22. Kapitel
Doll war wie immer als
Erste in der Praxis, knipste die Lichter im Wartezimmer an und hob
im Schaufelgriff die Post von der Fußmatte. Der Nebel vom Vortag
hatte sich verzogen und Hazy Hassocks in graue, eisige Feuchtigkeit
gehüllt zurückgelassen. Sie liebte dieses Wetter. Denn die
Hitzewallungen wurden dadurch sehr viel erträglicher.
Sie legte die Post auf Vivs Schreibtisch, hörte den
Anrufbeantworter auf dringende nächtliche Alarmmeldungen über
Backenzahnprobleme ab – diesmal keine – und begann mit ihrem
üblichen Morgenritual, erst im Waschraum ihre Haare in Ordnung zu
bringen, dann in der Küche für alle Kaffee aufzusetzen und
schließlich ins Behandlungszimmer zu gehen, um alles für den ersten
Termin vorzubereiten.
Sie machte im Sprechzimmer das Licht an und schrie
auf.
Da lag ein menschlicher Körper auf dem
Behandlungsstuhl.
»Herr im Himmel!« Joel setzte sich auf und krachte
dabei mit dem Schädel gegen den Schwebetisch. »Mist!«
»Was zum Teufel machst du denn hier?« Doll starrte
ihn entgeistert an. Ihr Herz raste immer noch, und die im ersten
Moment aufsteigende Hitzewallung wurde im nächsten Augenblick von
einem eisigen Schreckensschauer abgelöst. »Du hast mich zu Tode
erschreckt! Du siehst ja furchtbar aus. Hast du die ganze Nacht
hier verbracht?«
»Ja.« Joel blinzelte in die grell leuchtenden
Neonröhren, setzte die Füße auf den Boden und stöhnte. »Frag mich
bloß nicht.«
»Jetzt komm mal zu dir. Natürlich frage ich. Ich
dachte, du und Mum, ihr wärt gestern Abend ausgegangen?«
»Sind wir auch. Ja.« Mit schmerzverzerrtem Gesicht
ließ Joel die Finger durch seine kurzen Strubbelhaare gleiten. »Wir
waren bei Lorenzo. Es gab köstliches Essen, und wir hatten eine
tolle Zeit, und ich habe reichlich viel Chianti getrunken – und
bitte, bitte, könnte ich zwei Aspirin und einen Eimer voll Kaffee
kriegen?«
»Geh erst mal in den Waschraum«, empfahl Doll.
»Steck den Kopf in ein Becken mit kaltem Wasser. Du siehst wirklich
furchtbar aus. Dann mache ich dir einen schönen starken Kaffee und
besorge dir ein Kopfschmerzmittel, und du kannst mir alles in Ruhe
erzählen. Wir haben noch ewig Zeit, bis jemand kommt. Und die
Ersten sind auch nur Mrs Dobbs und ihr Duane für eine
Wurzelbehandlung. Es wird ihnen nichts ausmachen zu warten.«
»Ich erzähle dir gar nichts.«
»Oh doch, das wirst du.«
Eine halbe Stunde später, nachdem Joel sie mit
seiner Version der ganzen traurigen Geschichte beglückt hatte, war
Doll so verwirrt wie nie zuvor. Gut, er hatte einen schlimmen Kater
und deshalb vielleicht manches ein bisschen durcheinandergebracht,
aber trotzdem.
Sie musste unbedingt mit ihrer Mutter sprechen.
Mitzi hatte sicher gute Gründe für ihr Verhalten. Aber was in aller
Welt war nur schiefgegangen? Die beiden passten doch so gut
zueinander. Ganz und gar und rundherum. Diese Geschichte war
einfach nur schrecklich.
Joels Bericht über die Ereignisse des Abends ergab
einfach keinen Sinn. Mal abgesehen von der Katastrophe, dass es
zwischen Mitzi und ihm aus war, wie in aller Welt hätte es denn
dazu gekommen sein sollen, dass Shay und Lulu sich verlobt hatten?
