2. Kapitel
Mitzi musterte die
überquellenden Sporttaschen, die Müllsäcke und die vollgestopften
Waitrose-Tüten, die verstreut in der Diele lagen, und hatte das
Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben.
»Ach du liebe Zeit – nicht schon wieder«, sagte sie
und lächelte ihre jüngere Tochter aufmunternd an. »Du weißt doch,
dass ich mich riesig freue, wenn du wieder zu mir ziehst,
Schätzchen. Dein Zimmer wartet nur auf dich. Aber wir wissen ja
beide, dass du spätestens morgen wieder zu Niall zurückkehrst, also
lass dein Gepäck doch einfach liegen, wo es ist, und komm rein zur
Party.«
»Eine Party?« Lulu warf die perlengeschmückten
Zöpfe klappernd nach hinten und musterte Mitzi aus ihren dick mit
Kajal umrandeten Augen. »Ach du Schande – ich hab doch nicht etwa
deinen Geburtstag vergessen, oder?«
Mitzi schüttelte den Kopf. »Der war letzten Monat.
Du hast mir einen Luffaschwamm und ein Buch über transzendentale
Meditation geschenkt.«
»Ah ja.« Lulu wirkte erleichtert. »Und was wird
dann heute gefeiert?«
»Ach, das ist nur eine kleine Spontanfete, dank der
Nachbarn, um die Kleinigkeit meiner Zwangspensionierung zu feiern.
Das Ende meines Lebens. Dass ich jetzt offiziell zum
alten Eisen zähle. Auf dem Abstellgleis stehe. Überflüssig
bin.«
»So ein Mist!« Lulu verzog betroffen die Miene und
hüpfte über die in der Diele verteilten Gepäckstücke, um ihre
Mutter zu umarmen. »War das heute? Oh Mum – es tut mir ja so leid!
Ich hätte daran denken müssen.«
Mitzi erwiderte die Umarmung, wobei sie wie immer
die zerbrechliche Zartheit ihrer Tochter wahrnahm. Es war, als
umarmte man ein Vögelchen. Lulu roch nach alten Kleidern,
geheimnisvollen moschusartigen Substanzen und Staub. Mitzi hatte
überhaupt nicht erwartet, dass Lulu daran denken würde. Lulu hatte
in ihren ganzen achtundzwanzig Lebensjahren noch nie zum richtigen
Zeitpunkt an etwas gedacht.
»Das macht doch wirklich nichts. Hauptsache, du
bist da – ob nun geplant oder zufällig -, und Doll ist auch schon
mit Fish and Chips auf dem Weg hierher. Da fällt mir ein, ich rufe
sie lieber noch mal an und sage ihr, dass sie mehr mitbringen soll
und -«
Lulu schälte sich aus ihrem Afghanenmantel und warf
ihn übers Treppengeländer, wo er einen Moment lang hängen blieb,
ehe er auf die Stufen rutschte. »Eben! Doll wusste, dass es heute
ist! Sie hätte mich daran erinnern sollen! Sie weiß doch, wie ich
bin, und« – mit blitzenden Augen sah sie ihre Mutter an – »ich gehe
nicht zurück zu Niall. Diesmal nicht. Nie mehr.«
Mitzi lächelte verständnisvoll. »Nein, natürlich
nicht. Jetzt geh ins Wohnzimmer und plaudere mit Flo und Co. Ich
rufe Doll wegen der Extraportionen an, und wir reden dann
später.«
Mitzi nahm das Telefon und schloss die Küchentür
hinter sich. Richard und Judy sprangen auf der Stelle aus dem
Wäschekorb
und schmiegten sich an ihre Beine. Während in der Zahnarztpraxis
von Hazy Hassocks das Telefon klingelte, streichelte Mitzi die
flauschigen grauen Köpfe und dachte über ihre Töchter nach. Nicht
zum ersten Mal fragte sie sich, wie sie und Lance nur zwei so
grundverschiedene Kinder produziert haben konnten.
Auf einmal meldete sich am anderen Ende jemand mit
solcher Stentorstimme, dass Mitzi zusammenzuckte.
»Oh … ja, hallo, Viv. Hier ist Mitzi. Ja, Dolls
Mutter. Ist sie noch da? Ah, gut, gut. Hören Sie, könnten Sie ihr
bitte ausrichten, dass sie Fish and Chips für fünf Leute mitbringen
soll – und für sich selbst natürlich? Ach, und einen Veggie-Burger
für Lu? Sagen Sie ihr, ich bezahle ihr alles, wenn sie kommt.
