23. Kapitel
Schäumende Träume
Zwei Tassen Puderzucker
Eine Tasse feinstes Mehl
Ein halbes Dutzend Eier
Ein Viertelliter frische Schlagsahne
Eine Handvoll gemahlene Walnüsse
Schale, Fruchtfleisch und Saft von zwei
Zitronen
Eine Messerspitze geriebener Ingwer
Eine Handvoll Wolfskraut
Zerstoßene Chinabeeren
Eine Prise Piment
Mehl, Zucker, Eier und Sahne verrühren und
anschließend kühl stellen.
Zitronen, Ingwer, Wolfskraut, Chinabeeren und
Piment vermischen. Mit Mörser und Stößel zerkleinern.
Mit der kalten Creme verquirlen. In gefettete
Pastetenförmchen füllen.
Bei mittlerer Hitze eine Dreiviertelstunde
backen.
Das Äußere der Schäumenden Träume soll knusprig
und mürbe sein, das Innere hingegen weich und cremig.
Beachte: Träume wahr werden zu lassen ist mit dem
richtigen Kräuterzauber ganz einfach. Diese Mischung ist besonders
wirkungsvoll. Schäumende Träume werden nach einem starken
ländlichen Rezept zubereitet, das sich über Generationen hin
bewährt hat. Ob nun laut ausgesprochen oder nur leise gedacht, wird
WIRKLICH WAHR, was man sich beim Essen Schäumender Träume wünscht.
Diese Süßspeise gilt als traditioneller Bestandteil eines
Hochzeitsmahls.
Vielleicht sollten wir versuchen, für deine
Mutter eine Art Liebestrank zu brauen«, sagte Brett, als Doll und
er sich am folgenden Samstagnachmittag unter dem dunkler werdenden
Himmel vor dem Gemeindesaal in die Warteschlange einreihten. »Nach
ihrem Rezeptbuch. Immerhin scheint es bei uns ja gewirkt zu haben –
und auch bei Lu und Shay.«
Doll knuffte ihn unsanft in die Rippen und stampfte
mit den vor Kälte taub werdenden Füßen. »Das ist doch alles
Quatsch, und das weißt du auch. Was immer zwischen Mum und Joel
schiefgelaufen sein mag, reicht leider zu tief, als dass ein paar
Kräuter etwas daran ändern könnten.«
»Aber Lulu sagt, sie hätte so eine Art
Sternschnuppen-Baisers gemacht und sich Shay damit endgültig
geangelt.«
»Ja, stimmt. Lu sagt auch, sie versteht gar nicht,
wieso Mum und Joel sich verkracht haben, wo sie doch an Halloween
an einem echt starken Apfelzauber teilhatten, der wirklich wirken
müsste. Alles Mumpitz. Hab ich doch von Anfang an gesagt.« Sie sah
nach oben zum wolkenverhangenen Himmel. »Glaubst du, es gibt
Schnee?«
Brett schüttelte den Kopf. »Nein, den Vorhersagen
zufolge nicht.«
Es waren nur noch zehn Tage bis zur Hochzeit.
Heulender Wind aus der Arktis rüttelte an den flatternden Ecken der
Hair-Poster vor dem Gemeindesaal. Das
Wetter wurde von Minute zu Minute kälter und grauer, doch die
Chancen auf weiße Weihnachten standen offiziell etwa eins zu eine
Million. Doll, die sich insgeheim an der Vorstellung ergötzte, von
Lance’ Wagen zur Kirche durch einen Schneesturm zu schreiten, war
sehr enttäuscht. Außerdem machte sie sich um Mitzi mehr Sorgen, als
sie zugeben mochte. Joel, fand sie, konnte ja ruhig auf
verschlossene Macho-Art seine Wunden lecken, wie Männer das eben so
taten. Sicher, sonst fiel es ihm eigentlich nicht schwer, mit
seiner weiblichen Seite in Kontakt zu treten, aber diesmal waren
Beichtgespräche eindeutig nicht angesagt. Er weigerte sich rundweg,
über Mitzi zu sprechen, und Doll hatte es aufgegeben, ihn dazu
bewegen zu wollen.