Und dass Lulu tatsächlich einen Job hatte – nein, einen richtigen
Beruf – und drei Welpen zu sich nehmen
wollte? Und was die Sache mit einem Tisch voller Macho-Banker
anging, die einander küssten und begrabschten – also das war doch
völlig lächerlich. »Ich glaube, du bist immer noch sturzbetrunken«,
sagte Doll. »Und alles, was du mir gerade erzählt hast, stammt aus
einem Albtraum im Vollrausch. Es wird sich alles aufklären, davon
bin ich überzeugt.«
»Ich sehe bereits jetzt alles ganz klar«, murmelte
Joel, kippte den dritten Becher schwarzen Kaffee hinunter und zog
seinen Kittel verkehrt herum an. »Kristallklar. Herrgott – wie
lange dauert es denn, bis dieses Mittel endlich wirkt?«
»Zwanzig Minuten. Kann ich Mrs Dobbs jetzt
hereinbitten? Wir sollten ihr allmählich die örtliche Betäubung
setzen. Bist du bereit?«
Joel nickte und zuckte erneut zusammen.
»Lass Mrs D und ihren Duane lieber nicht sehen, wie
deine Hände zittern, wenn du mit der Spritze bewaffnet bist«, riet
Doll. »Und du hast deinen Mundschutz verdreht. Hör mal, ich gehe in
der Mittagspause zu Mum, unter dem Vorwand, noch etwas wegen der
Hochzeit zu besprechen. Ich werde mich um allergrößte Diskretion
bemühen und herauszufinden versuchen, warum sie sich so benommen
hat. Bist du wirklich sicher, dass du nicht -«
»Ich habe überhaupt nichts getan«, sagte Joel
schroff. »Und nimm bitte deine Mutter nicht ins Kreuzverhör. Sie
hat ihre Gefühle letzte Nacht ganz unzweideutig zum Ausdruck
gebracht. Wie es in den Illustrierten immer so schön heißt, deine
Mutter und ich sind nicht länger ein Paar. Gut – hol Mrs Dobbs
herein. Nein, Doll, ich meine es ernst. Es ist vorbei. Nicht, dass
es je richtig angefangen hätte. Ist auch egal, wirklich. Also los,
an die Arbeit.«
»Du musst verrückt sein!« Doll saß an Mitzis
unordentlichem Küchentisch und seufzte entnervt. »Er ist
hinreißend! Er ist verrückt nach dir! Du bist verrückt nach
ihm!«
»Halt, stopp. Viel zu viel verrückt. Ich weiß ja
nicht, was er dir erzählt hat, aber wir sind keine Kinder mehr. Wir
haben es nicht nötig, dass der beste Freund sich in
Sandkastenstreitereien einmischt. Schau, Liebes, ich habe einen
Fehler gemacht. Es hat einfach nicht sein sollen.«
»So ein Schwachsinn!«, schnaubte Doll hinter ihrer
Tassensuppe, sodass kleine orangefarbene Wellen seitlich über den
Rand des Winnie-Pu-Bechers schwappten. »Natürlich sollte es sein.
Er ist verkatert, unglücklich und vergrätzt wie ein nasser
Stubentiger, und sieh dich erst mal an! Wann bist du jemals zur
Mittagszeit noch im Bademantel herumgelaufen, wenn du nicht gerade
krank warst?«
Mitzi seufzte. Sie hatte nicht geschlafen. Und wenn
man mit fünfundfünfzig nachts nicht schlief, rächte sich das am
nächsten Morgen. Es war nicht mehr so wie als Teenager, dass die
Haut sich am Morgen nach einer schlaflosen Nacht von selbst wieder
straffte. Außerdem tat ihr der Kopf weh, sie hatte Körnchen in den
Augen und fühlte sich schmuddelig und verspannt. Unter ihren Rippen
klemmte ein harter, unbeweglicher Trauerkloß. Ihr war wirklich
scheußlich zumute, und sie wusste, dass sie auch danach aussah und
dazu noch aufgedunsen, grau und faltig.
