18. Kapitel
Aber ich meine doch bloß,
dass man nicht von ihnen verlangen kann, diese Szene nackt zu
spielen!«, rief Mitzi über den Trubel im Gemeindesaal hinweg dem
Filzhutmann zu. »Nicht im Dezember. Nicht in ihrem Alter. Da holen
sie sich doch den Tod!«
»Natürlich machen sie es im Adamskostüm, wenn sie
das so wollen«, fauchte der Filzhutmann. »Verdammt noch mal, Mitzi,
du warst doch diejenige, die gesagt hat, es gibt ein Leben jenseits
der fünfzig, und das würden wir schon beweisen. Schau, ich zwinge
sie ja nicht. Aber sie wollen es eben ganz authentisch. Das ist
doch nichts, wofür man sich schämen müsste. Es steht so im Skript.
Und wir machen hier ja schließlich keine Pornographie.«
Na, Dank sei dem Herrn für kleine Gnaden, dachte
Mitzi, die gerade einen Haufen Goya-Badewürfel mit längst
abgelaufenem Haltbarkeitsdatum auf ihrem Tapeziertisch zu einer
hübschen Pyramide stapelte. Wenn die FFC-Fassung von Hair unter Pornographie-Verdacht geriete, würde das
Ordnungsamt in Hazy Hassocks einschlagen wie der Blitz beim
Donnerwetter.
Der Filzhutmann reckte die Schultern. »Wir machen
noch einen Durchlauf, wenn dieser Basarzirkus hier vorbei ist.
Bleibst du da und schaust zu?«
»Äh, nein … ich glaube nicht. Ich hab noch jede
Menge zu tun und -«
»Solltest du aber, weißt du. Sie sind wirklich gut.
Raymond und Timothy haben uns ein herrliches Bühnenbild von
Greenwich Village gemacht, Merle hat die Beleuchtung in den Griff
gekriegt, und seit wir das mit der Akustik gecheckt haben, hört man
bei den Liedtexten jedes Wort auch noch ganz hinten im Saal.«
Mitzi schauderte.
Es war der Tag des Adventsmarkts von Hazy Hassocks.
Eigentlich war es am letzten Samstag im November bis Weihnachten
noch lange hin, aber dies war der traditionelle Termin, an dem die
Dorfbewohner scharenweise einfielen, um rechtzeitig vor dem Fest
diese und jene Kleinigkeit für ihre Lieben zu kaufen.
Im Gemeindesaal – dekoriert mit trübseligen
handgeklebten Papiergirlanden in Friedhofsbraun und Düngergrün und
mehreren gruseligen, schielenden Watteschneemännern, angefertigt
von der Vorschulklasse der örtlichen Grundschule – war mächtig viel
Betrieb. Mitzi, die wie immer für die Abteilung Kosmetik zuständig
war, hatte tausend Sachen im Kopf.
Die Hochzeitsplanung lief gut. Sie war mit Doll und
Lu in Reading gewesen und hatte das Brautkleid gekauft. Es war ein
klassisches weißes Trägerkleid aus glänzendem Satin mit einer
weißen Boa aus Schwanendaunen, dazu lange weiße Handschuhe und eine
reichlich aufwändige Tiara. Mitzi fand das Kleid hinreißend schön,
aber wahrscheinlich war es viel zu sommerlich. Doll hatte
allerdings gemeint, ihre Hitzewallungen, die sie wohl anstelle von
Morgenübelkeit plagten, würden von innen für mehr als genug Wärme
sorgen.
Lu hatte sich im Hinblick auf ihr
Brautjungfernkleid erstaunlich fügsam gezeigt. Sie schien wegen
Shay auf einer ganz eigenen rosa Wolke zu schweben. Rosa zu tragen
hatte sie sich allerdings geweigert, ebenso Hellblau oder Lila,
aber mit dunkelroter Seide war sie ganz einverstanden gewesen und
hatte sich sogar bereiterklärt, purpurne Perlen mit Efeu und
Stechpalmenblättern in ihre Zöpfe zu flechten.
Wie zu erwarten, hatte sie es kategorisch
abgelehnt, für diesen Anlass ihre Haare frisieren zu lassen, aber Doll hatte sich in diesem
Punkt gerne kompromissbereit gezeigt. Vor allem, da Lu anstelle
ihrer geliebten Doc-Martens-Stiefel sehr elegante hochhackige,
rotseidene Stöckelschuhe tragen würde.
Mitzi hatte Ewigkeiten über ihre Aufmachung als
Brautmutter gegrübelt und sich schließlich für ein langes
mittelalterliches Kleid aus smaragdgrünem Samt entschieden, in dem
sie sich ein bisschen wie die König-Artus-Gemahlin Ginevra vorkam
und das ihr rotes Haar sehr schön zur Geltung brachte. Da außerdem
eines der Hochzeitsrezepte in Großmutters Buch »Grüne Gewänder«
hieß, fand Mitzi dieses Kleid sehr passend.
Mitzi hatte sich über Granny Westwards krakelig
geschriebenen Nachsatz köstlich amüsiert, dass der Name Grüne
Gewänder, die aphrodisierende Eigenschaften hatten und daher für
Hochzeiten gut geeignet waren, sich von der ländlichen Redensart
»einer Dirne ein grünes Gewand schenken« ableitete, was im
übertragenen Sinn bedeutete, es mit dem Flittchen des Dorfes in den
Wiesen zu treiben. Sie hatte Richard und Judy von diesem pikanten
Detail erzählt, fand aber, dass ihre Töchter darüber nicht
unbedingt informiert werden müssten.
Der Pfarrer hatte zugestimmt, die Hochzeit am
Nachmittag vor Heiligabend zwischen dem Familiengottesdienst und
dem Kerzenumzug der Kinder einzuschieben; passende Musik war
ausgewählt worden; Otto und Boris waren mit dem selbstbereiteten
Büfett bei der Feier im Faery Glen ganz einverstanden; und Lance
hatte gesagt, er übernähme die Getränkerechnung – was, wie Mitzi
fand, sehr tapfer von ihm war, denn sie wusste, welche Mengen
Alkohol die Bewohner von Hazy Hassocks auf Kosten anderer so
trinken konnten.
