23. Kapitel
Schäumende Träume
Zwei Tassen Puderzucker
Eine Tasse feinstes Mehl
Ein halbes Dutzend Eier
Ein Viertelliter frische Schlagsahne
Eine Handvoll gemahlene Walnüsse
Schale, Fruchtfleisch und Saft von zwei Zitronen
Eine Messerspitze geriebener Ingwer
Eine Handvoll Wolfskraut
Zerstoßene Chinabeeren
Eine Prise Piment
 
Mehl, Zucker, Eier und Sahne verrühren und anschließend kühl stellen.
Zitronen, Ingwer, Wolfskraut, Chinabeeren und Piment vermischen. Mit Mörser und Stößel zerkleinern.
Mit der kalten Creme verquirlen. In gefettete Pastetenförmchen füllen.
 
Bei mittlerer Hitze eine Dreiviertelstunde backen.
Das Äußere der Schäumenden Träume soll knusprig und mürbe sein, das Innere hingegen weich und cremig.
Beachte: Träume wahr werden zu lassen ist mit dem richtigen Kräuterzauber ganz einfach. Diese Mischung ist besonders wirkungsvoll. Schäumende Träume werden nach einem starken ländlichen Rezept zubereitet, das sich über Generationen hin bewährt hat. Ob nun laut ausgesprochen oder nur leise gedacht, wird WIRKLICH WAHR, was man sich beim Essen Schäumender Träume wünscht. Diese Süßspeise gilt als traditioneller Bestandteil eines Hochzeitsmahls.
Vielleicht sollten wir versuchen, für deine Mutter eine Art Liebestrank zu brauen«, sagte Brett, als Doll und er sich am folgenden Samstagnachmittag unter dem dunkler werdenden Himmel vor dem Gemeindesaal in die Warteschlange einreihten. »Nach ihrem Rezeptbuch. Immerhin scheint es bei uns ja gewirkt zu haben – und auch bei Lu und Shay.«
Doll knuffte ihn unsanft in die Rippen und stampfte mit den vor Kälte taub werdenden Füßen. »Das ist doch alles Quatsch, und das weißt du auch. Was immer zwischen Mum und Joel schiefgelaufen sein mag, reicht leider zu tief, als dass ein paar Kräuter etwas daran ändern könnten.«
»Aber Lulu sagt, sie hätte so eine Art Sternschnuppen-Baisers gemacht und sich Shay damit endgültig geangelt.«
»Ja, stimmt. Lu sagt auch, sie versteht gar nicht, wieso Mum und Joel sich verkracht haben, wo sie doch an Halloween an einem echt starken Apfelzauber teilhatten, der wirklich wirken müsste. Alles Mumpitz. Hab ich doch von Anfang an gesagt.« Sie sah nach oben zum wolkenverhangenen Himmel. »Glaubst du, es gibt Schnee?«
Brett schüttelte den Kopf. »Nein, den Vorhersagen zufolge nicht.«
Es waren nur noch zehn Tage bis zur Hochzeit. Heulender Wind aus der Arktis rüttelte an den flatternden Ecken der Hair-Poster vor dem Gemeindesaal. Das Wetter wurde von Minute zu Minute kälter und grauer, doch die Chancen auf weiße Weihnachten standen offiziell etwa eins zu eine Million. Doll, die sich insgeheim an der Vorstellung ergötzte, von Lance’ Wagen zur Kirche durch einen Schneesturm zu schreiten, war sehr enttäuscht. Außerdem machte sie sich um Mitzi mehr Sorgen, als sie zugeben mochte. Joel, fand sie, konnte ja ruhig auf verschlossene Macho-Art seine Wunden lecken, wie Männer das eben so taten. Sicher, sonst fiel es ihm eigentlich nicht schwer, mit seiner weiblichen Seite in Kontakt zu treten, aber diesmal waren Beichtgespräche eindeutig nicht angesagt. Er weigerte sich rundweg, über Mitzi zu sprechen, und Doll hatte es aufgegeben, ihn dazu bewegen zu wollen.