Danke. Was? Nein, ich habe nicht Geburtstag. Nein, nichts
dergleichen. Nein, eigentlich überhaupt keine Feier … Was? Ich bin
heute in Rente gegangen, weiter nichts – ja, heute. Ja, es ist
wirklich überraschend gekommen. Nein, ich habe keine Ahnung, was
ich jetzt mit meiner Zeit anfange. Den allwöchentlichen
Blumenschmuck für die Kirche? Ehrlich? Nein, das ist mir noch nicht
direkt in den Sinn gekommen … nein, auch nicht der Rasenbowlingclub
oder die Frühstückstreffen der Evergreens – oder was?
Kricketimbisse? Guter Gott …«
Sie legte auf, ehe Viv sie noch tiefer in
Depressionen stürzen konnte. Der Blumenschmuck für die Kirche, die
Evergreens, der Rasenbowlingclub und die Kricketimbisse standen
allesamt unter Obhut und Knute alter Damen. Richtig alter Damen.
Wie Lobelia und Lavender. Die allesamt ärmellose Strickwesten
trugen, drinnen die Hüte aufließen, aber die Mäntel auszogen und im
Winterbrook Advertiser als Erstes die Seite
mit den Todesanzeigen aufschlugen.
So weit war es doch bestimmt noch nicht. Nicht mit
ihr.
Nicht, solange sie in der Küche noch tanzte, wenn auf Radio Two
die Rolling Stones kamen, und daran zurückdachte, wie sie 1969 im
Hyde Park genauso getanzt hatte, ohne sich jetzt auch nur einen Tag
älter zu fühlen.
Sie hob Richard und Judy auf und küsste sie.
»Anscheinend gehöre ich jetzt offiziell zum alten Eisen von Hazy
Hassocks. Na denn … Aber wenn ihr mich je dabei erwischt, wie ich
den Teekannenwärmer als Hut missbrauche oder um Mitternacht durch
den Garten schleiche und Sträucher stutze oder jeden Satz mit ›zu
meiner Zeit war das aber ganz anders‹ beginne, dürft ihr euch gern
ein neues Zuhause suchen, okay?«
»Pass bloß auf, Mitzi.« Flo Spraggs schob sich
durch die Küchentür. »Selbstgespräche sind eines der ersten
Anzeichen. Ich wollte nur ein paar Gläser für Clydes
Holunder-Rhabarber-Wein holen. Lulu trinkt ihn gleich aus der
Flasche. Behauptet, sie sei völlig durch den Wind.«
»Wann wäre sie das nicht?«, stöhnte Mitzi und
suchte aus dem Hängeschrank über dem Herd eine bunte Mischung
verschiedenster Gläser heraus. »Sie und Niall waren von Anfang an
eine explosive Mischung. Ganz anders als Doll und Brett.«
Flo nahm die Gläser in Empfang. »Ach, aber
vielleicht ist es besser, wenn ein bisschen die Funken sprühen.
Manchmal, wenn ich mir Doll und Brett anschaue, tun sie mir
leid.«
»Ja? Ich fand immer, sie würden -«
»Sich zu Tode langweilen«, beendete Flo den Satz.
»Du wirst noch merken, dass ich recht habe. Sie sind zusammen, seit
sie Schulkinder waren – wie lange schon, fünfzehn Jahre?
Unverheiratet, nichts als fünfzehn Jahre der gleiche alte Trott.
Was soll daran noch aufregend sein?«
»Vielleicht wollen sie keine Aufregung. Vielleicht
haben sie gefunden, was sie gesucht haben, und sich für
Zufriedenheit und Vertrautheit entschieden. Vielleicht sind sie
einfach glücklich miteinander.«
»Vielleicht aber auch nicht.« Flo ließ die Gläser
gegeneinanderklirren. »Jedenfalls hast du jetzt mehr als genug
Zeit, um deine beiden Töchter auf Kurs zu bringen, oder?«
»Ja, wahrscheinlich schon.« Mit einem letzten
betrübten Blick auf Richard und Judy nahm Mitzi die restlichen
Gläser und folgte Flo aus der Küche.
Die Bandings genossen im Wohnzimmer immer noch das
Kaminfeuer und drängten ihre mageren Körper mit dem Rücken zu den
flackernden Flammen aneinander. Die langen, weiten Röcke hatten sie
gelüftet, damit die Wärme auch ihre spindeldürren,
baumwollbestrumpften Beine erreichte.