So war im Grunde für die Feier bereits mehr oder
weniger alles geklärt, abgesehen von der Frage, aus welchen von
Granny Westwards Rezepten neben den bereits ausgewählten Grünen
Gewändern und Schäumenden Träumen das Hochzeitsessen bestehen
sollte.
Und dann waren da natürlich noch die Aufführung von
Hair, in beängstigend kurzer Zeit von nur
zehn Tagen und die restlichen, immer weiter ausufernden Aktivitäten
der Fitten Fünfziger, außerdem ihr künftiger Partyservice, das
Weihnachtsessen für die Armen und Einsamen und natürlich
Joel.
Mitzi sah auf die Uhr. Viertel vor zwölf. Nur noch
eine Viertelstunde, dann würden die Türen aufgeschlossen. Draußen
standen die Leute bereits Schlange, stampften im bitterkalten
Nordwind mit den Füßen und hauchten gegen ihre Hände. Tarnia, die
den Basar eröffnen würde, müsste jeden Moment eintreffen.
Joels Vorschlag, Tarnia als Ehrengast einzuladen,
dachte Mitzi, war ein echter Geniestreich gewesen. Tarnia sah darin
eine wunderbare Gelegenheit, die Großen und Mächtigen, die sie und
Schnösel-Mark verzweifelt zu beeindrucken suchten, zu diesem
anschaulichen Beispiel ihrer vielfältigen guten Taten im Dorf
mitzuschleppen, und hatte bereitwillig
zugesagt. Und das hieß, dass der Gemeindesaal für alle Aktivitäten
zur Verfügung stand, zumindest solange Tarnia auf eine Auszeichnung
spitzte.
Joel hatte gesagt, dass die Ehrenempfänger des
neuen Jahres schon einige Zeit vor der öffentlichen Bekanntgabe
benachrichtigt würden, sodass dies vielleicht Tarnias letzte
Gelegenheit war, um noch Eindruck zu schinden. Mitzi hoffte, dass
Tarnia dies nicht wusste. Es wäre praktisch, mit Hair und dem Fressgelage am Weihnachtstag
durchzukommen, bevor Tarnia und Schnösel-Mark wieder die
schnippischen Snepps hervorkehrten und sich weigerten, das gemeine
Volk den Saal benutzen zu lassen.
Die Bandings, denen nie gestattet wurde, einen
Stand zu betreiben, halfen Mrs Elkins von Patsy’s Pantry am
Secondhandshop die Kleidungsstücke mit Preisen auszuzeichnen. Da
sie jedes einzelne Teil anprobierten – was wegen der Fahrradhelme
sehr zeitraubend war – und einander mit entzückten Juchzern
bewunderten, kamen sie nicht sonderlich schnell voran. Mrs Elkins
warf immer wieder giftige Blicke in Mitzis Richtung.
Mrs Elkins war leider verstimmt über die Gerüchte,
dass Mitzi für Partys im Ort kochen und backen würde. Wie ein Luchs
wachte sie verbissen über den Lieferservice für Festtagskuchen und
Gala-Torten von Patsy’s Pantry. Es hatte nicht das Geringste
genützt, dass Mitzi Mrs Elkins bei einem Eisbecher und dem, was in
Hazy Hassocks als Latte macchiato galt, versichert hatte, dass in
diesem Gewerbe Platz für sie beide sei und Granny Westwards
Gerichte für Patsy’s Pantrys sehr spezielle Klientel bestimmt keine
Versuchung darstellten. Mrs Elkins war nicht zu überzeugen
gewesen.
»Ach – die bitte nicht anfassen!« Mitzi wurde aus
ihrem
gedanklichen Listenabhaken gerissen, als sie entsetzt sah, wie der
Filzhutmann versuchte, den Deckel einer kleinen Tupperdose zu
öffnen. »Das sind meine.«
Die Dose enthielt ein paar erste Prototypen der
Grünen Gewänder und Schäumenden Träume. Mitzi wollte damit nach dem
Basar bei Doll und Brett vorbeischauen und sie fragen, was sie
davon hielten. Natürlich würde sie noch ein bisschen daran arbeiten
müssen: die Schäumenden Träume sahen wie missgebildete, klumpige
Schneebälle aus; die Grünen Gewänder erinnerten an quietschgrüne
Windräder – Granny Westward hatte betont, die Färbung müsse
natürlich sein und nur selbstgepresstes Chlorophyll aus frisch
gepflückten saftigen Gräsern würde den Zweck erfüllen -, aber Mitzi
hatte den Eindruck, als habe sie es mit dem Grün etwas übertrieben.
Ganz sicher wollte sie nicht, dass der Filzhutmann eins davon
probierte und anschließend mit der Dorfschlampe in die frostigen
Auen hinausstürmte.