Mitzi, auch wenn sie behauptete, sie sei guter Dinge, war alles andere als das. Sie wirkte wie in sich zusammengesunken, noch schlimmer als damals, nachdem Lance sich mit Jennifer aus dem Staub gemacht hatte. Da sie noch vor Kurzem nach Verlassen der Bank in ihrem Leben so riesige Fortschritte gemacht hatte, fand Doll diesen rapiden Rückfall zutiefst besorgniserregend. Doll wusste, dass ihre Mutter verzweifelt und unglücklich war, doch auch sie verweigerte jedes Gespräch über das Zerwürfnis. Selbst Lu, sosehr sie auch mit Shay, ihrer künftigen Karriere sowie Pip, Squeak und Wilfred beschäftigt war, hatte es bemerkt.
»Verdammt lange Wartezeit«, brummelte Clyde Spraggs vor ihnen in der Schlange. »Ist ja wie im West End.«
»Du warst überhaupt noch nie im West End«, sagte Flo schnippisch. »Und was hast du in der Flasche da?«
»Löwenzahn und Hagebutte mit einer Spur Selbstgebranntem. Hilft gegen die Kälte.«
»Dann gib mal her – nein, Doll bekommt nichts davon. Sie ist schwanger, schon vergessen?«
»Warum gehen die verdammten Türen denn nicht auf?«, beklagte sich jemand am Kopf der Schlange. »Wir warten schon seit Stunden, und es ist saukalt.«
Auch die anderen in der langen Reihe begannen nun zu murren. Jeden Moment, dachte Doll, könnte es in Hazy Hassocks zu einem Volksaufstand kommen.
»Warum warten wir? Oh, wa-rum warten wir?«, begann hinter ihnen jemand zu singen. »Warum wa-har-ten wir? Warum nur, warum?«
Die protestierenden, aber hauptsächlich scherzhaft gemeinten Klageworte hallten wider und wider, als die wartenden Einwohner aus Hazy Hassocks, Bagley-cum-Russet und Fiddlesticks allesamt einstimmten.
Dieses Lied war, dachte Doll, wahrscheinlich weitaus melodiöser als alles andere, was sie an diesem Nachmittag zu hören bekommen würden.
 
»Sind wir zu spät?«, keuchte Lu, als sie mit Shay, eng umschlungen wie immer, über den Gemeindeanger hastete. »Geht Hair nicht um drei los?«
»Nein und ja«, sagte Shay, den Kopf gegen den Wind geduckt. »Es ist erst halb drei, und wir sind in wenigen Minuten da – aber ich wusste doch, wir hätten das Auto nehmen sollen. Es ist verdammt kalt. Ich schätze, jetzt bewährt sich dein Afghanenmantel so richtig, was?«
Lulu nickte. So war es. Ehrlich gestanden brachte der Afghane sie immer wieder leicht in die Zwickmühle. Sollte jemand, der sich so sehr für den Tierschutz engagierte wie sie, wirklich ständig die Häute toter, wenngleich schon lange toter Ziegen tragen? Da sie immer sehr darauf achtete, nichts zu essen, was ein Gesicht hatte, und nur Schuhe aus pflanzlichen oder synthetischen Materialien zu tragen, beschäftigte diese Frage sie manchmal. Sie hatte es vor sich selbst immer damit gerechtfertigt, der Afghanenmantel sei wie ein lebendiges Mahnmal für die Tiere, die der menschlichen Eitelkeit zuliebe ihr Leben lassen mussten, und hoffte, dass diese ihr verzeihen würden.
Der Wind pfiff in eisigen Wellen über die Wiese, und nicht zum ersten Mal war Lu heilfroh, von den undurchdringlichen Schichten des Afghanen umhüllt zu sein. Sie hatte Shay überredet, zum Gemeindesaal zu laufen, weil sie die besten Wege für Pip, Squeak und Wilfreds Gesundheitsspaziergänge ausfindig machen wollte. Keiner von ihnen beiden hatte erwartet, dass es dermaßen kalt sein würde.