»Ich werde nicht ins Detail gehen«, sagte sie
energisch. »Das geht dich überhaupt nichts an.«
»Oh doch!«, entgegnete Doll gurgelnd durch ihren
Rest Suppe. »Du bist meine Mutter, und er ist mein Arbeitgeber und
ein Freund. Und ich mag, nein, liebe euch beide. Liebe, Mutter!
Liebe! Erinnerst du dich nicht mehr an das Wort mit dem großen
L?«
Mitzi lachte verbittert. »Nur zu gut. Das ist ja
das Problem.«
»Also bitte! Hör dich mal an! Du willst mir doch
nicht etwa erzählen, weil Dad dich vor einem ganzen Jahrzehnt wegen
der Zimtzicke Jennifer verlassen hat, könntest du dich nie wieder
verlieben? Dass er für dich der Einzige war und es nach ihm keinen
anderen mehr geben könnte?«
Mitzi schüttelte den Kopf. Sie konnte Doll nicht
erzählen, was am Abend zuvor geschehen war. Sie konnte einfach
nicht. »Lass es doch bitte gut sein. In wenigen Wochen wirst du
heiraten. Lu hat sich gerade inoffiziell verlobt – das bietet doch
sicher genug Romantik auf einmal für eine ganze Familie?«
»Nein, eben nicht. Du hast jahrelang nur für uns
gelebt. Du warst wirklich ein Schatz und die beste Mutter der
ganzen Welt. Lulu und ich sind erwachsen und stehen auf eigenen
Füßen. Jetzt bist du an der Reihe, um deinen Spaß zu haben. Und
Glück. Und Liebe.«
»Ich habe Liebe zur Genüge. Ich habe -«
»Komm mir jetzt nur nicht wieder mit ›Freunde und
Familie und Richard und Judy‹! Wag es ja nicht! Du weißt ganz
genau, was ich meine.«
Mitzi seufzte. Sie wusste es. »Reg dich doch nicht
so auf, Liebes. Ich hatte meine Gründe. Gute Gründe. Und nun
sollten wir die letzten Details zu deiner Hochzeit besprechen …«
»Ich pfeif auf die Hochzeit!«
Mitzi lächelte zerknirscht. »Du solltest dich
wirklich beruhigen. Dein Blutdruck jagt gleich das Dach in die
Luft.«
»Mein Blutdruck ist vollkommen in Ordnung. Mir geht
es gut. Dem Baby geht es gut. Brett geht es gut. Die Hochzeit ist
bis aufs i-Tüpfelchen durchgeplant. Da müssen wir nichts mehr
besprechen. Was wir besprechen müssen, ist, warum Joel und du kein
Paar mehr seid.«
»Waren wir nicht. Und werden wir auch nicht
sein.«
»Verflixt noch mal, du bist doch sonst nicht so
verbohrt«, seufzte Doll, stellte die Tasse in die Spülmaschine und
sammelte ihre Tasche und ihren Mantel auf. »Ich glaube, die
Fünfziger-Befreiungsbewegung ist schuld. Willst du mir wirklich
nicht erzählen, was gestern Abend schiefgegangen ist?«
»Nein. Und du brauchst auch gar nicht versuchen, Lu
darüber auszufragen. Sie weiß nichts davon.«
»Wäre ja nicht anders zu erwarten. Fräulein
Ichbezogen würde so was auch kaum mitkriegen, oder? Höchstens, wenn
Joel und du vier Beine und zwei Wackelschwänzchen hättet …«
Mitzi lachte. Es klang rau und heiser. »Bitte lass
die Sache einfach so stehen, Doll. Ich weiß, dass es peinlich für
dich ist, weil du mit Joel arbeitest, aber tu uns beiden einen
Gefallen und setz ihm nicht die Daumenschrauben an.«
»Da kann ich nichts versprechen«, sagte Doll in
etwas hochnäsigem Ton. »Ich werde mal sehen, was sich so
ergibt.«
Mitzi sah Doll über den triefnassen Weg
davonrauschen und in ihr Auto steigen. Sie wäre am liebsten ins
Bett gegangen, um sich in ihr opulent apricotfarben glänzendes
Zimmer zu verkriechen, die Bettdecke über den Kopf zu ziehen, eine
Woche lang zu schlafen und beim Aufwachen die ganze Blamage vom
Vorabend vergessen zu haben.