»Ach, du legst wohl ein paar ausgesuchte Teile für
den eigenen Bedarf beiseite? Heimvorteil der Standbetreiber, nicht
wahr? Kleine Geschenke für die Weihnachtsstrümpfe der Familie? Na
ja, ich will nicht sagen, dass ich dir daraus einen Vorwurf mache,
meine Gute.« Der Filzhutmann gab den Versuch, die Dose zu öffnen,
auf und ließ die Fingergelenke knacken. »Tja, ich muss weiter. Wenn
du es dir anders überlegst und nachher doch noch bei den Proben
zusehen willst, bist du mehr als willkommen. Und« – er musterte sie
-, »hast du wieder irgendwas mit dir angestellt?«
Mitzi schob die Tupperdose außer Sichtweite und
schüttelte den Kopf, während sie versuchte, eine Literflasche mit
leuchtend rotem Schaumbad namens Primitive
Passion hinter einer Reihe von Puderdosen zu verstecken. »Nicht
dass
ich wüsste. Ach Gott – das ist doch nicht etwa wieder eine deiner
wohlwollenden Grausamkeiten?«
»Hä? Nö. Du hast nur so ein gewisses Leuchten an
dir, falls du verstehst, was ich meine. Hat wahrscheinlich
irgendwie mit diesem gangstermäßig aussehenden Zahnarzt zu tun, mit
dem du da rummachst. Tja, genieß es, solange es dauert. Er ist
natürlich viel zu jung für dich. Wenn er dich erst mal ohne Hüllen
sieht, ist er garantiert im Nu über alle Berge.«
Mitzi fletschte die Zähne und knurrte dem sich
entfernenden Filzhutmann hinterher. Genau dieser Gedanke war ihr
selbst auch schon mehrfach gekommen, wenn sie in den frühen
Morgenstunden nicht mehr hatte schlafen können. Aber sie konnte es
wirklich nicht brauchen, dass »Mister Schonungslose Wahrheit« ihre
schlimmsten Befürchtungen laut aussprach.
Einigermaßen gepflegt, wie sie war, und für ihr
Alter recht fit, wusste sie doch, dass ihr Körper bei genauerer
Betrachtung unbestreitbar knitterig aussah, unbestreitbar hubbelig
war und unbestreitbar südwärts sackte. Joel mochte sie bekleidet
ganz ansehnlich finden – aber nackt? Da hatte sie doch verflixt
noch mal gar keine Chance!
»Himmel!«, murmelte Mitzi vor sich hin. »Wem
versuche ich hier denn etwas vorzumachen?«
»Selbstgespräche?«, näselte Tarnia affektiert über
ihre Schulter. »Du solltest wirklich mehr unter Leute, Mitzi. Ich
wusste, wenn du erst mal in Ruhestand gehst, würdest du seltsam
werden. Allein zu leben ist gegen die Natur.«
Mitzi sah Tarnia an und stöhnte. Die Botox-Queen,
offensichtlich im Festtagsgewand, hatte auf das sonst übliche Pink
verzichtet und trug ein enges scharlachrotes Kostüm im Stil der
Sechzigerjahre – stark tailliert und mit Bleistiftrock -, dazu
hochhackige, spitze Stiefel und sah jünger aus als Lu.
»Hallo, Tarnia«, sagte sie und zwang sich zu einem
Lächeln. »Hübsch siehst du aus. Und ich lebe nicht allein. Ich habe
Richard und Judy – und Lu, und einen Großteil der Zeit jetzt auch
Shay.«
»Tiere oder deine Hippietochter mit ihrem
gammeligen Retrofreund kannst du nicht mitzählen. Ich habe die
beiden zusammen gesehen. Sie schauen aus wie durchs Dorf latschende
illegale Einwanderer. Du weißt genau, was ich meine.« Tarnia
klimperte mit den zentimeterlangen blauen Wimpern und musterte
Mitzi von oben bis unten. »Du brauchst einen Mann. Allerdings
müsstest du vorher wirklich erst mal an dir arbeiten.
Wahrscheinlich bist du längst zu alt, um noch einen guten Fang zu
machen. Du landest bestimmt bei den hoffnungslosen Fällen – falls
du überhaupt so viel Glück haben solltest. Kein Wunder, dass du
Lance nicht halten konntest. Die junge Jennifer hingegen achtet auf
sich, falls du weißt, was ich meine. Man kann gar nicht früh genug
damit anfangen. Ich arbeite täglich mit Peeling und
Feuchtigkeitslotion, seit ich zwölf war.«
»Respekt«, murmelte Mitzi, die nun wirklich nichts
über Tarnias und vor allem nichts über Jennifers unablässiges
Streben nach ewiger Jugend hören wollte. »Und Respekt auch vor Mrs
Blessing Nummer zwei. Hat offensichtlich tolle Bauchmuskeln und
einen knackigen Hintern. Zu schade, dass sich ihr Fitnesstraining
nie bis aufs Kleinhirn ausgewirkt hat. Hast du deine Ansprache
bereit?«
»Ansprache?« Tarnia zog fragend die Augenbrauen
hoch. Ihr restliches Gesicht blieb so reglos, als wäre es
festgeklebt. »Ich halte keine Ansprache vor diesem Haufen. Meine
Gesellschaft« – sie wedelte mit ihrer dürren rot bekrallten Hand zu
einer Ansammlung aufgedonnerter und übersättigter
Leute, die mit wachsendem Schaudern Lav und Lob begafften, die
einen großen Teil der Secondhandkleider angezogen hatten – »braucht
mich nur hier zu sehen, wie ich mich als Wohltäterin unters
Gesindel mische. Nein, ich werde nur sagen, dass ich das verdammte
Ding für eröffnet erkläre, und hoffe bei Gott, hier wieder
herauszukommen, ohne mir irgendeine Seuche einzufangen.«
Mitzi grinste. »Du bist bestimmt immun, wenn man
bedenkt, dass deine Mum die Tombola betreibt.«
Tarnia, die mit ihren Verwandten aus der Bath Road
jahrelang nicht mehr gesprochen hatte, seit sie und Schnösel-Mark
im Toto gewonnen hatten, stieß einen leisen Aufschrei aus. »Herr im
Himmel! Das tut sie doch nicht wirklich, oder?«
»Doch, doch. Zusammen mit zwei deiner Schwestern,
Sharleen und Arlene, glaube ich, und deiner Tante Ada.«
»Ach du lieber Gott!« Tarnia schauderte. »Ich
hoffe, sie randalieren nicht, wenn ich das Wort ergreife. Aber ich
schätze, selbst dann kann ich sie immer noch als neidische
Zwischenrufer abtun oder als debile Inzuchtbrut oder so.« Sie
versuchte die Stirn zu runzeln, was ihr aber nicht gelang. »Ach,
verdammt. Dann muss ich meine Gesellschaft eben einfach von dieser
Ecke des Saales fernhalten – und wag du bloß nicht, ein Wort zu
sagen!«
»Ich?« Mitzi hob unschuldig die frei beweglichen
Augenbrauen. »Als ob …«
»Man hat mich doch nicht etwa gesehen? Ich meine,
das Gesindel?«
Mitzi schüttelte angewidert den Kopf. »Weiß ich
nicht, interessiert mich auch nicht. Ich weiß nur, dass sie dich
genauso verabscheuen wie du sie. Ich halte mich da raus. Und die da
sind nicht zu verkaufen.«
Tarnia hatte die kleine Tupperdose vom
Verkaufstisch genommen und versuchte, ihre Krallen unter den Deckel
zu klemmen.