»Ach schau – das Heckenkirschen-Haus ist zu haben.«
Shay spähte über den Anger. »Das ist weder ein Haus, noch gibt’s da Heckenkirschen.«
»Pedant.«
»Sieht aber nett aus. Ein echtes Cottage. Sehr klein – wahrscheinlich nur zwei Räume unten und zwei oben? Auf dem Schild steht, es ist zu vermieten, nicht zu verkaufen. Wäre es nicht schön, wenn wir -«
»Jaa! Herrlich«, seufzte Lu. »Und der Garten wäre toll für die Welpen – ganz zu schweigen davon, dass die Nähe zur Gemeindewiese ideal wäre für Spaziergänge und so. Die Miete ist sicher auch bezahlbar, denn es gehört dem Pfarrer, und er vermietet es immer an Leute, die es gut brauchen können – so wie wir. Amy und Frank Worthy haben zuletzt darin gewohnt – vor dem Skandal. Ich wusste noch gar nicht, dass sie endgültig ausgezogen sind.«
»Was für ein Skandal?«
»Die Geschichte von dem Skandal willst du doch gar nicht wirklich hören, oder? Tja, scheinbar doch. Also, Amy und Frank sahen aus wie Mr und Mrs Mittelengland. Rentner. Rotarier. Daily Mail- und Telegraph-Leser. Stützen der Kirchengemeinde. Vornehm und verarmt. Genau richtig für gute Zwecke und des Pfarrers Heckenkirschen-Haus. Aber leider, leider haben sie jede Minute ihrer freien Zeit damit verbracht, Videos für anspruchsvolle Herren zu produzieren.«
»Sie haben Pornofilme gedreht?« Shay lachte. »In diesem niedlichen kleinen Cottage?«
»Nein, nicht dort. Irgendwo in der Nähe von Epping Forest – im Heckenkirschen-Haus haben sie ein lupenrein achtbares Leben geführt. Aber als ihnen der Prozess gemacht und in den Nachrichten über sie berichtet wurde, musste der Pfarrer ihnen natürlich kündigen.«
»Oh ja, natürlich.« Shay lachte wieder. »Das ist schon ein origineller Ort hier. Aber warum hat der Pfarrer Grundbesitz? Ich dachte, Kirchenleute sollen alle weltlichen Güter aufgeben, wenn sie den Habit nehmen. Hat er ein großes Vermögen?«
»Nur dieses Cottage und seine Harley Davidson. Er sagt, das sei seine Altersvorsorge. Ach, aber wäre es nicht genial, wenn wir dort wohnen könnten?«
Sie sahen einander erneut an und seufzten. Es wäre himmlisch. Aber daran war gar nicht zu denken, wegen Lav und Lob.
»Vergiss es«, sagte Lulu. »Ich weiß, es kommt nicht infrage. Außerdem haben wir sowieso andere Sorgen.«
»Meinst du deine Mutter?«
»Hm. Sie ist so unglücklich. Ich hasse es, sie so leiden zu sehen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was da schiefgegangen ist. Dieser Apfelzauber sollte eigentlich unfehlbar sein.«
»Süße, vielleicht war er zu Zeiten deiner Urgroßmutter unfehlbar, aber heute nicht mehr.«
»Sei nicht albern. Magie ist zeitlos.«
»Wie auch immer. Aber trotzdem, an diesem Abend in Lorenzos Restaurant sahen sie doch wirklich glücklich aus – da muss etwas Einschneidendes passiert sein, um die Situation so radikal zu ändern. Spricht sie immer noch nicht darüber?«
»Keiner von beiden«, sagte Lu kläglich, während sie über die Wiese in Richtung Gemeindesaal stapften. »Doll und ich hatten gehofft, sie kämen bei der Hochzeit zusammen und würden dann wenigstens wieder miteinander reden, aber Joel sagt, er geht nicht hin. Mist! Schau dir die Schlange an! Ach, super – Doll und Brett stehen ziemlich weit vorne. Da können wir uns mit reinquetschen.«
 
Im Inneren des Gemeindesaals bekamen die Hair-Darsteller allmählich Lampenfieber. Der Filzhutmann sauste hinter der Bühne herum, bellte letzte Anweisungen, erschreckte alle zu Tode und war überall im Weg. Mitzi, die aus dem Fenster die ungeheure Warteschlange erspäht hatte, war alles egal.
Dieses anhaltende Gefühl völliger Teilnahmslosigkeit war äußerst befremdlich.