Doch das ging nicht.
Sie waren von Lorenzo nach Hause gefahren, langsam,
wegen des Nebels, hatten gelacht und geplaudert, während Jimi
Hendrix höchst sinnlich im Hintergrund sang. Der Abend war einfach
herrlich gewesen. Vollkommen. Das Prickeln war immer noch stark zu
spüren gewesen. Allein wenn sie Joel in der heimeligen Hülle des
dunklen Wageninneren nur angesehen hatte, war Mitzi vor lauter Lust
ganz flau im Magen geworden.
Dieser Glückszustand hatte auch noch länger
angehalten, nachdem sie das Haus betreten, die Lichter angemacht,
Wein eingeschenkt und Richard und Judy gefüttert hatten. Joel hatte
die Weihnachtsdekoration des Wohnzimmers bewundert – alles alte
Familien-Lieblingsstücke, die alljährlich wieder hervorgeholt
wurden und voller Erinnerungen steckten, und nichts von diesem
neumodischen, farblich abgestimmten Designerkram -, hatte ihre
CD-Sammlung durchgesehen und ein Rolling-Stones-Album
aufgelegt.
Sie hatten es sich zu den Klängen von »Paint It
Black« auf dem Teppich vor dem Kamin bequem gemacht. Sie hatten
noch eine Weile geredet und viel gelacht und sich wie von selbst im
Feuerschein aneinandergekuschelt. Er hatte sie geküsst.
Bei der Erinnerung daran musste Mitzi die Tränen
wegblinzeln.
Es war die reine Wonne gewesen. Sie hatte sein
Gesicht zwischen die Hände genommen und sich mit den Augen an
seiner Schönheit geweidet. Noch nie im Leben hatte sie so für
jemanden empfunden. Nicht einmal für Lance. Zu den Küssen kamen
allmählich Berührungen und Liebkosungen mit geflüsterten
Zärtlichkeiten.
Mitzi seufzte, als sie daran dachte, wie himmlisch
es gewesen war.
Endlich würden sie die Nacht miteinander verbringen
und sich lieben. Joel läge neben ihr, wenn sie schliefe und wenn
sie aufwachte. Das orangegoldene Schlafzimmer wäre nicht länger
ihre einsame Zuflucht.
Doch das Schlafzimmer konnte warten. Im Moment
hatten sie den Teppich und den Feuerschein und einander.
Nur tauchte da ein klitzekleiner Haken in ihrem
Hinterkopf auf: Lu und Shay. Wahrscheinlich würden sie erst Stunden
später nach Hause kommen, aber selbst dann erschien es ihr
irgendwie ein bisschen geschmacklos, mit Joel zum ersten Mal ins
Bett zu gehen, wenn ihre Tochter und deren Freund im Zimmer nebenan
waren. Das grenzte ja fast an eine Orgie. Sich darüber Sorgen
machen zu müssen, belauscht zu werden und ob die Türen auch
geschlossen wären, würde das ganze romantische Idyll zerstören, das
sie sich ausgemalt hatte. Jegliche entspannte Unbefangenheit wäre
dahin.
Joel hatte ihre bloße Schulter geküsst. »Du bist
wunderschön. Du bist eine tolle Frau. So jemandem wie dir bin ich
noch nie begegnet. Du weißt, wie sehr ich dich begehre, nicht
wahr?«
Mitzi hatte genickt. Sie konnte nicht sprechen. Es
hatte keine Rolle gespielt. Nichts hatte in dem Moment eine Rolle
gespielt. Nicht der Altersunterschied oder ihre Falten oder ihre
jahrelange Enthaltsamkeit und dass sie aus der Übung war. Nicht
einmal Lu und Shay. Nicht wirklich.
Mick und seine Jungs hatten höchst passend genau in
diesem Moment »Let’s Spend The Night Together« angestimmt. Joel und
sie hatten sich in die Augen gesehen und gelacht.