»Warum nicht? Wird denn von mir nicht erwartet,
dass ich etwas kaufe, damit es so aussieht, als würde ich bei
dieser trostlosen Veranstaltung irgendwie mitmachen? Oh!« Der
Deckel flog ab, zusammen mit zwei von Tarnias falschen
Fingernägeln. »Scheiße! Verfluchter Mist! Was ist das denn?
Badekugeln?«
»Das ist eine Art Gebäck. Für Doll. Später. Nicht
zum Verkauf.«
Tarnias Gesichtszüge dehnten sich zu etwas, das als
mimischer Ausdruck gelten konnte. »Dein Gebäck? Wie diese kleinen
Brownies, die du für mich gebacken hattest? Ich muss schon sagen,
Mitzi, so mies du damals in der Schule in Hauswirtschaft warst, so
sehr hast du dich in letzter Zeit doch gemausert. Die Brownies
waren jedenfalls – ähm – sehr speziell. Hör mal, lass mir doch das
hier für meine Leute. Ich habe versprochen, von dieser Müllhalde
hier etwas zu kaufen, und dir vertraue ich mehr als dem Rest der
Meute. Schau, bitte schön – fünfzig Pfund in deine Kasse – ein
hübscher Preis für ein paar Süßigkeiten und dein Schweigen darüber,
dass das Gesindel da hinten irgendwas mit mir zu tun hat …
Abgemacht?«
»Nein … Ja … Ach ja, ist in Ordnung.« Mitzi nickte.
Was machte es schon? Sie konnte ja jederzeit noch mehr Schäumende
Träume und Grüne Gewänder für Doll zubereiten. Und fünfzig Pfund
waren eine Menge Geld für die Aktivitäten im Gemeindesaal.
Tarnia verzog ihren Mund zu einem Lächeln. »Ich
wusste, dass du vernünftig bist. Braves Mädchen. Jetzt will ich
mal los und die anderen suchen. Denk daran, was ich gesagt habe,
und kümmere dich mal ein bisschen um dich. Atkins kannst du
allerdings vergessen. Das ist von vorgestern. Ich schick dir ein
Buch über die South-Beach-Diät. Die hilft dir vielleicht gegen den
Wechseljahresspeck.«
»Ach, zisch doch ab!«, murmelte Mitzi, als Tarnia
zu allgemeinem Bussi-Bussi mit ihrer Clique davontänzelte. »Oh
Gott!«
Die Türen des Gemeindesaals waren geöffnet worden,
und berauscht vor Begeisterung stürmten die einkaufslustigen
Einwohner von Hazy Hassocks wie eine Flutwelle herein.
»Halt! Halt! Halt!« Der Filzhutmann, der sich zum
Allroundregisseur aufgeschwungen hatte, schrie von der Bühne aus in
sein Mikrofon. »Auch wenn ihr jetzt drin seid, könnt ihr noch nicht
gleich einkaufen! Legt alles hin! Hinlegen! Sofort! Gut – ich
möchte unsere freundliche Wohltäterin Mrs Tarnia Snepps für die
offizielle Eröffnung begrüßen.«
»Puh«, murmelte Mitzi beim vergeblichen Kampf mit
einem zerknautschten Karton voller Tweed. »Wenn es nach ihr ginge,
dann hieße sie nächstes Jahr um diese Zeit Lady Snepps. Aber wenn
die Leute auf diese Weise hier weiterhin den Saal nutzen dürfen,
werde ich damit wohl leben können. Allerdings möchte ich doch nach
wie vor gerne glauben, dass meine Überredungstörtchen zu diesem
Sinneswandel nicht unwesentlich beigetragen haben.«
Tarnia stakste über die Bühne, entwand dem
Filzhutmann das Mikrofon und strahlte ihre Clique holdselig an.
Vereinzelt wurde ihr halbherzig zugejubelt. Der gesamte
Tombolastand hingegen klatschte in langsamem Rhythmus provozierend
in die Hände. Tarnia ignorierte das.
»Ich wollte nur sagen, wie schön es ist, euch alle
heute hier
zu sehen«, säuselte sie. »Und wie sehr mein Mann und ich uns
freuen, dass wir euch gestatten können, all diese netten kleinen
Dorfveranstaltungen in unserem Saal durchzuführen. Wie ihr wisst,
ist uns klar, wie wichtig die ländliche Gemeinschaft ist, und wir
werden weiterhin alles in unserer Kraft Stehende tun, um dies zu
fördern. Unser Heim ist auch euer Heim – na ja, nein … ich meine,
der Gemeindesaal gehört zu unserem Grundbesitz, aber
großzügigerweise sind wir damit einverstanden, dass ihr daran
teil-«
»Das reicht schon, meine Gute«, unterbrach sie der
Filzhutmann, während der Tombolastand sie auszubuhen drohte. »Das
ist hier schließlich nicht die verdammte Rede von Gettysburg. Die
Leute wollen sich doch nur den Trödel unter den Nagel reißen. Komm
zum Schluss, Puppe, sei ein braves Mädchen.«
Mit Gewittergesicht, das Mikrofon aber noch immer
fest im Griff, nickte Tarnia. »So bleibt mir also nur, euch zu
versichern, dass diese Veranstaltungen im Gemeindesaal weiterhin
stattfinden können, und ich hoffe, ihr kauft heute in Massen, damit
es schön in der Gemeindekasse klingelt. Mit dem größten Vergnügen
erkläre ich hiermit den Weihnachtsbasar für eröffnet.«
»Dank sei dem fliegenden Schweinepriester«,
murmelte Flo Spraggs, während Tarnia von keinem mehr beachtet wurde
und der Gemeindesaal sich unvermittelt mit dem erwartungsvollen
Geraune der Bewohner von Hazy Hassocks auf Schnäppchenjagd
füllte.