»Also!«, blaffte der Filzhutmann hinter ihr. »Dann lass uns mal die Türen aufmachen. Bist du sicher, dass du mit dem Einlass klarkommst, Mitzi? Du siehst aus wie frisch vom Lastwagen überfahren.«
»Vielen Dank auch. Mir geht’s bestens.«
»Und die Erfrischungen in der Pause? Kriegst du die auch geregelt?«
Mitzi nickte. Im Hinblick auf das Pausenbüfett hatten sie eine Art gemeinschaftliches Abkommen getroffen, dass alle Fitten Fünfziger etwas mitbringen würden. Bedauerlicherweise, weil sich niemand darum gekümmert hatte, eine Liste zu schreiben, hatten sie jetzt viel zu viele belegte Brötchen und zu wenig Kuchen. Lavender und Lobelia hatten Sardinen- und Senf-Sandwiches beigesteuert. Mitzi hatte halbherzig ein paar Häppchen nach Grannys Rezeptbuch gemacht. Nichts allzu Brisantes natürlich, nur ein paar ihrer erprobten und bewährten Sachen.
Sie eilte zwischen den vielen, vielen Reihen leerer Stühle hindurch und schaltete die Beleuchtung des Zuschauerraums ein. Der Schmerz unter ihrem Brustbein war allgegenwärtig, und ihr Kopf fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft. Joel fehlte ihr so schrecklich. Außerdem hatten sie sich so sehr auf diesen Nachmittag gefreut. Joel würde nun aber nicht kommen, natürlich nicht. Und zur Hochzeit auch nicht. Er hatte Doll bereits erklärt, er habe beschlossen, über Weihnachten zu seinen Eltern nach Manchester zu fahren.
Als Mitzi die Doppeltüren des Saales aufzog, wäre sie von dem doppelten Ansturm einer Nordwindbö und mehrerer hundert durchgefrorener Leute fast umgestoßen worden. Ihre Frage nach den Eintrittskarten verhallte ungehört im lärmenden Gedränge.
Als die Zuschauer hereinströmten, war ihr, als zöge ihr Leben in Hazy Hassocks im Zeitraffer an ihren Augen vorbei. Alle waren sie gekommen. Nun, alle bis auf Lance und Jennifer, denn nach ihrer Rückkehr aus London hatten sie einen Entspannungs-und-Bräunungsurlaub auf einer Schönheitsfarm gebucht, um bei der Hochzeit so auszusehen wie Hazy Hassocks Antwort auf Michael Douglas und Catherine Zeta-Jones.
Gwyneth Wilkins und Big Ida Tomms führten die Fiddlesticks-Fraktion an, und auch mehrere Damen des Donnerstagskränzchens aus Bagley-cum-Russet hatten der Kälte und ihrem unzuverlässigen Minibus für die fünf Kilometer weite Reise getrotzt. Herbie war gekommen, und Hedley und Biff Pippin, auch Mrs Elkins von Patsy’s Pantry, Carmel und Augusta, Otto und Boris vom Faery Glen – und, na ja, einfach alle. Außer, stellte Mitzi betrübt fest, Joel mit der Clique aus der Zahnarztpraxis.
Doll und Lu umarmten sie. Shay und Brett lächelten aufmunternd.
»Sitzt du bei uns?«, fragte Doll. »Wir brauchen dich, damit du uns die Handlung erklärst.«
»Da bin ich überfordert.« Mitzi rang sich ein Lächeln ab. »Die Originalfassung war schon konfus, aber nachdem unsere Gruppe das Stück in die Mache genommen hat, ist es jetzt vollkommen unverständlich geworden.«
»Nette Musik aber«, sagte Lu. »Dürfen wir mitsingen?«
»Aber sicher doch. Sie werden jede Unterstützung brauchen, die sie kriegen können.«
Jedermann stürzte sich bereits auf die ersten Reihen. Mitzi hatte in der Hoffnung, dass Joel vielleicht, ganz vielleicht doch käme, diverse Habseligkeiten über sechs Sitze direkt vor der Bühne verteilt.
»Tolle Plätze«, meinte Brett, als sie sich niederließen. »Für wen ist der andere da? Autsch!«
Es herrschte gespannte Vorfreude, während das Publikum sich darauf einrichtete, unterhalten zu werden. Da Mitzi seit Tagesanbruch die Heizlüfter hatte laufen lassen, war es ausnahmsweise einmal herrlich warm im Saal. Mäntel wurden ausgezogen und Brillen aus Handtaschen gekramt. Die Lichter gingen langsam aus.
Alles machte: »Oooh!«
Der Filzhutmann kämpfte sich durch die schief hängenden Vorhänge, und alles johlte.