Clyde saß neben Lu auf dem pflaumenblauen Sofa und
redete ernst auf sie ein, wobei man ihrem verschwommenen Blick
ansah, dass sie schon einiges vom Holunder-Rhabarber-Wein intus
hatte. Mitzi hoffte, dass Doll bald mit Fish and Chips und dem
extra für Lulu bestellten Veggie-Burger eintraf, denn Lulu brauchte
dringend eine massive Dosis gesättigter Fettsäuren und
Kohlenhydrate, um den Alkohol aufzusaugen. Clydes selbstgebrauter
Fruchtwein hatte nämlich fast 50 Prozent Alkohol. Gerüchten zufolge
betankte Flo ihr Moped damit, und sie benutzten ihn seit jeher, um
am fünften November das traditionelle Funkenfeuer von Hazy Hassocks
in Brand zu stecken.
Während Flo rasch die Gläser füllte, schmunzelte
Mitzi über die seltsame Mischung von Leuten in ihrem Wohnzimmer.
Mit Ausnahme von Lulu waren sie alle gekommen, weil sie sie mochten
und sie nicht allein lassen wollten. Vielleicht
würde ja alles gut werden. Vielleicht würde sie sich an all die
frauentypischen Beschäftigungen und die billigen Mittagsmahlzeiten
für Rentner im Faery Glen, dem einzigen Pub
in Hazy Hassocks, ebenso gewöhnen wie daran, dass sie nicht mehr
daran denken musste, sich die Augenbrauen zu zupfen, die Beine zu
rasieren und die Schuhe zu putzen.
»Mitzi«, begann Lavender und griff nach ihrem
Weinglas, ohne sich auch nur einen Millimeter vom Feuer
wegzubewegen, »wir haben gerade darüber gesprochen, dass du dir ein
paar kleine Hobbys suchen musst, damit du nicht – na ja – seltsam
wirst. Nicht wahr, Lobelia?«
»Genau.« Lobelia leerte ihr Glas auf einen Zug,
ohne zu husten oder sich auch nur eine Träne verdrücken zu müssen.
»Allein und überflüssig zu sein, kann einen abgrundtief unglücklich
machen. Da sind Lavender und ich als Schwestern ja ausnahmsweise im
Vorteil. Wir haben zwar kein Geld und machen uns keine Hoffnungen
auf ein Wunder, aber wir haben einander. Es ist immer jemand da,
der sich um einen kümmert, wenn man an manchen Tagen am liebsten
den Kopf in den Gasherd stecken möchte.«
»Äh – ja, ja – ich verstehe schon, was das für
Vorteile hat …« Mitzi sah angestrengt zu Boden.
Lavender schlürfte geräuschvoll die letzten Tropfen
aus ihrem Glas und hielt es zum Nachschenken hoch. »Ein paar von
uns treffen sich jeden Donnerstagnachmittag im Nebenraum des Faery
Glen, nachdem wir unsere Renten abgeholt haben. Dann spielen wir
ein bisschen Bingo und trinken ein schönes Glas Sherry. Das würde
dir bestimmt gefallen. Soll ich dich auf die Liste setzen?«
Mitzi nickte und wich Lulus entsetztem Blick aus.
»Das ist – ähm – sehr nett von euch.«
»Und«, fuhr Lobelia fort, nachdem Clyde die Gläser
der beiden aufgefüllt hatte, »vielleicht möchtest du ja ein paar
Quadrate für unsere Weihnachtsdecken stricken. Wir machen eine
ganze Menge davon für die armen Leute im Ort.«
Mitzi nickte erneut. Wie lange würde es dauern, bis
eine muntere ittvierzigerin mit einer aus beigen und grünlichen
Flicken zusammengestückelten Decke an ihrer Tür klopfte?
»Und falls du merkst, dass die Rente nicht reicht«,
fuhr Lavender fort und wankte unsicher auf das Kaminfeuer zu,
»kannst du immer noch einen Untermieter ins Haus nehmen. Wir
vermieten jetzt unser Gästezimmer, um unsere Renten ein bisschen
aufzubessern, stimmt’s, Lobelia?«
»Genau«, bestätigte Lobelia. »Wir haben in der
Arztpraxis einen Aushang angebracht. Wir bieten sogar Frühstück.
Cornflakes und Toast. Wir wollten eine
nette, berufstätige junge Frau. Eine, die sich zu benehmen weiß –
aber dieser linksradikale Sturkopf von Doktor sagt, wir dürfen das
– äh – Geschlecht nicht vorschreiben.«
Lavender sah verlegen drein. »Na ja, das durften
wir nicht, weil es angeblich nicht politisch korrekt ist – so ein
Quatsch! Deshalb mussten wir ›Person‹ schreiben. Höchst
unbefriedigend. Na, jedenfalls kriegen wir jemanden aus der
Medizinbranche, der uns bei unseren kleinen Zipperlein beistehen
kann.«
Insgeheim mutmaßte Mitzi, dass Lav und Lob durch
ihren Aushang in der Arztpraxis eher jemanden bekommen würden, der
noch schwächer und gebrechlicher war als sie selbst. Außerdem würde
jeder Untermieter, der das Pech hatte, bei ihnen einzuziehen,
binnen vierzehn Tagen verhungern. Sie lächelte aufmunternd. »Das
ist eine gute Idee, aber ich halte die Zimmer der Mädchen lieber
für sie frei – nur für den
Fall des Falles -, daher habe ich keinen Platz für einen
Untermieter.«
Die Bandings klapperten über diese Kurzsichtigkeit
unisono mit ihren Gebissen.