Mitzi kam aus dem Staunen darüber, was für einen
Ramsch die Leute so kauften, kaum noch heraus und war in den
folgenden zwanzig Minuten hektisch beschäftigt, während sich das
Kleingeld in ihrer Kasse in Windeseile vermehrte.
»Brauchst du Hilfe?«
Mitzi, die gerade abgelaufenen Fußbalsam verkaufte,
strahlte Joel an. Sie konnte nicht anders. Auch wenn der
Filzhutmann und Tarnia ihre eigenen düsteren Zweifel in Worte
gefasst hatten, hatte sie keine Kontrolle über ihren Mund – oder
den Rest ihres Körpers -, wenn er in der Nähe war.
»Bist du sicher? Ich meine – ist so was wirklich
dein Ding?«
»Himmel, nein!« Er quetschte sich neben sie hinter
den Tisch. »Ich war in meinem ganzen Leben noch nie bei einem
Basar. In Manchester verbringt man die Samstagnachmittage beim
Fußball oder im Pub. Das hier ist mal ganz was Neues. Ja, Madame«,
er lächelte eine ältere Frau an, die zwei Mäntel trug. »Ein
Schaumbad? Das hübsche orangefarbene hier? Bitte schön – macht
fünfzig Pence.«
»Sehr beeindruckend«, sagte Mitzi. »Wir machen aus
dir noch einen Basarverkäufer.«
»Besser, als einen widerspenstigen Weisheitszahn
entfernen zu müssen«, sagte Joel. »Damit haben Doll und ich heute
den Großteil des Vormittags zugebracht. Ich weiß nicht, wer von uns
letztlich am meisten geschwitzt hat.«
Mitzi fand es schon schmerzhaft, sich das nur
vorzustellen. »Autsch. Und der Patient?«
»Dem Patienten ging es gut. Er lag warm und bequem
da, unter lokaler Betäubung und in seliger Unwissenheit. Eine
Tortur war es nur für das Praxispersonal. Ach, übrigens, Doll hat
gesagt, ich soll dir ausrichten, dass sie gleich nach Hause geht,
um die Füße hochzulegen. Sie meinte, das hier sei ihr jetzt im
Moment zu viel.«
»Was sind meine Töchter doch für Drückeberger!«
Mitzi lächelte. »Lu hat auch abgesagt. Shay und sie sind zur
Hundestation im Tierheim, um nach den Welpen zu sehen.«
»Und, sind sie noch immer im Liebestaumel? Shay und
Lu meine ich, nicht die Welpen.«
»Bis über beide Ohren.« Mitzi nickte. »Ich freue
mich sehr für die zwei, aber beim Toast mit Marmelade wird es
manchmal ein bisschen viel.«
»Und sicher auch klebrig.« Joel gluckste.
»Hallo, Mitzi!« Gwyneth Wilkins in einem wuchtigen
bodenlangen Fischgrätmantel und mit wollenem Kopftuch trudelte
durchs Gewühl, gefolgt von der sie überragenden Big Ida Tomms im
Trenchcoat mit tief in die Stirn gezogenem Glockenhut, während eine
Schar ebenfalls älterer Damen die Nachhut bildete. »Gutes Stück
Arbeit hat deine kleine Lu da neulich Nacht mit den Welpen
geleistet. Kannst mächtig stolz auf sie sein.«
»Bin ich.« Mitzi nickte. »Und das alles offenbar
auf euren Hinweis hin.«
Gwyneth bemühte sich um einen bescheidenen
Gesichtsausdruck, der ihr aber misslang. »Da haben wir ja zur
Abwechslung mal was richtig gemacht, wolltest du wohl sagen. Kann
sein … aber es ist schön zu wissen, dass die lieben kleinen
Herzchen alle überlebt haben und die gewissenlosen Drahtzieher
hinter Gittern gelandet sind.«
Als Gwyneth mit Fäustlingen an den Händen in einem
Korb voller Badebomben zu wühlen begann, beugte sich Big Ida über
ihre Schulter und fingerte ein Päckchen mit Gesichtsmasken heraus.
»Ich nehm die hier«, sagte sie und strahlte Joel zahnlos an. »Die
sind genau richtig für die Weihnachtsstrümpfe von meinem
Patensohn.«
Joel, das musste man ihm lassen, gab keinen
Kommentar dazu ab, sondern tütete die Gesichtsmasken ein und nahm
Big Idas Geld entgegen. »Idas Patensöhne sind beide ein bisschen
rosa angehaucht«, flüsterte Gwyneth Mitzi zu. »Nette Jungs. Ach,
und ich muss sagen, hierherzukommen hat sich ja schon gelohnt, um
Lady Tarnia Protz bei der Eröffnung zu sehen. Sie spuckt ja ganz
neue Töne, seit sie und ihr Marquis beschlossen haben, sich um
diesen Dingsdatitel zu bewerben. Ich bin schon total geschlaucht
als Sicherheitsposten bei all den Wohltätigkeitsfeten, die sie
neuerdings abzieht. Wir haben Selbstverteidigungskurse gemacht, Ida
und ich, damit wir klarkommen, wenn’s mal unangenehm wird.