»Schön, euch hier versammelt zu sehen«, schrie er ins Mikrofon. Das Mikrofon, viel zu nah am Verstärker, schrie zurück.
Alles klatschte.
»Wir warten nur noch auf ein oder zwei Nachzügler«, brüllte der Filzhutmann. »Dann geht’s los. Ich hoffe, euch gefällt die Aufführung des heutigen Nachmittags, die erste von vielen weiteren geplanten Amateurproduktionen in Hazy Hassocks. Zwischen dem ersten und dem zweiten Akt wird es eine Pause geben, und im hinteren Bereich des Saales stehen Erfrischungen bereit für diejenigen -«
Zu spät. Mitzi schloss die Augen. Das Publikum, in der Warteschlange durchgefroren bis auf die Knochen, ließ sich nicht lange bitten. Stühle wurden scharrend zurückgeschoben, und schon polterten alle zu den Tischen mit dem Essen.
»Für die Pause!«, schrie der Filzhutmann hilflos. »Die Erfrischungen sind für die Pause – verfluchter Mist!«
Irgendwann während der Schlacht ums kalte Büfett, bei der alle kleine Mount Everests auf ihre Pappteller häuften, trafen Tarnia und Schnösel-Mark ein. Der Filzhutmann erspähte sie von der Bühne aus, kletterte die wacklige Treppe herunter und führte sie zu zwei reservierten Sitzplätzen am Ende von Mitzis Reihe.
»Hair?«, formte Tarnia an Mitzi gewandt mit den Lippen. »Ich dachte, es wäre ein Weihnachtsspiel?«
»Wird es auch«, gab Mitzi zurück. »Glaub mir.«
Tarnia war in Pink und Gold gekleidet und glitzerte sehr. Schnösel-Mark, der sichtlich lieber woanders gewesen wäre, trug einen schwarzen Paul-Smith-Anzug und sah mit den nach hinten gegelten Haaren aus wie ein Bestattungsunternehmer.
»Aber Hair?«, beharrte Tarnia. »Ist das nicht ziemlich unanständig? Ich meine, unsere Wohltätigkeitsbeauftragten gehen von einem ganz unschuldigen Spaß für die Dorfkinder aus. Ich bin ganz und gar nicht sicher, ob dies als angemessene Nutzung der Räumlichkeiten gelten kann.«
Mitzi zuckte die Schultern. Es war ihr inzwischen wirklich alles egal.
»Nehmen Sie ein Teilchen, meine Gute!« Clyde Spraggs beugte sich aus der hinteren Reihe vor und hielt Tarnia seinen vollgehäuften Teller hin. »Ein bisschen mehr Fleisch auf den Knochen könnt Ihnen nicht schaden.«
»Also, ich sollte wirklich nicht – ich mache gerade bis zum Ende der Adventszeit die Pratt-Diät – aber ich bin am Verhungern, und eines wird ja gewiss nicht schaden.« Tarnia zögerte einen Augenblick, dann nahm sie sich von der Spitze des Stapels eines der saftigen braunen Törtchen. »Wirklich sehr freundlich von Ihnen. Mitzi, ist das von dir?«
Mitzi nickte und sah, wie Tarnias makellos überkronte Zähne sich in ein Überredungstörtchen senkten. Leise zweifelnd, ob es nun wirken würde oder nicht, sagte sie mit charmantem Lächeln: »Ich bin überzeugt, die Wohltätigkeitsbeauftragten werden mit der Aufführung heute Nachmittag hochzufrieden sein – und auch mit allen anderen Nutzungen des Saales. Und ich bin ebenso überzeugt, dass du ihnen von deiner unablässigen, kontinuierlichen Förderung unserer Projekte berichten wirst, nicht wahr?«
Mitzi war deutlich bewusst, dass Doll ihr misstrauische und Lu ihr aufmunternde Blicke zuwarf. Tarnia aß das Überredungstörtchen auf und tupfte behutsam ihre Lippen ab.
Sie strahlte, so gut es ging. »Köstlich. Zergeht einem auf der Zunge. Hast du daran gedacht, mir deine Faltblätter mitzubringen?«
Mitzi nickte und fischte die Speisekarten aus ihrer Handtasche. Shay und Brett reichten sie die Reihe entlang.
