniert hatte. Wer von ihnen war wohl Christopher – Feuerwerk
und Heavy Metal? Und Dorothy – Snooker? Doch der aufwändig
zurechtgemachte Transvestit musste jedenfalls Ronnie sein –
exotische Tänze.
Seltsamerweise saßen die Banding-Schwestern
ebenfalls in der ersten Reihe. Sie hielten kleine, in Alufolie
gehüllte Päckchen auf dem Schoß und trugen grell violette
Fahrradhelme. Mitzi wich ihren Blicken aus.
Sie räusperte sich und schlug mit der Faust auf den
Tisch. »Entschuldigung! Darf ich um etwas Ruhe bitten?«
Das Geplapper erstarb, und sämtliche Köpfe wandten
sich ihr zu. Ein paar Leute winkten.
»Danke«, sagte Mitzi leise. Mein Gott, war sie
nervös. Ihr Mund war trocken, und um ihre Lippen hatte sich eine
Art
nervöses Zucken ausgebreitet. Wahrscheinlich sah sie aus wie ein
schlechter Elvis-Imitator. »Schön, dass ihr alle da seid. Ich bin
Mitzi Blessing, und da ja alle wissen, warum wir heute hier sind,
komme ich gleich zum Wesentlichen …«
»Offen gestanden, Mitzi, weiß ich nicht, warum wir
hier sind«, rief Lavender mit strahlendem Lächeln aus der ersten
Reihe. »Und Lobelia auch nicht. Wir sind nur Mrs Lovestick gefolgt.
Wir dachten, es könnte ein Zeichenspiel geben, wie donnerstags im
Hinterzimmer vom Faery Glen, wenn wir unsere Renten abgeholt
haben.«
»Das ist mittwochs«, sagte jemand weiter hinten.
»Oder vielleicht sogar dienstags.«
»Nein, dienstags ist Housey-housey. Bingo ist
donnerstags.«
»Bingo ist das Gleiche wie Housey-housey,
Dummerchen! Und es ist donnerstags.«
»Es wäre aber besser, wenn Housey-housey freitags
wäre.«
»Freitags ist Whist-Turnier. Schon immer!«
»Entschuldigung!« Mitzi schrie fast, um die
Anwesenden zu übertönen. »Können wir uns vielleicht auf den
eigentlichen Grund unseres Hierseins konzentrieren? Vielen
Dank.«
Einige Leute sahen sie finster an. Sie ignorierte
sie.
»Gerade wurden die Veranstaltungen genannt, die es
im Pub gibt und die ja ebenfalls sehr willkommen sind. So etwas
wollen wir doch auch hier in Gang setzen, oder?«
Eisiges Schweigen. Offensichtlich nicht.
»Nein, also, ich meine natürlich nicht das Gleiche
…« Sie hielt inne. Ihre Handflächen waren feucht, und sie kam ins
Stocken. »Nein, wir wollen selbstverständlich nicht wiederholen,
was Otto und Boris im Pub anbieten. Das kennen die meisten von euch
sowieso schon.«
Der Filzhutmann schwenkte sein Klemmbrett. »Genau.
Die Sachen im Faery Glen sind doch höchstens was für senile
Grauköpfe, die bloß noch herumschlurfen und ein bisschen beim Bingo
mitmachen können, aber einige von uns wollen mehr als das.«
»Entschuldigung!« Lobelia ließ einen bösen Blick
die erste Reihe entlanggleiten. »Wen meinen Sie denn mit senilen
Grauköpfen?«
»Wem der Schuh passt …«
»BITTE!« Mitzi schlug erneut auf den Tisch und
blätterte ihre Papiere durch. »Liebe Anwesende! Ich habe hier eine
Liste, auf der steht, wer sich wofür interessiert, und noch eine
zweite Liste, auf der steht, wer von euch welche Fertigkeiten
lehren kann. Und auf dieser Liste« – sie hielt ein drittes Blatt in
die Höhe – »habe ich Querverbindungen aufnotiert, damit ihr euch zu
Gruppen sammeln und in Lehrende und Lernende aufteilen
könnt.«
Falls sie Beifallsstürme erwartet hätte, wäre sie
bitter enttäuscht worden, denn alle starrten sie nur an.