Er hatte sie noch einmal geküsst, sich dann zum
Sitzen
aufgerichtet und sein Weinglas zur Hand genommen. »Auf dich! Auf
uns. Du bist wunderbar.«
Sie hatte mit ihm angestoßen und gekichert. »Du
auch.«
Und das war er natürlich. Gutaussehend, humorvoll,
freundlich und großzügig. Ein echter Glückstreffer, wie es immer so
schön in den Zeitschriften hieß.
Dann war alles recht schnell vorangegangen, und
inmitten des Aufruhrs der Gefühle und des berauschenden Aufwallens
der Lust hatte Mitzi plötzlich gemerkt, dass dies eigentlich nicht
die Art und Weise war, wie sie es haben wollte. Sie wollte es weder
auf dem Teppich bei Feuerschein, noch wollte sie riskieren, von
Lulu und Shay gestört zu werden. Sie wollte diesen Augenblick mit
niemand anderem teilen.
Auch wenn es vielleicht albern war, so hatte sie
sich doch immer vorgestellt, wenn es überhaupt jemals dazu käme,
sollte mit Joel zu schlafen ganz altmodisch und so ähnlich sein,
als wäre sie wieder Jungfrau. Sie wollte die Zeit zurückdrehen, als
es noch nicht als akzeptierte Norm galt, mit jemandem zu schlafen,
mit dem man nicht verheiratet war, als Affären noch etwas Gewagtes
und Aufregendes waren, als man über Sex mit einem heimlichen
Liebhaber noch nicht so beiläufig und öffentlich sprach wie über
einen neuen Haarschnitt oder schicke Schuhe.
Die Intimität sollte ihr Geheimnis bleiben,
aufregend und gewagt und unvergesslich. Sie wünschte sich, jenen
Anflug von Verruchtheit wiederaufleben zu lassen, der romantischem
Leichtsinn früher anzuhaften pflegte.
Natürlich hatten die Offenheit und das Verblassen
von Tabus von heutzutage auch ihre Vorteile, aber ungeachtet dessen
hatte der köstlichen Sündhaftigkeit des Ganzen auch ein
unübertrefflicher Zauber innegewohnt.
Sie wünschte sich, von Joel in ihrem
apricotfarbenen Schlafzimmer verführt zu werden und das sinnlich
beschwörende Lied »Amoureuse« von Kiki Dee lebendig werden zu
lassen – wie beim ersten Mal. Das erste Mal mit diesem ganz
besonderen Mann.
Er hatte ihren Stimmungsumschwung gespürt.
»Was ist los?«
»Nichts … Es ist nur … nein, gar nichts. Wirklich
…«
Joel hatte sie sanft geküsst. »Ich liebe dich,
Mitzi. Ich hatte das nicht geplant. Nicht erwartet. Das macht es so
einzigartig. Ich hätte nie gedacht, dass ich je solche Gefühle
empfinden könnte.«
Sie auch nicht. Und das war das zweite Problem. Sie
liebte ihn. Sie wollte nur nicht, dass es heute geschah. Sie liebte
ihn und wollte, dass es für immer wäre. Sie wollte keine flüchtige
Affäre mit Joel. Sie wusste, sie könnte nicht mit ihm schlafen,
sich ihm voll und ganz hingeben, auf die Gefahr hin, dass er sie
wieder verließ.
Lance zu verlieren hatte ihr das Herz gebrochen.
Joel zu verlieren würde ihr Leben zerstören.
Sie entwand sich ihm. »Ich glaube, das alles ist
doch keine so gute Idee …«
Kaum war der Satz ausgesprochen, hatte sie auch
schon gewusst, dass es die völlig falschen Worte gewesen waren. Mit
einem Eimer Wasser über den Kopf hätte sie die Stimmung nicht
gründlicher verderben können.
Er starrte sie mit verwundetem Blick an. »Was? Ich
meine … Entschuldige … Ich dachte, du wolltest … wolltest mich … oh
Gott …«
»Wollte ich. Will ich …«, hatte Mitzi gemurmelt.