»Sehr schön.« Tarnia dehnte ihr Schmollmündchen zu einem Lächeln. »Und natürlich werde ich bei den Wohltätigkeitsbeauftragten ein Loblied auf Hair singen. Gar kein Thema. Du hast im Dorf wahre Wunder gewirkt, Mitzi. Marquis und ich überlassen dir mit Freuden den Saal, so lange du willst, nicht wahr, Liebling?«
Schnösel-Mark schnaubte.
Lulu zwinkerte Mitzi zu.
Tarnia wischte sich Krümel vom pinkfarbenen Lederschoß. »Mitzi, du siehst immer noch schrecklich aus, nimm’s mir bitte nicht übel. Wirklich ein Jammer, dass du dich nicht mehr am Riemen reißt, aber nun ja, wir können ja nicht alle von Natur aus Glamourgirls sein, nicht wahr?«
Doll und Lulu kicherten.
Mitzi war freudig überrascht, dass die Törtchen noch immer ihren Überredungszauber bewirkten, und antwortete nur mit einem Lächeln. Es interessierte sie nicht, was Tarnia oder sonst wer über ihr Aussehen dachte. Was spielte es denn jetzt überhaupt noch für eine Rolle?
Und wenn die Törtchen noch immer betören konnten, fragte sie sich beiläufig, wie viele der Zuschauer wohl von ihren neuen Mistelzweig-Meringen gegessen hatten oder von den Schäumenden Träumen, an denen sie sich noch einmal versucht hatte, in der Hoffnung, sie bis zur Hochzeit perfekt hinzubekommen, und ob diese Speisen wohl auch ihre übliche Wirkung zeigten.
Diese Frage sollte bald beantwortet werden.
Mit einem Trommelwirbel von der Bühne ging die Deckenbeleuchtung aus und das Rampenlicht an, die Vorhänge ruckelten auf, und alles wurde still.
»Was zum Teufel ist das denn?«, zischte Doll die Reihe entlang. »Warum steht da eine große Galeone mitten in einem Park?«
Mitzi, die das Endergebnis von Raymonds und Timothys Bühnenbild noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, schüttelte verwundert den Kopf.
»Das ist die Cutty Sark«, flüsterte Shay. »Steht auf dem Rumpf. Und da es im Programm heißt, das ganze Stück spielt in Greenwich Village -«
Mitzi gab sich alle Mühe, nicht laut loszuprusten. Nur in Hazy Hassocks konnte missverstanden werden, welches Greenwich gemeint war. Wenn sie genau hinschaute, sähe sie bestimmt auch noch irgendwo das Observatorium und den Nullmeridian – richtig! Dort war er. Er verlief zwischen den sehr englischen aufgemalten Blumenbeeten. Ach, wenn doch Joel nur hier wäre, um das mitzuerleben!
Mehrere andere glucksten laut. Zum Glück war das Gelächter noch nicht bis zur Bühne vorgedrungen, wo der siebzigjährige Sid in der Rolle des Claude mit einer Bettdecke über den Schultern allein im Schneidersitz im Scheinwerferlicht saß, er hatte den Kopf gesenkt, und die langhaarige Acrylperücke drohte seitlich zusehends abzurutschen. Es war ein ehrfurchtgebietender Moment, und dem Publikum verschlug es die Sprache. Die Stille jedoch währte nur einen Augenblick. Als die Hippies auf der Bühne erschienen, brach im Gemeindesaal eine Massenhysterie aus.
Sogar Mitzi, die überzeugt gewesen war, nie wieder lachen zu können, brachte ein beachtliches Glucksen zustande.
Die Fitten Fünfziger kamen mit à la Woodstock 1969 bemalten Gesichtern zu Afroperücken aus Nylon und in einem Sortiment von Kaftans mit Perlen, Blumen und Glöckchen auf die Bühne geschlurft.
Lav und Lob hatten ihre Perücken über die Fahrradhelme gestülpt und winkten vergnügt zur ersten Reihe hin.
Doll und Lulu lachten Tränen, als die Hippies unbeholfen den Altar aufstellten und versuchten, ein Feuer anzumachen, wobei aber die Streichhölzer nicht zündeten, sodass sie sich mit Sids Feuerzeug behelfen mussten. Dann stellten sie fest, dass keiner eine Schere hatte, um die symbolische Haarlocke abzuschneiden, und so warfen sie kurzerhand seine ganze Perücke in die Flammen.