»Ach, du findest auch ohne diesen Altweiberquatsch
genug anregenden Zeitvertreib«, meinte Clyde gelassen. »Weitaus
Besseres, wofür du deine Zeit verwenden kannst. In Hazy Hassocks
gibt es genug Skandale und Gaunereien, die du als
Vollzeitberufstätige, die die meiste Zeit gar nicht hier ist,
bestimmt überhaupt nicht mitbekommen hast.«
»Ehrlich? Verwässern Otto und Boris im Pub das
Bier? Oder verlangt Mrs Elkins von Patsy’s Pantry zu viel für ihr
Kleingebäck?«
Clyde strich sich über den Schnurrbart. »Ja, mach
nur deine Witze, junge Frau, aber unser Dorf ist nicht die Insel
der Seligen, die es oberflächlich betrachtet zu sein scheint. Es
gibt eine ganze Menge Missstände. Und es wäre nicht das Dümmste,
wenn du dich in den Gemeinderat wählen lassen und anfangen würdest,
die schlimmen Finger zur Ordnung zu rufen.«
»Ich? Aber ich war noch nie politisch -«
»Du warst auch noch nie arbeitslos«, erwiderte
Clyde ungerührt. »Dem Gemeinderat täte ein bisschen frisches Blut
gut, das die Schmiergeldbrigade ausräuchert, und du wärst
wahrscheinlich froh um etwas, wofür du dich engagieren kannst, da
du ja jetzt -«
»- so viel Freizeit hast«, beendete Mitzi an seiner
Stelle den Satz, noch ehe er sämtliche Anwesenden mit seinen
Geschichten einschläferte, in denen er Hazy Hassocks in gefährliche
Nähe zu Watergate rückte. »Ja, ich weiß. Oh … ich glaube, ich habe
die Haustür gehört. Das muss Doll mit dem Essen sein. Entschuldigt
mich …«
Mitzi spurtete regelrecht aus dem Wohnzimmer und
durch die Diele und zerrte ihre ältere Tochter durch die halb
geöffnete Tür. Der dunkle, kalte Abend drang hinter ihr herein,
begleitet von ein paar Spritzern Regen und etwas feuchtem
Laub.
»Meine Retterin.« Mitzi küsste Doll überschwänglich
und schlug mit einem Tritt die Tür zu. »Du hast mich gerade vor dem
Versprechen bewahrt, meinen Lebensabend mit Stricken und Bingo zu
verbringen, Untermieter aufzunehmen, mich im Gemeinderat zu
langweilen, bis sich mir die Fußnägel aufrollen, und Hazy Hassocks
von Gaunern zu befreien und -«
»Hast du was getrunken?« Doll musterte ihre Mutter,
während sie ihren Wildledermantel und den langen Wollschal auszog
und beides sorgfältig an die Flurgarderobe hängte. »Du hast etwas
getrunken, oder? Mein Gott, doch nicht etwa eine von Clydes
Mixturen?«
»Doch, schon, aber nur ein kleines Glas. Und ich
bin ehrlich nicht betrunken, obwohl ich von Lulu leider nicht das
Gleiche behaupten kann.«
»Mann.« Doll grinste. »Ist sie da? Hat sie von ganz
allein daran gedacht?«
»Nicht direkt«, räumte Mitzi ein und ging ihr in
die Küche voraus. »Sie hat Niall verlassen. Mal wieder. Oh, diese
Pommes riechen ja so gut! Ich habe gar nicht gemerkt, wie hungrig
ich bin. Sollen wir Teller nehmen, oder essen wir aus dem
Papier?«
»Unbedingt aus dem Papier. Das spart Abwasch und
schmeckt besser. Oh, schöne Blumen – Chrysanthemen. Sehr
trübsinnig. Sehr passend.« Doll grinste, während sie ein
Extrapäckchen dampfenden Kabeljau öffnete und den Inhalt
in den Wäschekorb kippte. Das Schnurren und Maunzen ließ darauf
schließen, dass Richard und Judy den Fisch mehr als genießbar
fanden. »Also, warum haben sich Lu und Niall diesmal
getrennt?«
»Keine Ahnung. So weit sind wir nicht gekommen.