Mitzi, auch wenn sie behauptete, sie sei guter
Dinge, war alles andere als das. Sie wirkte wie in sich
zusammengesunken, noch schlimmer als damals, nachdem Lance sich mit
Jennifer aus dem Staub gemacht hatte. Da sie noch vor Kurzem nach
Verlassen der Bank in ihrem Leben so riesige Fortschritte gemacht
hatte, fand Doll diesen rapiden Rückfall zutiefst
besorgniserregend. Doll wusste, dass ihre Mutter verzweifelt und
unglücklich war, doch auch sie verweigerte jedes Gespräch über das
Zerwürfnis. Selbst Lu, sosehr sie auch mit Shay, ihrer künftigen
Karriere sowie Pip, Squeak und Wilfred beschäftigt war, hatte es
bemerkt.
»Verdammt lange Wartezeit«, brummelte Clyde Spraggs
vor ihnen in der Schlange. »Ist ja wie im West End.«
»Du warst überhaupt noch nie im West End«, sagte
Flo schnippisch. »Und was hast du in der Flasche da?«
»Löwenzahn und Hagebutte mit einer Spur
Selbstgebranntem. Hilft gegen die Kälte.«
»Dann gib mal her – nein, Doll bekommt nichts
davon. Sie ist schwanger, schon vergessen?«
»Warum gehen die verdammten Türen denn nicht auf?«,
beklagte sich jemand am Kopf der Schlange. »Wir warten schon seit
Stunden, und es ist saukalt.«
Auch die anderen in der langen Reihe begannen nun
zu murren. Jeden Moment, dachte Doll, könnte es in Hazy Hassocks zu
einem Volksaufstand kommen.
»Warum warten wir? Oh, wa-rum warten wir?«, begann
hinter ihnen jemand zu singen. »Warum wa-har-ten wir? Warum nur,
warum?«
Die protestierenden, aber hauptsächlich scherzhaft
gemeinten Klageworte hallten wider und wider, als die wartenden
Einwohner aus Hazy Hassocks, Bagley-cum-Russet und Fiddlesticks
allesamt einstimmten.
Dieses Lied war, dachte Doll, wahrscheinlich
weitaus melodiöser als alles andere, was sie an diesem Nachmittag
zu hören bekommen würden.
»Sind wir zu spät?«, keuchte Lu, als sie mit
Shay, eng umschlungen wie immer, über den Gemeindeanger hastete.
»Geht Hair nicht um drei los?«
»Nein und ja«, sagte Shay, den Kopf gegen den Wind
geduckt. »Es ist erst halb drei, und wir sind in wenigen Minuten da
– aber ich wusste doch, wir hätten das Auto nehmen sollen. Es ist
verdammt kalt. Ich schätze, jetzt bewährt sich dein Afghanenmantel
so richtig, was?«
Lulu nickte. So war es. Ehrlich gestanden brachte
der Afghane sie immer wieder leicht in die Zwickmühle. Sollte
jemand,
der sich so sehr für den Tierschutz engagierte wie sie, wirklich
ständig die Häute toter, wenngleich schon lange toter Ziegen
tragen? Da sie immer sehr darauf achtete, nichts zu essen, was ein
Gesicht hatte, und nur Schuhe aus pflanzlichen oder synthetischen
Materialien zu tragen, beschäftigte diese Frage sie manchmal. Sie
hatte es vor sich selbst immer damit gerechtfertigt, der
Afghanenmantel sei wie ein lebendiges Mahnmal für die Tiere, die
der menschlichen Eitelkeit zuliebe ihr Leben lassen mussten, und
hoffte, dass diese ihr verzeihen würden.
Der Wind pfiff in eisigen Wellen über die Wiese,
und nicht zum ersten Mal war Lu heilfroh, von den
undurchdringlichen Schichten des Afghanen umhüllt zu sein. Sie
hatte Shay überredet, zum Gemeindesaal zu laufen, weil sie die
besten Wege für Pip, Squeak und Wilfreds Gesundheitsspaziergänge
ausfindig machen wollte. Keiner von ihnen beiden hatte erwartet,
dass es dermaßen kalt sein würde.