Thai-kwondo und auch ein bisschen Kickboxen. Das war allerdings
nicht so ganz das Richtige für uns. Ich habe vor, eine Bande
Hilfssheriffs zu engagieren, um die Verantwortung auf mehrere
Schultern zu verteilen. Nun – was habt ihr denn sonst noch
so?«
»Jede Menge Sachen«, sagte Mitzi und schob das
geistige Bild einer Rentnergang aus Fiddlesticks als mit Ginseng
gedopte »Engel für Charlie« mit aller Kraft beiseite. »Es freut
mich zu sehen, dass so viele Leute aus den anderen Dörfern zu
unserem Basar angereist sind.«
Gwyneth, die mit dem Kinn gerade mal bis zur
Tischkante reichte, zog eine Grimasse. »Ach, Ida und ich kommen
immer gerne für unsere Weihnachtseinkäufe hierher. Wissen Sie, wenn
man in Fiddlesticks wohnt, bei nur einer Handvoll Häuser, und auf
einem dortigen Basar etwas kauft, dann weiß immer jeder gleich, von
wem welches Geschenk ist. Da gibt’s gar keine Überraschung mehr.
Wir sind mit dem Minibus rübergekommen, mit einer Gesandtschaft des
Donnerstagsdamenkränzchens aus Bagley-cum-Russet.«
Joel prustete. Mitzi biss sich auf die
Lippen.
»Wie wäre es mit dem hier für deine Elsie?« Big Ida
hatte sich wieder über den Tisch gebeugt und nahm die dunkelrote
Flasche mit Primitive Passion in die Hand,
wobei sie es schaffte, gleichzeitig einer der Donnerstagsdamen den
Ellbogen ins Auge zu rammen. »Hoppla,’tschuldigung, Mrs Webb.
Wollten Sie das auch haben? Ja, hier muss man schnell zugreifen.
Was meinst du, Gwyneth? Ob Elsie Freude dran hätte?«
Gwyneth legte den Kopf schief wie ein pummeliger
Spatz und überdachte den Vorschlag. »Hmm, vielleicht. Aber unsere
Elsie trinkt ja jetzt kaum noch, seit dem Trara mit Clyde Spraggs’
Rhabarber-Schlüsselblumen-Wein.«
»Das ist nicht zum Trinken, Gwyneth«, sagte Big Ida
spöttisch und schwenkte die rote Flasche aufreizend vor Mrs Webbs
tränenden Augen. »Damit wäscht man sich.«
»Es ist eigentlich weniger zum Waschen«, mischte
sich Mitzi ein und versuchte dabei tapfer, sich von Joels mühsam
unterdrücktem Gelächter nicht aus dem Konzept bringen zu lassen,
»sondern vielmehr zum Baden.«
»Damit feidet deine Elfie dann auf«, schniefte Mrs
Webb, die noch immer an ihren Augen herumtupfte. »Die fieht niemalf
all ihre Kleider auf einmal auf. Im Gegenfatf fu gewiffen anderen
Leuten hier.«
Wie ein riesenhafter wirbelnder Derwisch fuhr Big
Ida herum und verpasste ihr aus dem Stand einen formvollendeten
Bauchtritt. Gwyneths Zweifeln zum Trotz hatte sich der Kurs im
Kickboxen offenbar doch ausgezahlt. Mrs Webb brach mit einem leisen
Seufzer zusammen. Eine andere Dame vom Donnerstagskränzchen fing
an, in ihrer Handtasche herumzuwühlen.
»So!« Big Ida rieb sich die Hände, bezahlte mit
großspuriger Geste für die Flasche Primitive
Passion und bahnte sich energisch einen Weg in Richtung
»Schatzkästlein«. »Das wird sie lehren, ihre Anspielungen im Zaum
zu halten.«
»Liebe Güte!«, keuchte Joel halb erstickt. »Wer
schreibt denn denen das Drehbuch? Das ist großartig, Mitzi. Nicht
zu überbieten.«
»Wir tun unser Bestes.« Mitzi wischte sich die
Lachtränen aus den Augenwinkeln. »Ach, jetzt hat die arme gute Miss
Higham sie am Hals.«
Miss Higham, die neben Mitzi den Stand
»Schatzkästlein« betrieb, warf ihr über die Verkaufstische hinweg
einen verzweifelten Blick zu, als Gwyneth und Big Ida anfingen, in
ihren Waren herumzuwühlen.
»Ach, Joyce, gehst du eigentlich noch immer mit
diesem Aubrey?«, fragte Gwyneth im Plauderton.
Miss Higham, etwa Mitte sechzig, nickte und lief
rot an.
»Dacht ich mir. Ihr Aubrey«, informierte Gwyneth
lautstark Big Ida, »hat einen Laden in Winterbrook.«
»Ah ja, man sieht’s.« Big Ida studierte Miss
Highams handgeschriebenes Schild: Geschenke für die ganze Familie –
hübsche Tassen, winterliche Topfpflanzen, Weihnachts-Rotkehlchen
sehr preisgünstig. »Was ist ein Weihnachts-Rotkehlchen?«
Miss Higham deutete auf einen Haufen runder brauner
Dinger in einer Schuhschachtel.
»Mir scheint, das sind einfach nur Socken, Joyce«,
begann Gwyneth in liebenswürdigem Ton. »Braune Socken, zu Kugeln
zusammengerollt. Keine Rotkehlchen. Ich sehe nichts Weihnachtliches
an einem alten Paar Socken mit – na ja – irgendwas drauf.«
»Das sind Weihnachts-Rotkehlchen«, sagte Miss
Higham schelmisch und hob eines vorsichtig aus seinem Nest.
»Handgemacht. Ich habe all die kleinen roten Brustflecken selbst
aufgenäht.«
Big Ida prustete vor Lachen, und Mitzi wusste, dass
sie eingreifen musste, um ein Blutbad zu verhindern. Sie wagte es
nicht, Joel anzusehen, um nicht die Beherrschung zu verlieren, und
bahnte sich einen Weg zum »Schatzkästlein«.