Wahrscheinlich hängt es wie üblich damit zusammen, dass sie etwas
Lebenswichtiges vergessen hat.«
Doll lehnte sich an den Küchentisch. »Es hängt wohl
eher damit zusammen, dass Niall ein Blödmann ersten Ranges ist.
Aber ehe wir jetzt da reingehen und die Speisung der Fünftausend
vornehmen – sag mal, geht’s dir auch gut? Ganz ehrlich?«
Mitzi sah Doll an, die in einem adretten
Zahnarzthelferinnenkittel steckte und ihr blondes Haar in einem
praktischen Stufenschnitt trug. Sie war zwei Jahre älter als Lulu
und ein krasser Gegensatz zu deren schäbigem Secondhandlook. Mitzi
nickte. »Mir fehlt nichts, Schätzchen. Ich hatte zwar gleich nach
dem Nachhausekommen einen schwachen Moment, aber offenbar hat jeder
Dorfbewohner einen Tipp für mich, was ich mit meinen goldenen
Jahren anfangen kann. Wenn ich das alles mache, bleibt mir keine
einzige Minute, um mich in Selbstmitleid oder Bitterkeit zu suhlen.
Nein, ehrlich, mir geht es blendend. Wir wissen beide, dass ich
schon Schlimmeres überlebt habe.«
Ihre Blicke trafen sich. Die böse Enthüllung auf
der Silberhochzeit würde als einer der schrecklichsten Momente
aller Zeiten in den Annalen der Familiengeschichte der Blessings
eingemeißelt bleiben.
»Und wo wir schon bei diesem schönen Thema sind«,
sagte Doll grinsend. »Hat Dad angerufen, um zu fragen, wie sich das
Rentnerdasein anlässt?«
»Bis jetzt nicht. Aber das macht er bestimmt noch,
sobald er sich einen Moment lang von der Zimtzicke loseisen kann.
Komm, jetzt lass uns die hungrigen Horden füttern …«
Die Fish and Chips wurden mit hysterischen
Begeisterungsschreien von den Banding-Schwestern, einem schroffen
Dankeschön von Clyde und Flo sowie völligem Schweigen von Lulu
aufgenommen, die vom Sofa gerutscht war und nun zusammengerollt auf
dem Teppich lag und schlief.
Gegen halb elf hatten sie alles restlos verputzt,
Lulu war aus dem Tiefschlaf erwacht, die Weinflaschen waren geleert
und die Nachbarn verabschiedet.
Mitzi streckte sich genüsslich vor dem Feuer aus
und bemühte sich, Richard und Judy nicht zu stören, die auf der
Suche nach Resten hereinspaziert waren und sich auf ihrem Schoß
niedergelassen hatten. Es war wirklich sehr angenehm, dass sie
jetzt nicht schleunigst zu Bett gehen und am nächsten Morgen um
sieben wieder aufstehen musste, um zu einem weiteren Arbeitstag in
der Bank anzutreten. Vielleicht würde sie sich wie gewohnt den
Wecker stellen und dann den herrlichen Luxus genießen, ihn
auszumachen und sich noch eine Stunde oder so unter ihr Daunenbett
zu kuscheln.
Über den Kaminvorleger hinweg sah sie Doll an.
»Fragt sich Brett nicht, wo du bleibst?«
»Glaub ich kaum. Bestimmt ist er vor dem Fernseher
eingeschlafen, irgendwann wieder aufgewacht und ins Bett gegangen.
Manchmal habe ich den Verdacht, er würde es nicht merken, wenn ich
eine ganze Woche lang nicht nach Hause käme.«
Mitzi zog die Brauen hoch. »Na ja, er hat auch
wirklich schreckliche Arbeitszeiten …«
»Stimmt.« Doll nickte. »Und ich bin ebenso an
seinen Tagesablauf
gewöhnt wie er an meinen. Wir sind einfach aufeinander
eingespielt. Wir haben keinen Stress.«
»Vermutlich haben Niall und ich euren Anteil
abgekriegt«, murmelte Lulu aus den Tiefen des Sofas. »Wir sind
Stress in Reinkultur.«
»Das liegt daran, dass er ein Blender und ein
Blödmann ist und du eine schlimme Chaotin«, sagte Doll heiter. »Und
du bist selbst schuld, weil du deine Herkunft vergessen und deine
Grundsätze aufgegeben und dich einem statusgeilen Karrieristen an
den Hals geworfen hast, statt dich mit einem schlichten
Dorfburschen mit schwieligen Händen zu begnügen.«
»Komm du mir nicht mit der Sozi-Schiene«, zischte
Lulu ihre Schwester an. »Nur weil ich mir etwas höhere romantische
Ziele gesetzt habe als Briefträger Brett.«
Doll streckte ihr die Zunge heraus, und Lulu rächte
sich, indem sie ein grell pinkfarbenes Plüschkissen quer durchs
Zimmer auf sie feuerte. Mitzi lächelte zufrieden. Es war herrlich,
sie beide wieder hierzuhaben. Genau wie früher.