»Ach schau – das Heckenkirschen-Haus ist zu
haben.«
Shay spähte über den Anger. »Das ist weder ein
Haus, noch gibt’s da Heckenkirschen.«
»Pedant.«
»Sieht aber nett aus. Ein echtes Cottage. Sehr
klein – wahrscheinlich nur zwei Räume unten und zwei oben? Auf dem
Schild steht, es ist zu vermieten, nicht zu verkaufen. Wäre es
nicht schön, wenn wir -«
»Jaa! Herrlich«, seufzte Lu. »Und der Garten wäre
toll für die Welpen – ganz zu schweigen davon, dass die Nähe zur
Gemeindewiese ideal wäre für Spaziergänge und so. Die Miete ist
sicher auch bezahlbar, denn es gehört dem Pfarrer, und er vermietet
es immer an Leute, die es gut brauchen können – so wie wir. Amy und
Frank Worthy haben zuletzt darin
gewohnt – vor dem Skandal. Ich wusste noch gar nicht, dass sie
endgültig ausgezogen sind.«
»Was für ein Skandal?«
»Die Geschichte von dem Skandal willst du doch gar
nicht wirklich hören, oder? Tja, scheinbar doch. Also, Amy und
Frank sahen aus wie Mr und Mrs Mittelengland. Rentner. Rotarier.
Daily Mail- und Telegraph-Leser. Stützen der Kirchengemeinde.
Vornehm und verarmt. Genau richtig für gute Zwecke und des Pfarrers
Heckenkirschen-Haus. Aber leider, leider haben sie jede Minute
ihrer freien Zeit damit verbracht, Videos für anspruchsvolle Herren
zu produzieren.«
»Sie haben Pornofilme gedreht?« Shay lachte. »In
diesem niedlichen kleinen Cottage?«
»Nein, nicht dort. Irgendwo in der Nähe von Epping
Forest – im Heckenkirschen-Haus haben sie ein lupenrein achtbares
Leben geführt. Aber als ihnen der Prozess gemacht und in den
Nachrichten über sie berichtet wurde, musste der Pfarrer ihnen
natürlich kündigen.«
»Oh ja, natürlich.« Shay lachte wieder. »Das ist
schon ein origineller Ort hier. Aber warum hat der Pfarrer
Grundbesitz? Ich dachte, Kirchenleute sollen alle weltlichen Güter
aufgeben, wenn sie den Habit nehmen. Hat er ein großes
Vermögen?«
»Nur dieses Cottage und seine Harley Davidson. Er
sagt, das sei seine Altersvorsorge. Ach, aber wäre es nicht genial,
wenn wir dort wohnen könnten?«
Sie sahen einander erneut an und seufzten. Es wäre
himmlisch. Aber daran war gar nicht zu denken, wegen Lav und
Lob.
»Vergiss es«, sagte Lulu. »Ich weiß, es kommt nicht
infrage. Außerdem haben wir sowieso andere Sorgen.«
»Meinst du deine Mutter?«
»Hm. Sie ist so unglücklich. Ich hasse es, sie so
leiden zu sehen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was da
schiefgegangen ist. Dieser Apfelzauber sollte eigentlich unfehlbar
sein.«
»Süße, vielleicht war er zu Zeiten deiner
Urgroßmutter unfehlbar, aber heute nicht mehr.«
»Sei nicht albern. Magie ist zeitlos.«
»Wie auch immer. Aber trotzdem, an diesem Abend in
Lorenzos Restaurant sahen sie doch wirklich glücklich aus – da muss
etwas Einschneidendes passiert sein, um die Situation so radikal zu
ändern. Spricht sie immer noch nicht darüber?«
»Keiner von beiden«, sagte Lu kläglich, während sie
über die Wiese in Richtung Gemeindesaal stapften. »Doll und ich
hatten gehofft, sie kämen bei der Hochzeit zusammen und würden dann
wenigstens wieder miteinander reden, aber Joel sagt, er geht nicht
hin. Mist! Schau dir die Schlange an! Ach, super – Doll und Brett
stehen ziemlich weit vorne. Da können wir uns mit
reinquetschen.«
Im Inneren des Gemeindesaals bekamen die
Hair-Darsteller allmählich Lampenfieber.
Der Filzhutmann sauste hinter der Bühne herum, bellte letzte
Anweisungen, erschreckte alle zu Tode und war überall im Weg.
Mitzi, die aus dem Fenster die ungeheure Warteschlange erspäht
hatte, war alles egal.
Dieses anhaltende Gefühl völliger
Teilnahmslosigkeit war äußerst befremdlich.