»Sieh doch«, sagte sie in einem Tonfall, von dem
sie hoffte, dass er versöhnlich klang, »ursprünglich mögen das ja
einmal Socken gewesen sein, aber Joyce hat sich wirklich große Mühe
gegeben, Rotkehlchen daraus zu machen. Sieh dir die kleinen
Brustlätzchen an, aus Mullbinde mit – ähm – Lippenstift. Und die
Schnäbelchen aus – öh – Plastik, und die süßen kleinen Beinchen aus
Pfeifenreinigern!«
»Ach, dann nehmen wir eben ein halbes Dutzend!«,
sagte Big Ida schulterzuckend. »Für die Nachbarskinder werden sie
gut genug sein. Auch wenn ich nicht wirklich überzeugt davon bin.
Für mich sehen sie immer noch aus wie Socken.«
»Aber Kinder haben doch eine so blühende
Fantasie!«, sagte Mitzi bestimmt. »Vielleicht kaufe ich selbst ein
paar.«
Rotkehlchen und Kleingeld gingen rasch von Hand zu
Hand, und Mitzi wuselte zurück zum Kosmetikstand.
»Ach wie hübsch«, meinte Joel. »Socken. Sind die
für mich? Ein Mann kann ja nie genug Socken haben – gerade zu
Weihnachten.«
Mitzi knuffte ihn spaßhaft, stopfte die
Weihnachts-Rotkehlchen in ihre Tasche und gab einen tiefen Seufzer
der Erleichterung von sich, als Gwyneth, Big Ida und das
Donnerstagsdamenkränzchen sich in Richtung der Secondhandkleider
trollten.
»Lust auf eine Tasse Tee?«, fragte Joel in einer
kurzen Flaute. »Oder etwas Stärkeres?«
»Oh ja – danke. Ein Liter Merlot wäre jetzt genau
das Richtige«, seufzte Mitzi. »Aber da im Gemeindesaal kein Alkohol
ausgeschenkt werden darf – noch nicht -, wird Tee wohl genügen
müssen. Zwei Stück Zucker bitte. Eigentlich hätten wir die Grünen
Gewänder dazu essen können, aber Tarnia hat sie ja an ihre
Nobelkumpane verfüttert.«
»Schade«, sagte Joe fröhlich. »Dann wirst du für
mich noch welche machen müssen. Ich schau mal, ob ich als dürftigen
Ersatz vielleicht ein paar Kekse zum Eintunken auftreiben kann,
okay?«
Sie sah, wie er sich durchs Gewühl drängte, und
schwelgte genießerisch in dem prickelnden Gefühl. Sie liebte ihn.
Es war töricht, aber nicht zu ändern. Vielleicht hätte sie nach
Tarnias Ermahnungen auf den Zucker verzichten sollen und erst recht
auf die Kekse, aber zum Kuckuck!
Ein unvermittelter Ansturm von Kosmetikkunden
sorgte dafür, dass sie keine Zeit mehr zum Grübeln hatte. Das würde
sie auf später verschieben müssen. Die South-Beach-Diät, woraus
auch immer die bestand, wäre vielleicht doch eine ganz gute
Idee.
»Mitzi!« Tarnia schubste sich durchs Gedränge und
kam quasi mit quietschenden Reifen vor ihrem Stand zum Stehen. Ihr
Gesicht wäre verzerrt gewesen, wenn es nicht grundsätzlich wie in
Stein gemeißelt gewirkt hätte. So aber waren die Augenbrauen hinter
ihren Ponyfransen verschwunden und ihr Mund zu einem schmalen
Briefkastenschlitz zusammengepresst.
»Meine Gesellschaft«, sie wedelte aufgebracht mit
der Hand in Richtung der Menschenmenge vor der Bühne, »wurde gerade
von deinem – deinem Gesindel entsetzlich schockiert!«
Mitzi stöhnte. Um wen ging es? Lav und Lob? Clyde
mit seinem selbstgebrannten Fusel? Hatte der Filzhutmann ihnen
schonungslose Wahrheiten um die Ohren geklatscht?
Hatte jemand aus Tarnias großer Familie das schmutzige Geheimnis
ihrer Herkunft verraten? Es gab unendlich viele
Möglichkeiten.
»Ich habe mit ihnen einen kurzen Rundgang gemacht«,
fuhr Tarnia fort, »wie es eben so üblich ist. Und sie waren sehr,
sehr beeindruckt – dann sind wir hinter die Bühne gegangen, um uns
anzusehen, was es bei der Licht- und Tontechnik an Verbesserungen
gibt, und waren gerade bei einer Tasse Kaffee und deinen
Knusperkeksen – diese kleinen grünen waren so köstlich, dass meine
Freunde sie alle ratzeputz aufgegessen und nach dem Rezept gefragt
haben – und dann … und dann …«
Ach du liebes Lottchen, dachte Mitzi. »Und was
dann, Tarnia? Erzähl mir jetzt bloß nicht, der alte Baden Wiggins
hat ihnen seinen Liebestöter gezeigt? Du weißt ja, wie er ist. Das
macht er doch schon sein Lebtag lang. Alle lachen nur darüber –
auch wenn es auf Neulinge vielleicht ein bisschen irritierend wirkt
…«
»Es war viel, viel schlimmer als Baden Wiggins!«,
fauchte Tarnia. »Da waren Leute … Leute, mit denen ich zur Schule
gegangen bin – June und Sally und dieser komische Ronald, der sich
mit Stickerei beschäftigt hat -, und alle hatten nichts an! Nicht
einen Fetzen am Leib! Und sie haben gesungen! Lauthals! Und zwar
die unanständigsten Texte, die ich in meinem Leben je gehört habe!
Meine Gesellschaft war entsetzt. Vollkommen schockiert! Ich
fürchte, unter diesen Umständen kann ich euch nicht länger
gestatten, den Saal zu nutzen! Das geht nun wirklich zu
weit!«
Mitzi schloss die Augen. Verflixt und zugenäht.