»Offen gestanden war ich schon immer der Meinung,
dass ihr alle beide die falschen Männer gewählt habt. Wenn ihr die
Partner tauschen würdet, wärt ihr in meinen Augen besser dran
-«
»Mum!« Doll und Lulu jaulten im Gleichklang auf.
»Bitte! Ausgeschlossen!«
Lachend schob Mitzi Richard und Judy auf je ein
Knie und sah Lulu an. »Worum ging es denn bei diesem speziellen
Streit? Ich meine, du brauchst es uns nicht zu sagen, wenn du
partout nicht willst -«
»Doch, will sie«, fiel Doll ihr ins Wort. »Wir
haben East-Enders verpasst – aber Lulu und
Niall sind fast genauso unterhaltsam.
Hast du mal wieder sein minimalistisches Designer-Arrangement aus
Weidenzweigen mit deinen Räucherstäbchen abgefackelt?«
»Er hat gesagt, ich soll die Arbeit
aufgeben.«
»Was?« Doll war außer sich. »Oh Gott – doch nicht
das abgeschmackte Gerede von wegen aufhören zu arbeiten und ein
Kind kriegen?«
Lulu schüttelte den Kopf, dass ihre beperlten Zöpfe
klackten wie Kastagnetten. »Nein, natürlich nicht. Er will nur,
dass ich mir einen richtigen Job suche. Einen, in dem ich ein
schickes Kostüm trage, einen Wagen mit Fließheck fahre und aus
meiner Designerbrieftasche Visitenkarten verteile und -«
»Und Schweinen das Fliegen beibringst!« Doll
schnaubte in das Plüschkissen. »Wenn er mit der Geschäftsfrau des
Jahres zusammenleben will, hätte ihm das einfallen sollen, bevor er
dich zu sich in seinen Yuppieschuppen geholt hat.«
»Es ist ein Loft«, erklärte Lulu. »Eine Loftwohnung
für Jungmanager. Ich glaube, er hat mich als Herausforderung
gesehen und gedacht, er könnte mich beizeiten umkrempeln.«
»Wie das Loft«, kicherte Doll. »Nein, entschuldige
… erzähl weiter – warum will er denn, dass du deinen Job aufgibst?
Abgesehen davon, dass du den ganzen Tag zwischen dem Plunder und
den schmutzigen Klamotten anderer Leute in diesem seltsamen
Tierschützerladen verbringst und nur geringfügig weniger verdienst
als eine Zeitungsbotin.«
»Das ist es ja gerade«, seufzte Lulu. »Er meint, er
hat genug davon, dass ich kaum etwas verdiene und nicht genug zu
den gemeinsamen Ausgaben beitrage und mich ständig auf Demos
rumtreibe. Und wenn wir zu seinen Geschäftsessen gehen, sagt er,
ich sehe aus wie eine Pennerin. Und er wirft
mir vor, ich würde ein Designerlabel nicht mal erkennen, wenn es
auf meiner Schulter sitzt und sich vorstellt. Und er sagt, ich
stopfe seine Wohnung mit Gerümpel voll und vergesse immer alles.