»Das klingt aber ein bisschen kompliziert, Mitzi,
wenn ich das mal sagen darf.« Lavender rückte ihren Fahrradhelm
zurecht. »Und von hier unten kann ich überhaupt nicht lesen, was
auf dem Blatt steht.«
»Ich habe Kopien für alle gemacht.« Mitzi war den
Tränen nahe. »Die wollte ich ohnehin verteilen – und es ist
überhaupt nicht kompliziert. Zum Beispiel stehen hier all die
Leute, die Gesellschaftstänze lernen wollen, und auf der zweiten
Liste stehen die, die es können und bereit sind, es zu
unterrichten, und hier« – sie wies auf ein drittes Blatt – »stehen
die Namen der Leute aus beiden Gruppen, damit ihr euch findet. Das
Gleiche gilt für diejenigen, die eine Fußballmannschaft gründen
wollen -«
»Ja, ja, wir haben schon verstanden«, fiel ihr der
Filzhutmann ins Wort. »Teil einfach die Blätter aus, dann erledigen
wir den Rest.«
Mitzi warf ihm einen dankbaren Blick zu. Vielleicht
hatte es doch etwas für sich, einen herrschsüchtigen kleinen
Diktator in der Gruppe zu haben.
In den geordneten Sitzreihen brach das Chaos aus,
als die Blätter herumgingen. Die Leute erhoben sich von ihren
Stühlen und plärrten über die Köpfe der anderen hinweg. Mit
zunehmender Beklemmung musterte Mitzi das Durcheinander. Im
Nachhinein betrachtet, wäre es weitaus vernünftiger gewesen, allen
Namensschilder zu geben.
»Lavender setzt in der Küche schon mal Wasser auf«,
rief Lobelia zur Bühne hinauf. »Wir wollen uns ohnehin für nichts
einschreiben. Und wir haben unsere eigenen Sandwiches dabei, falls
du das Essen vergessen hast.«
Mitzi sah auf das Alupäckchen hinab. Fischpaste.
Darauf hätte sie ihr Leben verwettet.
»Käsesalat«, erklärte Lobelia. »Natürlich furchtbar
kostspielig, aber Shay sagt, es sei wichtig, sich ausgewogen zu
ernähren. Als Sanitäter muss er es ja wissen. Nimm dir doch mal ein
Beispiel an ihm, Mitzi. Du siehst ziemlich abgespannt aus, und dein
Teint ist ganz gelb. Du hast doch nicht in einsamen Stunden zur
Flasche gegriffen, oder? Wahrscheinlich schrumpft deine Leber bald
auf Walnussgröße zusammen. Wir kennen uns mit Alleinsein aus,
Mitzi, besser als alle anderen. Jetzt, wo wir den jungen Shay
haben, hat sich unser Leben allerdings komplett gewandelt. Du
solltest dir auch einen besorgen.«
Einen Sanitäter als Untermieter? Keine schlechte
Idee.
»Wo sind denn die Kekse?« Lavender hatte sich zu
Lobelia
gesellt. »Ich habe Tee gemacht, Teller und Deckchen bereitgelegt
und die Tassen aufs Tablett gestellt, doch es waren keine Kekse
da.« Vorwurfsvoll sah sie Mitzi an. »Du hast doch an Kekse gedacht,
oder, meine Liebe? Wir wissen, wie leicht man Kleinigkeiten
vergisst, wenn das Gedächtnis nachlässt.«
»Hier -« Mitzi fasste hinter ihren Stuhl, griff
sich ein paar der Tupperbehälter und gab sie herum. »Es sind nicht
direkt Kekse – eher eine Art Törtchen.«
»Oooh, herrlich …«
»Ihr könnt jede eines nehmen, aber dann gebt ihr
die Dose weiter, wenn ihr den Tee bringt«, sagte Mitzi. »Sie sind
nicht alle nur für euch beide.«
Gott weiß, was passiert wäre, wenn die Bandings
sich Granny Westwards mysteriöse Mixtur komplett einverleibt
hätten.
»Warum tragt ihr eigentlich drinnen Fahrradhelme?