Warum in aller Welt hatte der Filzhutmann mit den Proben für
Hair nicht warten können, bis der Basar zu
Ende war? Wenn Tarnias
Hochwohlgeborene jetzt tödlich beleidigt waren, bedeutete das für
ihre Ehrung und den Gemeindesaal den Todesstoß.
Ohne jegliche Vorwarnung spürte Mitzi plötzlich,
wie sie in die Luft gehoben wurde. Zwei starke Hände umfassten ihre
Taille, der Duft von frisch gewaschener Haut und Zitronenshampoo
und warmem männlichem Aroma umhüllte sie, und kräftige Lippen
küssten sie überaus inniglich.
Außer Übung und völlig überrumpelt, zögerte Mitzi
nur den Bruchteil einer Sekunde, dann erwiderte sie den Kuss. Es
war die reine Glückseligkeit. Sternenglitzerndes Prickeln stieg wie
sprudelnder Champagner von den Zehen bis zum Kopf in ihr auf. So
ging es weiter und weiter und weiter. Der Gemeindesaal und Tarnia
und das Lärmen der Menge verebbten einfach im Hintergrund.
»Oh …« Sie schluckte leicht benommen, als der Kuss
zu Ende war und Joel sie mit den Füßen wieder auf den Boden
gestellt hatte. »Oh …«
Tarnia, so schien es, war nicht einmal zu einem Oh
imstande. Ihr Gesicht sah aus wie eine Porträtstudie zum Thema
Verblüffung und Ehrfurcht.
»Hallo!«, sagte Joel mit einem Lächeln zum
Dahinschmelzen. »Ich bin Joel Earnshaw. Mitzis Geliebter. Und Sie
sind bestimmt Mrs Snepps. Wie schön, Sie endlich einmal
kennenzulernen. Ich habe schon so viel von Ihnen gehört.«
Noch immer leicht benommen blinzelte Mitzi. Er
hatte sie geküsst. Und sie hatte ihn geküsst. Endlich. Und es war
der wunderbarste Kuss in der Geschichte des Küssens gewesen. Um
Lichtjahre besser als Lance. Oooh.
Tarnia, noch immer völlig verdattert, bewegte
sprachlos die Lippen. Es war ein herrlicher Anblick.
»Äh …«, gurgelte Tarnia schließlich und starrte
Joel unverhohlen
lüstern an. »Ich habe von Ihnen noch überhaupt nichts gehört. Aber
ich finde – äh, es auch nett, Sie kennenzulernen.« Sie nickte Mitzi
zu, und in ihrem Blick wetteiferte Bewunderung mit unzähligen
Fragezeichen. »Worüber sprachen wir gerade … vorhin …?«
»Keine Ahnung«, flüsterte Mitzi. Ihre Lippen
fühlten sich an wie mit Kollagen aufgepolstert. Als gehörten sie zu
jemand anderem. »Ähm – das ist mir anscheinend gerade ganz
entfallen.«
Tarnia, noch immer mit ungläubigem Gesicht, kniff
den Mund wieder zum Briefschlitz zusammen. »Mir auch. Äh – ihr
müsst unbedingt mal beide zum Abendessen kommen. Bald. Sehr bald …
Mitzi, ich ruf dich an.«
Joel gluckste, als sie dem Kosmetikstand den Rücken
kehrte und davontrippelte. »Ich habe gehört, was sie über die
Rücknahme der Nutzungserlaubnis gesagt hat. Das gehörte zu den
Tricks, die man uns am College beigebracht hat, wenn es bei einer
zahnärztlichen Behandlung mal brenzlig wird: immer versuchen, eine
Katastrophe abzuwenden, indem man ein Ablenkungsmanöver
inszeniert.«
»Gelungenes Ablenkungsmanöver«, sagte Mitzi
leise.
»Schön?«
»Unglaublich und unheimlich schön.« Sie versuchte
zu lächeln, aber ihre Lippen kribbelten immer noch. »Und es hat
funktioniert. Schade, dass es nicht ernst gemeint war.«
»Was?« Joel beugte sich zu ihr, die Lichter des
Gemeindesaals tanzten verführerisch in seinem Diamantohrstecker.
»Dieser Kuss war so ernst gemeint, wie es bei mir nur geht.
Außerdem wurde das wirklich allerhöchste Zeit. Oder meinst du die
Behauptung, dass ich dein Geliebter bin? Nun – wir könnten durchaus
– heilige Hölle! Sieh dir das an!«
Mitzi, immer noch auf Wolke sieben, sah hin.
Drüben bei der Bühne war ein ungeheurer Tumult
ausgebrochen. Tarnia und ihre Hochwohlgeborenen tanzten jauchzend
umher und umarmten und küssten einander. Der Filzhutmann, die
Bandings, Gwyneth und Big Ida sowie das Donnerstagsdamenkränzchen
schienen sie noch anzufeuern. Alle anderen lachten.
»Ach du meine Güte«, sagte Mitzi matt. »Welch
glückliche Fügung. Noch ein Ablenkungsmanöver.« Tarnia und ihr
edles Wohltätigkeitsgefolge führten sich auf, als wollten sie bei
der Love-in-Szene aus Hair mitmachen.
Joel schüttelte den Kopf. »Was zum Teufel hast du
denen zu essen gegeben? Viagra-Kekse?«
»Ähm – nicht direkt. Ich meine, ich wusste schon,
dass die Grünen Gewänder sozusagen – äh – wie eine Art
Aphrodisiakum wirken. Aber ich glaube, es könnte sein, dass ich ein
klein bisschen zu viel Safran hineingegeben habe …«
»Könnte sein.« Joel rang um eine ungerührte Miene.
»Das würde die Massenerotisierung erklären – aber warum kriegen die
jetzt alle so quietschgrüne Gesichter?«