Das stimmt ja auch, aber ich habe es so satt, mich deswegen
herumzustreiten – wir müssen wohl einfach akzeptieren, dass wir
nicht zusammenpassen.«
»Und ihr habt lediglich drei Jahre gebraucht, um
das festzustellen, ja? Alle anderen wussten es auf den ersten
Blick. Ich habe nie begriffen, warum ihr beiden euch überhaupt
zusammengetan habt. Ihr wart von vornherein wie Feuer und Wasser –
Brett und ich haben immer gedacht, du würdest bei einem Verkäufer
der Obdachlosenzeitschrift enden, was wesentlich besser gepasst
hätte. Dabei sieht Niall nicht einmal gut aus. Ein gutaussehender
Idiot hätte wenigstens noch gewisse Vorteile gehabt.«
Lulu zuckte die Achseln. »Ich glaube, ich habe mich
irgendwie von ihm beeindrucken lassen. Er war so – na ja – anders
als die anderen Typen, die ich kannte. Wenigstens hatte er einen
Job … nein, einen Beruf. Als Personalberater steht er statusmäßig
ein paar Stufen über einem blöden Briefträger.«
»Ooooh! Hör dich mal reden! Dabei hast du doch
geschworen, zugunsten des edlen Strebens nach Tierschutz auf allen
materiellen Besitz zu verzichten. Und was ist so ein
Personalberater schon Großartiges? Er ist doch auch bloß ein
affiger Anzugträger, der in einem Büro hockt und sich an seinen
eigenen Job klammert, indem er andere arme Trottel in ungeeignete
Positionen manövriert und -«
»Immer noch besser, als mit einem Sack auf dem
Fahrrad herumzufahren und Zeug in Briefkästen zu stopfen!«
»Mädchen …« Mitzi versuchte die beiden zu
beruhigen,
wie sie es schon seit einer halben Ewigkeit immer wieder tat. »Ehe
wir dieses ausgelutschte Thema weiter beackern und ihr noch
anfangt, euch gegenseitig an den Haaren zu ziehen, wollte ich
fragen, ob vielleicht jemand Kaffee möchte.«
»Ich nicht, danke.« Doll entflocht ihre langen,
schwarz bestrumpften Beine und stand auf. »Ich muss los. Morgen hat
die Praxis Frühsprechstunde, und ich stecke garantiert im
Handumdrehen bis zum Ellbogen in kariösen Backenzähnen.« Sie beugte
sich über die Sofalehne und zog demonstrativ an zwei von Lulus
Zöpfen. »Kopf hoch, Lulu. Wenn du ihn diesmal wirklich endgültig
verlassen hast und hier einziehst, kannst du Mum wenigstens dabei
helfen, Pullunder und Pantoffeln auszusuchen, und sie bei der
Auswahl des Nachmittagsprogramms im Fernsehen beraten -«
Mitzi ergatterte das Plüschkissen eine Nanosekunde,
bevor Lulu danach greifen konnte, und schleuderte es der
davongehenden Doll in den Rücken.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Doll
sicher in ihrem Auto saß – nicht dass ernsthaft das Risiko einer
Entführung vor dem Gartentor bestanden hätte -, und ihr nachgewinkt
hatte, bis ihre Rücklichter um die Ecke verschwunden waren,
erschauerte Mitzi und sperrte hinter sich die Haustür ab. Das Haus
umhüllte sie mit behaglicher Wärme. Es war ihr Kokon. Wenn sich das
ungewohnte Gefühl endloser Tage ohne Arbeit erst einmal abgenutzt
hatte, wurde es vielleicht anders, aber in den ersten paar Wochen
könnte sie sich doch bestimmt einreden, sie hätte Urlaub,
oder?
Lulus Taschen waren aus dem Flur verschwunden, und
das Wohnzimmer war leer. Also würde sie zumindest heute Nacht nicht
mehr zu dem lieblosen Niall in sein minimalistisches Loft
zurückkehren. Mitzi machte das Kaminfeuer
und sämtliche Lampen aus und fragte sich, ob Lulu nach der
Trennung wohl ebenso tief verletzt war wie sie selbst damals.
Wahrscheinlich nicht. Das hoffte sie jedenfalls. Diese Art von
Schmerz wünschte sie wirklich niemandem.
»Also dann gute Nacht«, rief sie dem Wäschekorb zu
und löschte das Licht in der Küche.
Richard und Judy gaben keine Antwort, doch Mitzi
hörte sie im Schlaf wohlig schnurren. Natürlich war das alles nur
ein Trick. Ein Teil der allabendlichen Routine. Sie ließen ihr eine
Stunde Vorsprung, um das Bett anzuwärmen, ehe sie nach oben jagten,
sich den Weg unter die warme Daunendecke bahnten und sich die ganze
Nacht an sie kuschelten, so tröstlich wie zwei identische
grauseidene Wärmflaschen.
Alles in allem war es ein schöner Abend gewesen,
dachte sie, während sie die Treppe hinaufging. Oben sah sie, dass
bei Lulu noch Licht brannte, ehe sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer
öffnete. Mitzi nickte weise vor sich hin und schlüpfte in ihren
Schlafanzug. Morgen begann ein völlig neues Leben … so musste sie
es sehen. Als Herausforderung. Sich selbst neue Ziele setzen. Neue
Horizonte erobern. Jeden Tag etwas Neues, bis sie das Gefühl bekam,
dass alles einen Sinn hatte und … Da unterbrach das schrille
Klingeln des Telefons ihre Lebensplanung.