»Also!«, blaffte der Filzhutmann hinter ihr. »Dann
lass uns mal die Türen aufmachen. Bist du sicher, dass du mit dem
Einlass klarkommst, Mitzi? Du siehst aus wie frisch vom Lastwagen
überfahren.«
»Vielen Dank auch. Mir geht’s bestens.«
»Und die Erfrischungen in der Pause? Kriegst du die
auch geregelt?«
Mitzi nickte. Im Hinblick auf das Pausenbüfett
hatten sie eine Art gemeinschaftliches Abkommen getroffen, dass
alle Fitten Fünfziger etwas mitbringen würden. Bedauerlicherweise,
weil sich niemand darum gekümmert hatte, eine Liste zu schreiben,
hatten sie jetzt viel zu viele belegte Brötchen und zu wenig
Kuchen. Lavender und Lobelia hatten Sardinen- und Senf-Sandwiches
beigesteuert. Mitzi hatte halbherzig ein paar Häppchen nach Grannys
Rezeptbuch gemacht. Nichts allzu Brisantes natürlich, nur ein paar
ihrer erprobten und bewährten Sachen.
Sie eilte zwischen den vielen, vielen Reihen leerer
Stühle hindurch und schaltete die Beleuchtung des Zuschauerraums
ein. Der Schmerz unter ihrem Brustbein war allgegenwärtig, und ihr
Kopf fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft. Joel fehlte ihr so
schrecklich. Außerdem hatten sie sich so sehr auf diesen Nachmittag
gefreut. Joel würde nun aber nicht kommen, natürlich nicht. Und zur
Hochzeit auch nicht. Er hatte Doll bereits erklärt, er habe
beschlossen, über Weihnachten zu seinen Eltern nach Manchester zu
fahren.
Als Mitzi die Doppeltüren des Saales aufzog, wäre
sie von dem doppelten Ansturm einer Nordwindbö und mehrerer hundert
durchgefrorener Leute fast umgestoßen worden. Ihre Frage nach den
Eintrittskarten verhallte ungehört im lärmenden Gedränge.
Als die Zuschauer hereinströmten, war ihr, als zöge
ihr Leben in Hazy Hassocks im Zeitraffer an ihren Augen vorbei.
Alle waren sie gekommen. Nun, alle bis auf Lance und Jennifer, denn
nach ihrer Rückkehr aus London hatten sie
einen Entspannungs-und-Bräunungsurlaub auf einer Schönheitsfarm
gebucht, um bei der Hochzeit so auszusehen wie Hazy Hassocks
Antwort auf Michael Douglas und Catherine Zeta-Jones.
Gwyneth Wilkins und Big Ida Tomms führten die
Fiddlesticks-Fraktion an, und auch mehrere Damen des
Donnerstagskränzchens aus Bagley-cum-Russet hatten der Kälte und
ihrem unzuverlässigen Minibus für die fünf Kilometer weite Reise
getrotzt. Herbie war gekommen, und Hedley und Biff Pippin, auch Mrs
Elkins von Patsy’s Pantry, Carmel und Augusta, Otto und Boris vom
Faery Glen – und, na ja, einfach alle. Außer, stellte Mitzi betrübt
fest, Joel mit der Clique aus der Zahnarztpraxis.
Doll und Lu umarmten sie. Shay und Brett lächelten
aufmunternd.
»Sitzt du bei uns?«, fragte Doll. »Wir brauchen
dich, damit du uns die Handlung erklärst.«
»Da bin ich überfordert.« Mitzi rang sich ein
Lächeln ab. »Die Originalfassung war schon konfus, aber nachdem
unsere Gruppe das Stück in die Mache genommen hat, ist es jetzt
vollkommen unverständlich geworden.«
»Nette Musik aber«, sagte Lu. »Dürfen wir
mitsingen?«
»Aber sicher doch. Sie werden jede Unterstützung
brauchen, die sie kriegen können.«
Jedermann stürzte sich bereits auf die ersten
Reihen. Mitzi hatte in der Hoffnung, dass Joel vielleicht, ganz
vielleicht doch käme, diverse Habseligkeiten über sechs Sitze
direkt vor der Bühne verteilt.
»Tolle Plätze«, meinte Brett, als sie sich
niederließen. »Für wen ist der andere da? Autsch!«
Es herrschte gespannte Vorfreude, während das
Publikum
sich darauf einrichtete, unterhalten zu werden. Da Mitzi seit
Tagesanbruch die Heizlüfter hatte laufen lassen, war es
ausnahmsweise einmal herrlich warm im Saal. Mäntel wurden
ausgezogen und Brillen aus Handtaschen gekramt. Die Lichter gingen
langsam aus.
Alles machte: »Oooh!«
Der Filzhutmann kämpfte sich durch die schief
hängenden Vorhänge, und alles johlte.