Es zischte und krachte, eine Stichflamme loderte auf.
Der nun kahlköpfige Sid, der normalerweise ständig über seine Arthritis klagte und dahinschlich wie ein Sargträger, sprang auf die Füße und stieß einen wilden Schrei aus.
Die Hippies, über das Inferno augenscheinlich doch ein wenig beunruhigt, drängten sich zurückweichend an den Seitenbühnen zusammen und begannen stotternd eine ziemlich halbherzige Interpretation von »Aquarius« anzustimmen, indes der Filzhutmann ungelenk auf die Bühne kletterte und eine Tasse Kaffee auf die Flammen schüttete.
Das Feuer ging aus. Die Hippies schlurften nach vorn, und »Aquarius« gewann an Lautstärke.
Da irgendwer ein reichlich dubioses Surround-System ausgeliehen hatte, war die Musik von Galt MacDermot ohrenbetäubend laut. Das Publikum, nachdem es nun nicht mehr befürchten musste, wie Brathähnchen gegrillt zu werden, stimmte lauthals mit ein.
Von da an ging es nur noch bergauf. Der erste Akt brauste mit Volldampf voran, kein Mensch im Publikum begriff auch nur ansatzweise, was auf der Bühne vor sich ging, die Schauspieler scherten sich scheinbar auch nicht sonderlich darum, und auf beiden Seiten amüsierte man sich köstlich. Die Fitte-Fünfziger-Version des Titelsongs wirkte so, als würden mehrere Reihen stark betrunkener Onkel und Tanten sich bei einer Hochzeitsfeier zum ersten Mal in Karaoke versuchen.
»Tanzen, verdammt noch mal, ihr sollt tanzen!«, schrie der Filzhutmann von der Seite her.
Die Fitten Fünfziger versuchten ihr Bestes. In Anbetracht ihres Alters schlugen sie sich wacker. Die Bewegungen waren allerdings eher mechanisch als sinnlich; die meisten stolperten über den Saum ihres Kaftans, und mehrere verloren ihre Perücken. Singen und Tanzen gleichzeitig schien bei den Proben kein zwingendes Muss gewesen zu sein. Ronnie kippte um, und Beryl, ohne ihre Brille, wanderte über die Bühnenkante und verschwand unter dem Tapeziertisch mit der Lichtanlage.
»Ich glaub, bei mir setzen gleich die Wehen ein!«, schniefte Doll kichernd. »So sehr hab ich seit Jahren nicht mehr gelacht.«
Ein verhunzter Song folgte dem anderen, es wurden Blumen gestreut, Frank fiel von seiner Stange und musste von anderen gestützt von der Bühne gebracht werden, und Hazy Hassocks tobte vor Begeisterung.
Bernard, Doreen und Christopher tapsten ziemlich unheildräuend auf Zehenspitzen zum vorderen Bühnenrand. Die Tonanlage spielte »Hare Krishna« in einer Endlosschleife. Hazy Hassocks starrte wie gebannt nach vorn.
»Nun ist es Zeit für das Be-in!«, gellte Christopher. »Touristen – kommt zur Orgie!«
Hazy Hassocks war ein bisschen schwer von Begriff.
»Die ziehen ihre Kleider aus!«, kreischte Tarnia frohlockend die Reihe entlang.
So war es. Es war das Beängstigendste, was Mitzi je gesehen hatte. Über dreißig Rentner entblätterten sich bis auf die angegraute Unterwäsche und in einigen Fällen bis auf die noch grauere Haut. Lav und Lob glänzten in Rheumaleibchen. Dank sei dem Herrn, dachte Mitzi, dass die Heizlüfter so gut funktionierten.
»Komm schon!« Shay war aufgestanden und streckte Lu die Hand entgegen. »Wir sind die Touristen. Wir gehen zu einer Orgie.«
Einen Augenblick später hatte er schon seine Jeans und sein Sweatshirt ausgezogen und sprang auf die Bühne. Lu, in Unterhemd und Sloggi-Höschen, folgte ihm nur wenige Sekunden später.