Habt ihr auch daran gedacht, eure Fahrräder abzuschließen? Ihr
wisst ja, wie die Jugendlichen hier so sind.«
»Grundgütiger«, gluckste Lavender, »wir sind doch
nicht mit dem Fahrrad gekommen, Mitzi. In unserem Alter? So weit
kommt’s noch! Nein, wir sind zu Fuß gegangen.«
»Warum habt ihr dann …«
»Weil Shay gesagt hat, dass sie unerlässlich sind«,
erwiderte Lobelia mit bedeutungsschwangerer Miene. »Er hat gesagt,
er war bei einem Katamaran, und da sei ein kleiner Junge schwer
verletzt worden, weil er keinen Helm getragen hat und -«
»Sie meint eine Karambolage«, korrigierte Lavender.
»Sie ist ein hoffnungsloser Fall, was Fremdwörter angeht. Aber der
junge Shay hat wirklich gesagt, dass alle Fahrradhelme tragen
müssen. Immer.« Sie strahlte Mitzi an. »Du musst dir auch einen
besorgen, meine Liebe. Er würde dir stehen.«
»Bitte reicht die Törtchen herum«, flehte Mitzi.
»Und passt auf, dass keiner mehr als eines nimmt.«
Das Gedränge, das daraufhin im Saal entstand,
ähnelte dem auf einem Rockkonzert, nur ohne die Musik.
Lav und Lob, die den Aufruhr wie immer genossen,
huschten durch die Menge, schenkten Tee aus und verteilten die
kleinen dunkelbraunen Törtchen. Die Erfrischungen schienen besser
anzukommen als die Organisation.
»Ach du lieber Heiland«, murmelte Mitzi und ließ
sich auf den Stuhl sinken. »Lass dies nicht schon wieder ein
typisches Hazy-Hassocks-Desaster werden. Lass sie ein einziges Mal
mit sich selbst zurechtkommen.«
Sie wusste nicht genau, was sich verändert hatte
und wann oder wie es geschehen war, doch es war passiert. Das
Gewusel im Saal hatte nachgelassen. Der Lärm war nicht mehr ganz so
ohrenbetäubend. Und die wogende Masse hatte sich wie von Zauberhand
in ordentliche Grüppchen sortiert, die in der Düsternis des
Gemeindesaals wie bunte Tupfen wirkten.
Mann, dachte Mitzi benommen, es funktioniert.
Zwanzig Minuten später funktionierte es immer noch.
Zufall natürlich. Zum zweiten Mal. Natürlich hätten sie das auch
ohne die Überredungstörtchen geschafft. Selbstverständlich,
oder?
Lavender und Lobelia, denen braune Krümel um die
Oberlippe klebten, hatten sich offenbar dem Kricket-Team
angeschlossen. Das hatte schon mal den Vorzug, dass sie wenigstens
nicht mehr in Schutzhelme investieren mussten.
Der Filzhutmann kam mit einem Packen Blätter in der
Hand auf die Bühne gesprungen. »Sind noch welche von diesen
knusprigen Törtchen übrig, Mitzi? Gingen runter wie
Honig. Nein? Mist. Na gut, so weit sind wir jedenfalls bis jetzt
gekommen …«
Mitzi studierte die Listen. Es schien alles zu
laufen wie geschmiert. Besonders freute sie, dass ihre Freunde aus
der Bücherei sich für verschiedene Aktivitäten eingetragen hatten.
Selbst manche der ausgefalleneren Wünsche von Anrufern waren
offenbar auf Gegenliebe gestoßen. Wenn es im richtigen Leben
genauso gut funktionierte wie auf dem Papier, dann würden die
grauen Panther aus Hazy Hassocks genug finden, worauf sie sich
stürzen konnten. Der Fitte-Fünfziger-Club war – toi, toi, toi – auf
Anhieb voll angelaufen. Ihr war absolut schleierhaft, warum niemand
zuvor auf die Idee gekommen war. Jetzt brauchten sie nur noch
wöchentliche Treffen zu organisieren, um die Details abzusprechen
und alles Weitere in die Wege zu leiten. Mittwochnachmittag wäre
günstig. Sie würde es später vorschlagen.