»Schön, euch hier versammelt zu sehen«, schrie er
ins Mikrofon. Das Mikrofon, viel zu nah am Verstärker, schrie
zurück.
Alles klatschte.
»Wir warten nur noch auf ein oder zwei Nachzügler«,
brüllte der Filzhutmann. »Dann geht’s los. Ich hoffe, euch gefällt
die Aufführung des heutigen Nachmittags, die erste von vielen
weiteren geplanten Amateurproduktionen in Hazy Hassocks. Zwischen
dem ersten und dem zweiten Akt wird es eine Pause geben, und im
hinteren Bereich des Saales stehen Erfrischungen bereit für
diejenigen -«
Zu spät. Mitzi schloss die Augen. Das Publikum, in
der Warteschlange durchgefroren bis auf die Knochen, ließ sich
nicht lange bitten. Stühle wurden scharrend zurückgeschoben, und
schon polterten alle zu den Tischen mit dem Essen.
»Für die Pause!«, schrie der Filzhutmann hilflos.
»Die Erfrischungen sind für die Pause – verfluchter Mist!«
Irgendwann während der Schlacht ums kalte Büfett,
bei der alle kleine Mount Everests auf ihre Pappteller häuften,
trafen Tarnia und Schnösel-Mark ein. Der Filzhutmann erspähte sie
von der Bühne aus, kletterte die wacklige Treppe herunter und
führte sie zu zwei reservierten Sitzplätzen am Ende von Mitzis
Reihe.
»Hair?«, formte Tarnia an Mitzi gewandt mit den Lippen.
»Ich dachte, es wäre ein Weihnachtsspiel?«
»Wird es auch«, gab Mitzi zurück. »Glaub
mir.«
Tarnia war in Pink und Gold gekleidet und glitzerte
sehr. Schnösel-Mark, der sichtlich lieber woanders gewesen wäre,
trug einen schwarzen Paul-Smith-Anzug und sah mit den nach hinten
gegelten Haaren aus wie ein Bestattungsunternehmer.
»Aber Hair?«, beharrte
Tarnia. »Ist das nicht ziemlich unanständig? Ich meine, unsere
Wohltätigkeitsbeauftragten gehen von einem ganz unschuldigen Spaß
für die Dorfkinder aus. Ich bin ganz und gar nicht sicher, ob dies
als angemessene Nutzung der Räumlichkeiten gelten kann.«
Mitzi zuckte die Schultern. Es war ihr inzwischen
wirklich alles egal.
»Nehmen Sie ein Teilchen, meine Gute!« Clyde
Spraggs beugte sich aus der hinteren Reihe vor und hielt Tarnia
seinen vollgehäuften Teller hin. »Ein bisschen mehr Fleisch auf den
Knochen könnt Ihnen nicht schaden.«
»Also, ich sollte wirklich nicht – ich mache gerade
bis zum Ende der Adventszeit die Pratt-Diät – aber ich bin am
Verhungern, und eines wird ja gewiss nicht schaden.« Tarnia zögerte
einen Augenblick, dann nahm sie sich von der Spitze des Stapels
eines der saftigen braunen Törtchen. »Wirklich sehr freundlich von
Ihnen. Mitzi, ist das von dir?«
Mitzi nickte und sah, wie Tarnias makellos
überkronte Zähne sich in ein Überredungstörtchen senkten. Leise
zweifelnd, ob es nun wirken würde oder nicht, sagte sie mit
charmantem Lächeln: »Ich bin überzeugt, die
Wohltätigkeitsbeauftragten werden mit der Aufführung heute
Nachmittag hochzufrieden sein – und auch mit allen anderen
Nutzungen des Saales. Und ich bin ebenso überzeugt, dass du ihnen
von deiner unablässigen, kontinuierlichen Förderung unserer
Projekte berichten wirst, nicht wahr?«
Mitzi war deutlich bewusst, dass Doll ihr
misstrauische und Lu ihr aufmunternde Blicke zuwarf. Tarnia aß das
Überredungstörtchen auf und tupfte behutsam ihre Lippen ab.
Sie strahlte, so gut es ging. »Köstlich. Zergeht
einem auf der Zunge. Hast du daran gedacht, mir deine Faltblätter
mitzubringen?«
Mitzi nickte und fischte die Speisekarten aus ihrer
Handtasche. Shay und Brett reichten sie die Reihe entlang.