»Es ist nur – na ja, aber eben nicht so …«
»Ich hatte auch nicht vorgehabt, die Nacht auf dem
Fußboden zu verbringen. Aber ich schätze, das ist es nicht, was du
meinst?«
Mitzi hatte unglücklich zugesehen, wie er sich
ärgerlich sein Hemd geangelt hatte.
»Nicht direkt. Hör mal, Joel -«
»Nein.« Seine Stimme hatte kalt geklungen. »Du
brauchst es nicht auszusprechen. Tut mir leid. Ich dachte, du
empfindest wie ich. Auf gar keinen Fall will ich mich dir
aufzwingen.«
»So war es doch gar nicht gemeint. Natürlich nicht.
Ach Gott. Lass mich es dir erklären. Oder es zumindest versuchen …«
Sie zog ihre weinrote Bluse an. Die Knöpfe verfingen sich in ihren
Haaren, und die bis dahin zurückgehaltenen Tränen liefen ihr über
die Wangen. »Bitte, Joel …«
»Nicht weinen.« Er rappelte sich auf und schlüpfte
in seine Schuhe. »Bitte nicht weinen. Wir hatten eine tolle Zeit –
haben einander glücklich gemacht. Es wäre Unsinn, das jetzt in
Tränen enden zu lassen. Tut mir leid, wenn ich die Botschaft falsch
verstanden oder die falschen Signale ausgesandt habe.«
»Hast du nicht. Es liegt an mir. Ich habe alles
verdorben. Bitte lass mich dir sagen -«
Er hatte sein Jackett von der Stuhllehne gerissen,
sodass der Christbaum gefährlich ins Schaukeln geriet und eine
Kaskade Fichtennadeln zu Boden rieselte.
»Geh nicht. Du kannst doch nicht. Du weißt schon –
Alkohol und Auto fahren …«
»Ich komm schon klar.« Sein Blick war ebenso
diamanthart wie sein Ohrstecker. »Zumindest wissen wir jetzt, wo
wir stehen. Wie gut, dass ich mich nicht noch mehr zum
Narren gemacht habe. Bemüh dich nicht, ich finde selbst
hinaus.«
Und Mitzi hatte ihn gehen sehen, mit einem Kloß im
Hals vor lauter Elend, und die Einsamkeit umfing sie schon, noch
ehe er die Haustür zugeknallt hatte.
Nun, über zwölf Stunden später, waren ihre Gefühle
noch genau dieselben.
Es war alles ihre Schuld. Sie war so aus der Übung
mit den Spielregeln der Liebe. Warum, oh warum nur hatte sie nicht
aufrichtig sein können und ihm einfach erzählt, was sie sich
wünschte? Was sie sich erträumt hatte? Er hätte sie nicht
ausgelacht. Joel war nicht so gemein. Er hätte es verstanden,
vielleicht sogar ihre romantischen Träume geteilt oder zumindest so
getan als ob. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt war es viel, viel zu
spät. Wegen ihrer dummen Träume und ihrer lächerlichen
Unerfahrenheit hatte sie etwas in den Augen eines Mannes
Unverzeihliches getan – auf dem Gipfel der Leidenschaft ihre
Meinung geändert. Sie hatte ihn verletzt und gekränkt. Eine zweite
Chance würde es nicht geben.
Mitzi starrte auf ihr Spiegelbild im Küchenfenster.
Sie sah genauso alt aus, wie sie war, und noch gut hundert Jahre
älter. Das Make-up von gestern Abend hatte sich in den Hautfalten
festgesetzt, sie hatte Tränensäcke und dunkle Ringe unter den
Augen, Klümpchen getrockneter Wimperntusche hingen an ihren
verklebten Wimpern wie bei der Karikatur einer Lebedame, und ihr
Haar war matt und struppig. Ihre Haut schien in Falten zu hängen,
die fast bis auf den Kragen ihres angeschmuddelten
Frotteebademantels lappten – der, den sie zum Herumgammeln anzog,
nicht der elegante aus cremefarbener Seide, mit dem sie in Joels
Gegenwart lässig ihre Blöße hatte bedecken wollen.