Mitzi strahlte den Filzhutmann an. »Das sieht
wirklich super aus. Jetzt müssen wir nur noch einen Termin für
Aktualisierungen und sonstige Veränderungen festlegen und den
Gemeindesaal als Unterrichtsraum reservieren, sagen wir für jede
Disziplin ein- oder zweimal die Woche, und dann brauchen wir
natürlich noch einen geeigneten Ort für die sportlichen
Aktivitäten.«
»Snepps Fields wäre ideal.«
Mitzi verzog das Gesicht. Snepps Fields kam
überhaupt nicht infrage. Tarnia überwachte bereits die Nutzung des
Gemeindesaals so argwöhnisch und missgünstig wie ein Zerberus. Sie
zu überreden, den Pöbel auf ihren Wiesen grobe Spiele treiben zu
lassen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit.
Ȇberlass das nur mir. Ich muss ohnehin mit Tarnia
über die ganze Sache sprechen.«
»Hauptsache, ich muss es nicht machen«, sagte der
Filzhutmann düster. »Und wenn du es nicht bereits mit ihr
abgesprochen hast, können wir ohnehin gleich einpacken. Die alte
Kuh hat schon immer alles im Keim erstickt, was wir vorgeschlagen
haben.«
»Ich weiß, aber -«
»Aber nichts.« Der Filzhutmann sah ausgesprochen
missmutig drein. »Was soll es denn bringen, ihnen erst alle
möglichen Hoffnungen zu machen« – er ruckte mit dem Kopf in
Richtung Zuschauerraum -, »nur um ihnen dann zu sagen, dass sie
weder tanzen noch ein Feuerwerk abbrennen noch Fußball spielen noch
eine Heavy-Metal-Band gründen dürfen -«
»Sie wollen eine Heavy-Metal-Band gründen?«, fiel
ihm Mitzi ins Wort. »Ehrlich? Ist ja toll!«
»Ja, aber wir können ihnen genauso gut gleich
sagen, dass sie sich die Mühe sparen sollen … ebenso wie der
Tanzgruppe … oder den Leuten, die ein Musical einstudieren wollen
…«
Mitzi stöhnte leise. Es klang alles so herrlich.
Eine Revolution der über Fünfzigjährigen … Doch wenn sie Tarnia
nicht dazu überreden konnte, sie die Räume und Anlagen nutzen zu
lassen, würde alles sang- und klanglos untergehen, und es wäre ihre
Schuld, dass sie den anderen grundlos Hoffnungen gemacht hatte und
… Sie sah auf die Bühne. Eine versprengte Tupperdose stand noch
hinter dem Stuhl. Sie schmunzelte. Konnte sie? Sollte sie?
Tja, warum nicht? Einen Versuch war es doch wert,
oder?
»Überlass das nur mir«, sagte sie fest. »Ich gehe
zu Tarnia, sobald wir hier fertig sind. Es geht alles klar, du
wirst schon sehen.«
Als sie eine Stunde später in ihrem Mini vor
Tarnia Snepps’ Haus am Ortsrand von Hazy Hassocks saß, war Mitzi
ganz und gar nicht mehr so selbstsicher. Sie hatte den Gemeindesaal
wie eine siegreiche Heldin verlassen, nachdem sich alle so darüber
gefreut hatten, wie gut die Fitten Fünfziger vorangekommen waren.
Und jetzt verließen sich alle darauf, dass sie ihnen die Nutzung
des Gemeindesaals und des Freigeländes mit sämtlichen Einrichtungen
sicherte, damit sie ihre Pläne umsetzen konnten. Es hing alles von
ihr ab – und von Tarnia Snepps.
Mitzi spähte in der einsetzenden Dämmerung auf die
überdimensionierte Einfahrt der Snepps’ und seufzte schwer.
Als selbsternannte Gutsherrin von Hazy Hassocks
Manor hatte sich Tarnia in einer Monstrosität eingerichtet, die
eher zum schlechten Geschmack eines neureichen Fußballstars gepasst
hätte. Mit mehr Geld als Verstand und noch mehr größenwahnsinnigen
Ideen ausgestattet, hatte sie die jahrhundertealten Herrenhäuser
und Landgüter in der Umgebung verschmäht und sich stattdessen ihre
eigene Palastresidenz erschaffen.