»Mist …« Sie tastete auf dem Frisiertisch nach dem
Apparat. »Okay, okay … wo ist denn das blöde Ding? Und wenn es
Niall ist, der Lulu sprechen will, mache ich kurzen Prozess mit ihm
– ah!« Sie kramte das Telefon unter einem Haufen
Make-up-Fläschchen, Cremetuben und Wattebällchen hervor. Ihr Leben
hatte wirklich dringend einen Großputz nötig.
»Hallo? Ach, du bist es …« Sie verzog das Gesicht,
als sie die Stimme ihres Exmannes erkannte.
»Mitzi, entschuldige bitte, dass ich so spät noch
anrufe«, flüsterte Lance. »Aber ich musste einfach wissen, wie es
dir geht.«
»Es ist schon fast Mitternacht.« Mitzi hüpfte mit
nur einem Bein in der Schlafanzughose umher. »Und wenn du
flüsterst, weil Jennifer dich hören könnte, dann wäre es
wahrscheinlich besser gewesen, du hättest überhaupt nicht
angerufen.«
»Sei doch nicht so, Liebes. Du weißt, dass Jennifer
es nicht mag, wenn ich dich anrufe, aber sie schläft – glaube ich
-, und ich habe heute einfach keine Ruhe gefunden, ehe ich mich
nicht erkundigt habe, ob du alles überstanden hast.«
»Natürlich habe ich es überstanden. Und nenn mich
nicht ›Liebes‹«, knurrte Mitzi in den Hörer, den sie sich unters
Kinn geklemmt hatte, bis sie es endlich schaffte, auch mit dem
zweiten Bein in die Schlafanzughose zu schlüpfen. »Es war in
Ordnung. Es ist in Ordnung. Es wird alles in Ordnung sein -«
»Hör auf mit der dämlichen Grammatikübung«,
kicherte Lance. »Ich wäre ja vorbeigekommen, aber Jennifer ist
heute Abend nicht ins Fitnessstudio gegangen, und da konnte ich
nicht weg.«
»Gütiger Himmel! Du müsstest dich mal reden hören.
Das klingt ja fast, als wäre ich so was wie deine Geliebte. Wir
hatten einen herrlichen Abend – die Mädchen waren da und Flo und
Clyde, und dann sind noch Lav und Lob rübergekommen, und wir haben
eine kleine Party gefeiert.«
»Oh – gut …« Lance klang wehmütig. »Hauptsache, du
warst nicht allein.«
»Nein, war ich nicht, aber selbst wenn ich es
gewesen wäre, ist das wohl kaum mehr dein Problem, oder? Hör mal,
es ist nett, dass du anrufst, aber es ist alles in Ordnung. Jetzt
leg
lieber auf, ehe Jennifer noch aufwacht und wissen will, mit wem du
da telefonierst. Ach, und übrigens, Lu ist hier. Sie hat Niall
verlassen. Gute Nacht.«
Im sicheren Wissen, dass Lance getroffen war und
Jennifer wahrscheinlich gar nicht schlief, sondern ihn die ganze
Nacht mit bohrenden und peinlichen Fragen quälen würde, legte sich
Mitzi mit zufriedenem Lächeln ins Bett und griff nach ihrem Buch.
Richard und Judy kamen auf Samtpfoten hereingeschlichen. Sie
platzierten sich rechts und links von ihr, traten mit Riesengetue
die Bettdecke in die richtige Form und schnurrten laut, ehe sie
sich mit einem doppelten Katzenseufzer niederließen.
Mitzi streichelte sie alle beide und lächelte. Sie
hatte es warm und gemütlich, Lulu war sicher im Zimmer nebenan
untergebracht, Doll war zu Hause bei Brett, und die Katzen waren
zufrieden. Was wollte sie mehr? Okay, jetzt, wo sie pensioniert
war, würde das Leben ziemlich eintönig werden, doch damit wurde sie
schon fertig.
Sie begann zu lesen, während der Wind den Regen
gegen das Fenster peitschte. Das Buch war ein reichlich
blutrünstiger Krimi, in dem die arme Heldin alle möglichen
Grässlichkeiten durchstehen musste und die Spannung mit jedem
Absatz stieg. Müde und zufrieden schmiegte sich Mitzi in die Kissen
und genoss den Nervenkitzel aus zweiter Hand. Ab sofort gab es für
sie spannende Erlebnisse nur noch aus Büchern oder Filmen. In Hazy
Hassocks würde ihr gewiss nie etwas Aufregendes passieren, oder?
Sie müsste sich eben damit abfinden, dass der Rest ihres Lebens
sterbenslangweilig würde. Sie seufzte und blätterte eine weitere
Seite um.