»Sehr schön.« Tarnia dehnte ihr Schmollmündchen zu
einem Lächeln. »Und natürlich werde ich bei den
Wohltätigkeitsbeauftragten ein Loblied auf Hair singen. Gar kein Thema. Du hast im Dorf wahre
Wunder gewirkt, Mitzi. Marquis und ich überlassen dir mit Freuden
den Saal, so lange du willst, nicht wahr, Liebling?«
Schnösel-Mark schnaubte.
Lulu zwinkerte Mitzi zu.
Tarnia wischte sich Krümel vom pinkfarbenen
Lederschoß. »Mitzi, du siehst immer noch schrecklich aus, nimm’s
mir bitte nicht übel. Wirklich ein Jammer, dass du dich nicht mehr
am Riemen reißt, aber nun ja, wir können ja nicht alle von Natur
aus Glamourgirls sein, nicht wahr?«
Doll und Lulu kicherten.
Mitzi war freudig überrascht, dass die Törtchen
noch immer ihren Überredungszauber bewirkten, und antwortete nur
mit einem Lächeln. Es interessierte sie nicht, was Tarnia oder
sonst wer über ihr Aussehen dachte. Was spielte es denn jetzt
überhaupt noch für eine Rolle?
Und wenn die Törtchen noch immer betören konnten,
fragte sie sich beiläufig, wie viele der Zuschauer wohl von
ihren neuen Mistelzweig-Meringen gegessen hatten oder von den
Schäumenden Träumen, an denen sie sich noch einmal versucht hatte,
in der Hoffnung, sie bis zur Hochzeit perfekt hinzubekommen, und ob
diese Speisen wohl auch ihre übliche Wirkung zeigten.
Diese Frage sollte bald beantwortet werden.
Mit einem Trommelwirbel von der Bühne ging die
Deckenbeleuchtung aus und das Rampenlicht an, die Vorhänge
ruckelten auf, und alles wurde still.
»Was zum Teufel ist das denn?«, zischte Doll die
Reihe entlang. »Warum steht da eine große Galeone mitten in einem
Park?«
Mitzi, die das Endergebnis von Raymonds und
Timothys Bühnenbild noch nicht zu Gesicht bekommen hatte,
schüttelte verwundert den Kopf.
»Das ist die Cutty Sark«, flüsterte Shay. »Steht
auf dem Rumpf. Und da es im Programm heißt, das ganze Stück spielt
in Greenwich Village -«
Mitzi gab sich alle Mühe, nicht laut loszuprusten.
Nur in Hazy Hassocks konnte missverstanden werden, welches Greenwich gemeint war. Wenn sie genau
hinschaute, sähe sie bestimmt auch noch irgendwo das Observatorium
und den Nullmeridian – richtig! Dort war er. Er verlief zwischen
den sehr englischen aufgemalten Blumenbeeten. Ach, wenn doch Joel
nur hier wäre, um das mitzuerleben!
Mehrere andere glucksten laut. Zum Glück war das
Gelächter noch nicht bis zur Bühne vorgedrungen, wo der
siebzigjährige Sid in der Rolle des Claude mit einer Bettdecke über
den Schultern allein im Schneidersitz im Scheinwerferlicht saß, er
hatte den Kopf gesenkt, und die langhaarige Acrylperücke drohte
seitlich zusehends abzurutschen. Es
war ein ehrfurchtgebietender Moment, und dem Publikum verschlug es
die Sprache. Die Stille jedoch währte nur einen Augenblick. Als die
Hippies auf der Bühne erschienen, brach im Gemeindesaal eine
Massenhysterie aus.
Sogar Mitzi, die überzeugt gewesen war, nie wieder
lachen zu können, brachte ein beachtliches Glucksen zustande.
Die Fitten Fünfziger kamen mit à la Woodstock 1969
bemalten Gesichtern zu Afroperücken aus Nylon und in einem
Sortiment von Kaftans mit Perlen, Blumen und Glöckchen auf die
Bühne geschlurft.
Lav und Lob hatten ihre Perücken über die
Fahrradhelme gestülpt und winkten vergnügt zur ersten Reihe
hin.
Doll und Lulu lachten Tränen, als die Hippies
unbeholfen den Altar aufstellten und versuchten, ein Feuer
anzumachen, wobei aber die Streichhölzer nicht zündeten, sodass sie
sich mit Sids Feuerzeug behelfen mussten. Dann stellten sie fest,
dass keiner eine Schere hatte, um die symbolische Haarlocke
abzuschneiden, und so warfen sie kurzerhand seine ganze Perücke in
die Flammen.