Raumgreifend wie die Southfork Ranch am Ende einer
mit bunten Kieseln bestreuten Einfahrt gelegen, prunkte der Bau mit
Stuckaturen und Zinnen, Schnörkeln und Simsen, während an allen
Ecken pausbäckige Engel blaues Wasser spien. Es gab moderne
Sprossenfenster, vergoldete Löwen, Blumenbeete, die noch Ende
Oktober neonbunt leuchteten, sowie ein richtig geschmackloses
schmiedeeisernes Tor.
Mitzi legte die Tupperdose in ihren Korb, verließ
fröstelnd den heimelig warmen Innenraum ihres Minis und näherte
sich der Sprechanlage. Eine eisige Bö nahm ihr den Atem.
»Tarnia«, rief sie in die Sprechöffnung, »hier ist
Mitzi. Hast du einen Moment Zeit, bitte?«
Nach lautem Knistern dröhnte eine ausländisch
klingende Stimme in den düsteren Nachmittag. »Miessis Snepps ist
niecht zu Chause.«
Mitzi grinste. »Ich weiß, dass du es bist, Tarnia.
Du hattest noch nie eine Ahnung von Akzenten. Mach das blöde Tor
auf.«
»Nein. Miessis Snepps ist niecht fier jeden zu
spreechen.«
»Wie du meinst.« Mitzi fröstelte erneut. »Aber
vergiss nicht, dass ich alles über Duncan Didsbury und das
Erdbeerjogurt weiß.«
»Verdammt noch mal, Mitzi Blessing!« Die Stimme
verlor ihr osteuropäisches Flair. »Aber nur fünf Minuten – nicht
länger.«
Mitzi lief im schneidenden Wind zum Auto zurück,
während zur Melodie von »Big Spender« langsam die schmiedeeisernen
Tore aufgingen, und wappnete sich für den bevorstehenden
Kampf.
In einem goldsamtenen Jogginganzug Größe 34 mit
dazu passenden Goldfransen-Pantöffelchen öffnete Tarnia selbst die
Tür, was Mitzi nicht weiter verwunderte.
Die Snepps hatten kein ständiges Personal mehr.
Nachdem sich ihr Ruf in Au-pair-Kreisen wie ein Lauffeuer
verbreitet hatte, mussten sie sich über Agenturen Leute besorgen,
die dann eine oder zwei Schichten bei ihnen ableisteten, ehe sie
die Flucht ergriffen. Selbst die verzweifeltste und abgebrannteste
Hausangestellte in spe machte einen weiten Bogen um die Snepps.
Immerhin halfen einige der tollkühnsten Dorfbewohner aus, wenn die
Snepps’ Partys gaben – aber nicht oft.
»Schön, dich zu sehen«, sagte Mitzi mit strahlendem
Lächeln. »Sehr nett …«
»Komm rein und spar dir die Höflichkeiten«, knurrte
Tarnia. »Du weißt, dass ich dich nicht ausstehen kann.«
»Gleichfalls.« Mitzi lächelte erneut, als sie die
in Weiß, Gold und Pink ausgestaltete Diele betrat, ein Sinnbild des
schlimmsten Protzes, den man mit Geld kaufen konnte.
Eigentlich hätte selbst Tarnia einsehen müssen,
dass Brunnen und Statuen am Fuß der Treppe ein wenig übertrieben
waren. Vor allem ein Brunnen mit einem Hermaphroditenkind, das von
einem Delphin pinkelte.
Mit ihrem kurzen, rabenschwarzen Haar, das Justin
von Rip-Off Hair-Care zu bösartig abstehenden Stacheln gestylt
hatte, den von zu viel Botox regelrecht aufgerissenen Augen und der
durch Bräunungsspray in einem gleichmäßigen Orangeton gefärbten
Haut wirkte Tarnia wie sechzehn. Egal, wofür sie auch sonst Geld
hinausgeworfen hatte, dachte Mitzi, die kosmetischen Operationen
waren jeden Penny wert gewesen. Man sah nicht einmal die
Nahtstellen.
»Sollen wir in die Bibliothek gehen?«, fragte Mitzi
vorsichtig.