»Mannomann!« Doll sah Mitzi mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Shay hat ja einen fantastischen Körper.« Dann sah sie Bretts gerunzelte Stirn. »Na ja, so toll wie deiner natürlich nicht – aber …«
Als Shay und Lu auf der Bühne waren und sangen und tanzten und die Liebe feierten, fiel bei Hazy Hassocks schnell der Groschen, und es bedurfte keiner zweiten Aufforderung. Hüllen wurden ebenso fallen gelassen wie Hemmungen, und zahlreiche Stühle kippten nach hinten, als das Publikum in verschiedenen Stadien der Entblößung nach vorn drängte.
Tarnia hatte sich kichernd aus ihrem glitzernden pinkfarbenen Lederdress geschält und hüpfte in ganz reizenden Dessous von Janet Reger die Stufen empor. Schnösel-Mark vergrub sein Gesicht in den Händen.
»Ich geh da nicht rauf«, sagte Doll. »Nicht in meinem Zustand. Und was genau hast du bitte in die Erfrischungen getan? Dieses Love-in da oben sieht für meinen Geschmack doch ein klein bisschen zu gefühlsecht aus.«
Mitzi nickte. So war es. Jede Menge überhaupt nicht zusammenpassender Leute betatschten einander und küssten sich. Die Szene drohte in eine echte Orgie auszuarten. Die Mistelzweig-Meringen bedurften also wohl immer noch einer kleinen Korrektur.
»Komm mit, Mitzi!« Flo und Clyde Spraggs, erschreckend knapp bekleidet, packten sie an den Händen. »Rauf mit dir, Schätzchen!«
»Nein! Ich komm nicht mit.«
»Klar kommst du. Ist doch ein Riesenspaß! Schau dir Hed und Biff an! Mrs Elkins und Tammy mit Viv – und Gwyneth mit Big Ida – ach, und hast du Boris und Otto gesehen?«
Mitzi sah es sich an. »Hare Krishna« dröhnte aus den Lautsprechern, und auf der Bühne agierten Zuschauer und Schauspieler gleichermaßen, sie schmusten und sangen und knutschten. Tarnia beknabberte gerade das Gesicht eines sehr jungen Knaben aus der Bath-Road-Siedlung.
Mitzi zögerte. Trug sie vorzeigbare Unterwäsche? War ihr das wichtig?
Unter Gejohle von Doll und Brett zerrte sie sich die Jeans von den Beinen, zog ihren Pullover über den Kopf und stürzte mit Flo und Clyde auf die überfüllte Bühne. Ihr schwarzer BH und Schlüpfer waren zwar nicht ihre besten Stücke, aber zumindest halbwegs ansehnlich, und immerhin hatte sie sich die Beine rasiert.
Es war, fand sie, alles eine Riesengaudi. Und hatte sie nicht irgendwo mal gelesen, selbst Prinzessin Anne hätte in den Sechzigerjahren in einer Aufführung von Hair beim Be-in mitgemischt? Mit über den Kopf erhobenen Armen winkte sie wogend und klatschte und sang »Hare Krishna« aus voller Kehle. Es war genau wie beim Shepton Mallet Blues Festival in ihrer Jugend. Und wenn sie ein gebrochenes Herz hatte, dann war es eben so. Na und?
»So ist es richtig, Süße!«, schrie ihr der Filzhutmann ins Ohr. »Bring dich voll ein!«
Mitzi warf ihm einen Seitenblick zu. Außer seinem Hut hatte er gar nichts mehr an.
Sie tänzelte von ihm fort und landete schließlich mit untergehakten Armen zwischen Ronnie und Philip in einer Art Revuetanznummer. Die Musik dröhnte weiter, der Zuschauerraum war halb leer, die Bühne berstend voll. Jeder begrabschte jeden. Die Mistelzeig-Meringen hatten wieder einmal Wunder gewirkt.
Mitzi lachte zu Doll und Brett hinunter, die klatschend und singend in der ersten Reihe saßen. Sonst sah sie kaum jemanden im Zuschauerraum. Nur vereinzelt einige Gesichter der eher zugeknöpften Dorfbewohner in der Dunkelheit, alle schwenkten die Arme in der Luft oder klatschten oder sangen.
Alle außer einem, der ganz allein am hinteren Ende des Saales stand.
Einer, dessen schönes markantes Gesicht sie mit unergründlicher Miene beobachtete.
»Oh, verfluchte Hölle!«, stöhnte Mitzi.