Es zischte und krachte, eine Stichflamme loderte
auf.
Der nun kahlköpfige Sid, der normalerweise ständig
über seine Arthritis klagte und dahinschlich wie ein Sargträger,
sprang auf die Füße und stieß einen wilden Schrei aus.
Die Hippies, über das Inferno augenscheinlich doch
ein wenig beunruhigt, drängten sich zurückweichend an den
Seitenbühnen zusammen und begannen stotternd eine ziemlich
halbherzige Interpretation von »Aquarius« anzustimmen, indes der
Filzhutmann ungelenk auf die Bühne kletterte und eine Tasse Kaffee
auf die Flammen schüttete.
Das Feuer ging aus. Die Hippies schlurften nach
vorn, und »Aquarius« gewann an Lautstärke.
Da irgendwer ein reichlich dubioses Surround-System
ausgeliehen hatte, war die Musik von Galt MacDermot ohrenbetäubend
laut. Das Publikum, nachdem es nun nicht mehr befürchten musste,
wie Brathähnchen gegrillt zu werden, stimmte lauthals mit
ein.
Von da an ging es nur noch bergauf. Der erste Akt
brauste mit Volldampf voran, kein Mensch im Publikum begriff auch
nur ansatzweise, was auf der Bühne vor sich ging, die Schauspieler
scherten sich scheinbar auch nicht sonderlich darum, und auf beiden
Seiten amüsierte man sich köstlich. Die Fitte-Fünfziger-Version des
Titelsongs wirkte so, als würden mehrere Reihen stark betrunkener
Onkel und Tanten sich bei einer Hochzeitsfeier zum ersten Mal in
Karaoke versuchen.
»Tanzen, verdammt noch mal, ihr sollt tanzen!«,
schrie der Filzhutmann von der Seite her.
Die Fitten Fünfziger versuchten ihr Bestes. In
Anbetracht ihres Alters schlugen sie sich wacker. Die Bewegungen
waren allerdings eher mechanisch als sinnlich; die meisten
stolperten über den Saum ihres Kaftans, und mehrere verloren ihre
Perücken. Singen und Tanzen gleichzeitig schien bei den Proben kein
zwingendes Muss gewesen zu sein. Ronnie kippte um, und Beryl, ohne
ihre Brille, wanderte über die Bühnenkante und verschwand unter dem
Tapeziertisch mit der Lichtanlage.
»Ich glaub, bei mir setzen gleich die Wehen ein!«,
schniefte Doll kichernd. »So sehr hab ich seit Jahren nicht mehr
gelacht.«
Ein verhunzter Song folgte dem anderen, es wurden
Blumen gestreut, Frank fiel von seiner Stange und musste von
anderen gestützt von der Bühne gebracht werden, und Hazy Hassocks
tobte vor Begeisterung.
Bernard, Doreen und Christopher tapsten ziemlich
unheildräuend
auf Zehenspitzen zum vorderen Bühnenrand. Die Tonanlage spielte
»Hare Krishna« in einer Endlosschleife. Hazy Hassocks starrte wie
gebannt nach vorn.
»Nun ist es Zeit für das Be-in!«, gellte
Christopher. »Touristen – kommt zur Orgie!«
Hazy Hassocks war ein bisschen schwer von
Begriff.
»Die ziehen ihre Kleider aus!«, kreischte Tarnia
frohlockend die Reihe entlang.
So war es. Es war das Beängstigendste, was Mitzi je
gesehen hatte. Über dreißig Rentner entblätterten sich bis auf die
angegraute Unterwäsche und in einigen Fällen bis auf die noch
grauere Haut. Lav und Lob glänzten in Rheumaleibchen. Dank sei dem
Herrn, dachte Mitzi, dass die Heizlüfter so gut
funktionierten.
»Komm schon!« Shay war aufgestanden und streckte Lu
die Hand entgegen. »Wir sind die Touristen. Wir gehen zu einer
Orgie.«
Einen Augenblick später hatte er schon seine Jeans
und sein Sweatshirt ausgezogen und sprang auf die Bühne. Lu, in
Unterhemd und Sloggi-Höschen, folgte ihm nur wenige Sekunden
später.