»Küche«, fauchte Tarnia und bahnte sich mit lautem
Klacken den Weg über den pinkfarbenen Marmorfußboden.
Mitzi folgte ihr und bemühte sich, die in
Barbiepink gerahmten deckenhohen Spiegel ebenso zu übersehen wie
das neu eingebaute Buntglasfenster, das das Treppenhaus dominierte
und die Familie Beckham ganz privat darstellte.
»Gut.« Tarnias Stimme hallte aus den Tiefen einer
riesigen in Chrom und Glas eingerichteten Küche, in der noch
weniger gekocht worden war als bei Mitzi. »Bringen wir’s hinter
uns. Marquis wird bald nach Hause kommen.«
Mitzi konnte ein Kichern nicht ganz unterdrücken.
»Oh,
tut mir leid. Ist mir so rausgerutscht. Aber mich kennst du noch,
Tarnia, oder?«
Tarnia funkelte sie an. »Genau deshalb will ich
dich ja nicht in meinem Haus haben. Aber vermutlich ist selbst das
noch besser, als wenn du unten an meiner Einfahrt stehst und Gott
und der Welt lauthals meine Privatangelegenheiten verkündest. Also,
was willst du?«
»Eine Tasse Tee wäre schön, vielen Dank.« Mitzi
schob sich ungelenk auf die Kante eines Sitzmöbels, dessen Design
von Terence Conran hätte stammen können. »Ich habe Kuchen
mitgebracht.«
»Ich darf keinen Kuchen essen. Atkins-Diät. Keine
Kohlenhydrate.« Tarnia musterte Mitzi vom Scheitel bis zur Sohle.
»Etwas, wovon du offenbar noch nie gehört hast. Du brauchst ja
mindestens Größe 38. Tja, in deinem Alter lassen sich viele ganz
schön gehen. Nein, tut mir leid. Keine Kohlenhydrate.«
Mist. Mitzi versuchte sich ihre Enttäuschung nicht
anmerken zu lassen. »Oh, die Törtchen haben aber ganz wenig
Kohlenhydrate, da ist kaum etwas drin … Und sie schmecken köstlich
…«
Sie leerte die restlichen Überredungstörtchen auf
den makellos sauberen Tresen. Sie rochen immer noch würzig und
warm. Tarnia, die offenkundig eine sehr strenge Diät hielt, wandte
sich von dem transparenten Wasserkocher ab, in dem sie gerade das
Teewasser kochte, und wurde auf der Stelle schwach.
»Oh, die sehen aber – ähm – ich meine … nun ja,
eines könnte ich vielleicht – bevor Marquis nach Hause kommt und
-«
»Hör in Gottes Namen auf, ihn Marquis zu nennen«,
sagte Mitzi kichernd. »Das kann ich einfach nicht ernst nehmen.«
Tarnia zog einen Flunsch und zog die Hand zurück,
die bereits über den Törtchen geschwebt hatte. »Wie oft muss ich
dir noch sagen, dass wir uns weiterentwickelt haben, Mitzi. Marquis
und ich. Wir möchten nicht daran erinnert werden -«
»Nein, natürlich nicht.« Mitzi begriff, dass sie
regelrecht zu Kreuze kriechen musste, wenn Tarnia das
Überredungstörtchen essen sollte. »Das vergesse ich immer wieder.
Entschuldige.«
Schon milder gestimmt, bereitete Tarnia den Tee in
einer transparenten Teekanne und stellte sie mitsamt transparenten
Tassen auf ein transparentes Tablett. Milch und Zucker waren
nirgends zu sehen. Oh weh.
Es war alles ganz anders als in ihrer Jugend.
Damals hatten sie und Tarnia in der Sozialsiedlung an der Bath Road
am Rand von Hazy Hassocks beinahe Tür an Tür gewohnt. Sie waren in
der Oberschule in Winterbrook in dieselbe Klasse gegangen und
hatten beide davon geträumt, Sekretärin bei einer Plattenfirma zu
werden und Marc Bolan zu heiraten.
»So.« Tarnia klemmte ihren winzigen Körper auf
einen der sonderbaren Stühle. »Was willst du?«
Mitzi schob ihr die Törtchen hin und versuchte eine
neutrale Miene zu wahren, während sie Tarnia vom
Fitte-Fünfziger-Club erzählte.
»Ausgeschlossen«, sagte Tarnia zugeknöpft, als sie
fertig war. »Kommt nicht infrage. Unter keinen Umständen.
Verstanden? Und jetzt kannst du gehen.«
Nein, das konnte sie nicht. Die Törtchen waren nach
wie vor unberührt. Mutig nippte Mitzi an der Tasse mit dem
transparenten Tee.
Guter Gott! Domestos!
»Earl Grey«, erklärte Tarnia. »Keine billigen
Teeabfälle in Beuteln aus dem Supermarkt.«
»Köstlich.« Mitzi lächelte tapfer. »Aber warum
lässt du die Leute den Gemeindesaal und die Grünanlagen nicht
-«
»Tu ich doch. Erst diesen Sommer hat Marigold
Soames-Hartley die Hochzeit ihrer Belinda in mehreren Zeltpavillons
auf der unteren Wiese gefeiert, und die Pugh-Padgetts halten ihre
Wohltätigkeitsveranstaltungen immer im Gemeindesaal ab und -«
»Aber das sind gar keine richtigen Dorfbewohner!«
Mitzi stellte ihre Tasse ab. »Sie wohnen ja nicht einmal in Hazy
Hassocks.«
»Nein. Genau deshalb dürfen sie die Einrichtungen
ungestraft benutzen. Sie sind die Art von Leuten, mit denen Marquis
und ich jetzt verkehren. Sie sind uns gesellschaftlich ebenbürtig.
Unsere Freunde.«
»Du meinst, sie wissen nicht, dass du in einer
Sozialwohnung an der Bath Road aufgewachsen bist oder dass dein
Vater Busfahrer war oder dass … dass Marquis in seiner Schule als
Schnösel-Mark bekannt war und sein Vater heute noch Milchmann in
Winterbrook ist und seine Mutter bei Tesco arbeitet … Oder -«
»Genau!« Tarnias Augen blitzten. »Ganz genau! Und
deshalb will ich auch nichts mit dir zu tun haben! Warum soll ich,
nachdem ich mich aus diesem ganzen Morast hochgearbeitet habe, das
Dorfgesindel an mich heranlassen, dem es einen Heidenspaß machen
würde, mich und meine neuen Freunde – ganz zu schweigen von
Marquis’ Geschäftspartnern – daran zu erinnern, woher wir
ursprünglich kommen? Warum?«
Mitzi seufzte. Sie hatte gewusst, dass Tarnia so
reagieren
würde. So war es schon immer gewesen. Seit Marquis – nein,
verdammt noch mal! – Mark acht Richtige im Toto gehabt und es
geschafft hatte, sein Geld durch klug platzierte Beteiligungen an
Fahrzeugleasingfirmen mit einem Kundenkreis aus multinationalen
Unternehmen zu vermehren und auf dem einzigen anständigen
Grundstück weit und breit den Snepps’schen Palast der
Geschmacklosigkeit zu errichten. Seit sie entdeckt hatten, dass zu
ihrem neu erworbenen Grundbesitz auch der Gemeindesaal
gehörte.
Es war ein ewiger Stolperstein.
Mitzi zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, dass
sich irgendjemand aus der Gruppe auch nur im Geringsten für eure
Vergangenheit interessiert. Selbst diejenigen, die sich daran
erinnern, haben viel dringendere Probleme. Sie wollen lediglich
ihren Ruhestand angenehm gestalten, ihr Gehirn benutzen und
nützliche Mitglieder der Gesellschaft sein. Sie sind in unserem
Alter, Herrgott noch mal – Menschen in den besten Jahren, die es
nicht verdient haben, aufs Abstellgleis geschoben und vergessen zu
werden.«
»Dann hätten sie sich früher darüber Gedanken
machen sollen«, zischte Tarnia, während sie mit den Fingern ein
paar braune Krümel vom Tresen auftupfte, »und rechtzeitig Pläne für
ihre Zukunft geschmiedet haben.«
»So wie du?«
Die Krumen schwebten an einer dünnen orangefarbenen
Fingerspitze und fielen wieder ab. »So wie ich.«
Ach, komm!, dachte Mitzi. Tarnia hatte zeit ihres
Lebens keinen Tag lang richtig gearbeitet. Sie und Schnösel-Mark
hatten Anfang der Siebzigerjahre geheiratet, weil Tarnia schwanger
geworden war. Bis zur Geburt des zweiten Snepps-Babys hatten sie
bei Marks Eltern gewohnt, worauf
ihnen die Stadt eine Mansardenwohnung zugewiesen hatte. Erst als
Tarnia bereits mit dem dritten kleinen Snepps hochschwanger war,
hatte Schnösel-Mark mit seinem Kugelschreiber die richtigen
Kästchen auf dem Totoschein angekreuzt.