»Mannomann!« Doll sah Mitzi mit hochgezogenen
Augenbrauen an. »Shay hat ja einen fantastischen Körper.« Dann sah
sie Bretts gerunzelte Stirn. »Na ja, so toll wie deiner natürlich
nicht – aber …«
Als Shay und Lu auf der Bühne waren und sangen und
tanzten und die Liebe feierten, fiel bei Hazy Hassocks schnell der
Groschen, und es bedurfte keiner zweiten Aufforderung. Hüllen
wurden ebenso fallen gelassen wie Hemmungen, und zahlreiche Stühle
kippten nach hinten, als das Publikum in verschiedenen Stadien der
Entblößung nach vorn drängte.
Tarnia hatte sich kichernd aus ihrem glitzernden
pinkfarbenen Lederdress geschält und hüpfte in ganz reizenden
Dessous von Janet Reger die Stufen empor. Schnösel-Mark vergrub
sein Gesicht in den Händen.
»Ich geh da nicht rauf«, sagte Doll. »Nicht in
meinem Zustand. Und was genau hast du bitte in die Erfrischungen
getan? Dieses Love-in da oben sieht für meinen Geschmack doch ein
klein bisschen zu gefühlsecht aus.«
Mitzi nickte. So war es. Jede Menge überhaupt nicht
zusammenpassender Leute betatschten einander und küssten sich. Die
Szene drohte in eine echte Orgie auszuarten. Die
Mistelzweig-Meringen bedurften also wohl immer noch einer kleinen
Korrektur.
»Komm mit, Mitzi!« Flo und Clyde Spraggs,
erschreckend knapp bekleidet, packten sie an den Händen. »Rauf mit
dir, Schätzchen!«
»Nein! Ich komm nicht mit.«
»Klar kommst du. Ist doch ein Riesenspaß! Schau dir
Hed und Biff an! Mrs Elkins und Tammy mit Viv – und Gwyneth mit Big
Ida – ach, und hast du Boris und Otto gesehen?«
Mitzi sah es sich an. »Hare Krishna« dröhnte aus
den Lautsprechern, und auf der Bühne agierten Zuschauer und
Schauspieler gleichermaßen, sie schmusten und sangen und
knutschten. Tarnia beknabberte gerade das Gesicht eines sehr jungen
Knaben aus der Bath-Road-Siedlung.
Mitzi zögerte. Trug sie vorzeigbare Unterwäsche?
War ihr das wichtig?
Unter Gejohle von Doll und Brett zerrte sie sich
die Jeans von den Beinen, zog ihren Pullover über den Kopf und
stürzte mit Flo und Clyde auf die überfüllte Bühne. Ihr schwarzer
BH und Schlüpfer waren zwar nicht ihre besten Stücke, aber
zumindest halbwegs ansehnlich, und immerhin hatte sie sich die
Beine rasiert.
Es war, fand sie, alles eine Riesengaudi. Und hatte
sie nicht irgendwo mal gelesen, selbst Prinzessin Anne hätte in den
Sechzigerjahren in einer Aufführung von Hair beim Be-in mitgemischt? Mit über den Kopf
erhobenen Armen winkte sie wogend und klatschte und sang »Hare
Krishna« aus voller Kehle. Es war genau wie beim Shepton Mallet
Blues Festival in ihrer Jugend. Und wenn sie ein gebrochenes Herz
hatte, dann war es eben so. Na und?
»So ist es richtig, Süße!«, schrie ihr der
Filzhutmann ins Ohr. »Bring dich voll ein!«
Mitzi warf ihm einen Seitenblick zu. Außer seinem
Hut hatte er gar nichts mehr an.
Sie tänzelte von ihm fort und landete schließlich
mit untergehakten Armen zwischen Ronnie und Philip in einer Art
Revuetanznummer. Die Musik dröhnte weiter, der Zuschauerraum war
halb leer, die Bühne berstend voll. Jeder begrabschte jeden. Die
Mistelzeig-Meringen hatten wieder einmal Wunder gewirkt.
Mitzi lachte zu Doll und Brett hinunter, die
klatschend und singend in der ersten Reihe saßen. Sonst sah sie
kaum jemanden im Zuschauerraum. Nur vereinzelt einige Gesichter der
eher zugeknöpften Dorfbewohner in der Dunkelheit, alle schwenkten
die Arme in der Luft oder klatschten oder sangen.
Alle außer einem, der ganz allein am hinteren Ende
des Saales stand.
Einer, dessen schönes markantes Gesicht sie mit
unergründlicher Miene beobachtete.
»Oh, verfluchte Hölle!«, stöhnte Mitzi.