»Und wie geht’s den Kindern?« Mitzi schob die
Teetasse weg. Das mit den Törtchen konnte sie getrost vergessen. Es
war mal wieder reine Zeitverschwendung.
»Gut«, antwortete Tarnia kurz angebunden. »Wayne
und Warren sind natürlich Chefs in unserer Firma und wohnen in
Surrey. Sie sind sehr mit ihrem eigenen Leben und ihren Familien
beschäftigt. Wir sehen sie nicht oft.«
»Und Lisa-Marie?«
»Leitet ein eigenes Unternehmen in London. Sie hat
so gut wie nie Zeit, nach Hause zu kommen.«
»Striptease-Lokale, nicht wahr?«
»Nachtclubs!«, fauchte Tarnia. »Nachtclubs. Sehr
elegant. Lisa-Maries Ausbildung als – äh – Tänzerin kam ihr da sehr
zupass.«
»Genau wie die Heirat mit einem ihrer arabischen
Kunden.«
»Raus!« Tarnia umklammerte die Tischkante. »Es gibt
nichts, womit du mich umstimmen könntest. Nichts. Weder rührselige
Geschichten über Hazy Hassocks’ Trauerklöße noch Drohungen oder
Erpressungsversuche! Ich will nicht, dass der Pöbel meinen Saal
oder mein Land benutzt! Verstanden?«
Verdammter Mist, dachte Mitzi wütend. Eine
Beleidigung zu viel.
»Okay. Gut. Ich hätte wissen müssen, dass du für
Vernunft nicht zugänglich bist. Und Mitgefühl war bei dir sowieso
noch nie eine besonders ausgeprägte Eigenschaft, was?« Sie
sammelte die Überredungstörtchen zusammen, ehe sie eines
entzweibrach und sich die eine Hälfte in den Mund schob. »Mmmm –
köstlich … ein Jammer, dass du keines essen darfst. Nein, nein,
werd bloß nicht schwach. Ich möchte auf keinen Fall dafür
verantwortlich sein, dass du auch nur ein Gramm zunimmst …«
Tarnia warf einen sehnsüchtigen Blick auf die
glänzenden braunen Törtchen, ließ ihre schmale orangefarbene Hand
nach vorn schnellen und schlug die glitzernden Nägel in die
krümelige Oberfläche. Mitzi hielt den Atem an. Mit unglaublicher
Geschwindigkeit stopfte sich Tarnia das ganze Teil zwischen die
aufgespritzten Schlauchbootlippen.
Mitzi sah wie gebannt zu. Was in aller Welt tat sie
hier? Es würde doch nie und nimmer klappen. Sie wartete, bis Tarnia
dicke Backen bekam. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Jetzt? Sollte
sie wirklich? Ach, zum Kuckuck, warum denn nicht? Was hatte sie
schon zu verlieren? Selbst wenn es alles nur Luftschlösser
waren.
»Siehst du? Lecker, was? Nimm doch noch eines –
Schnösel-Mark braucht es ja nicht zu erfahren. Ja, sicher, auch
zwei oder drei. So viele du willst …«, sagte Mitzi leise. »Und –
und ich finde, du solltest dir wirklich noch mal überlegen, ob du
dem Fitte-Fünfziger-Club nicht doch erlauben willst, den
Gemeindesaal und die Grünanlagen für seine Aktivitäten zu nutzen.
Meinst du nicht auch?«