»Herr im Himmel …«
Richard und Judy tauchten sich reckend aus dem
Wäschekorb auf, in der Hoffnung auf ein zweites Mittagessen, und
schauten sie mit bedingungsloser Liebe an. Sie streichelte die
beiden, und das doppelmotorige vibrierende Schnurren beruhigte sie
ein wenig.
»Zumindest ihr beide liebt mich – ach Mist!« Sie
sah hoch, als die Küchentür aufging. »Hoffentlich ist das nicht
Flo, die auf eine Tasse Kaffee und ein Schwätzchen rüberkommen will
– nicht jetzt. Ach du Schande …«
»Freut mich auch, dich zu sehen!« Lance strahlte
sie an. »Liebe Güte, Mitzi! Bist du krank? Du siehst wirklich
schlimm aus. Entschuldige, wenn es gerade nicht passt – hast du
meine Nachricht nicht gehört? Ich hatte dir gestern Abend auf den
Anrufbeantworter gesprochen.«
Mitzi hätte sich am liebsten in die hinterste Ecke
verkrochen und funkelte ihn zornig an. Natürlich hatte sie seine
verdammte Nachricht nicht gehört. Sie hatte den ganzen verdammten
Anrufbeantworter nicht angesehen. Gestern Abend hatte sie
schließlich andere Dinge im Kopf gehabt!
»Geh wieder, Lance. Es passt wirklich gerade
nicht.«
»Dann hättest du doch auf meine Nachricht reagieren
können. Ich hatte gesagt, wir kommen in der Mittagszeit vorbei, um
ein paar Punkte wegen Dolls und Bretts Hochzeit zu
besprechen.«
Wir? Wir?
»Ich habe einen Parkplatz gefunden«, gurrte
Jennifer und erschien neben Lance im Türrahmen. »Das ist wirklich
ein komisches enges Gässchen – ach du meine Güte, Mitzi – hast du
die Grippe? Du siehst ja furchtbar aus!«
Mitzi versuchte sich noch tiefer in die dunkelste
Ecke zu
verziehen. Es war einfach nicht fair. Jennifer, in helles
Wildleder gekleidet, einen lila Kaschmirschal kunstvoll um den Hals
geschlungen, in hohen hellen Stiefeln, glänzte von Kopf bis Fuß als
elegante, gepflegte Erscheinung.
»Sie hat unsere Nachricht nicht abgehört«, sagte
Lance unbekümmert und führte Jennifer in die Küche. »Ach, hier hat
sich ja nicht viel geändert, nicht wahr? Immer noch dieselbe
Unordnung wie früher.«
Jennifer starrte auf das Durcheinander, zog sich
mit spitzen Fingern einen Stuhl heran und untersuchte ihn auf
Schmutz, ehe sie sich hinsetzte. Richard und Judy machten
augenblicklich synchron den Katzenbuckel mit gebauschtem Schwanz
und fauchten sie an, während sie durch die Überreste der
Tütensuppen und Brotkrusten den Rückzug antraten.
»Ich habe gesagt, es passt gerade nicht«, krächzte
Mitzi, schälte sich von der Wand und starrte Lance und Jennifer
giftig an. »Wie ihr selbst seht. Ich bin nicht in der Verfassung,
Besuch zu empfangen, und außerdem -«
»Ach, wir bleiben nicht lang.« Jennifers makellos
manikürte, perlmuttglänzende Fingernägel scharrten auf der
Tischplatte Krümel zu Häufchen. »Wir fahren für ein paar Tage nach
London. Dort wohnen wir im Savoy, und Lance spendiert mir einen
Einkaufsbummel auf der Bond Street. Als Geburtstagsgeschenk.«
Mitzi sagte gar nichts. Ihr hatte Lance einen
Blumenstrauß von der Tankstelle und ein paar Drinks im Faery Glen
spendiert – sofern er überhaupt an ihren Geburtstag gedacht
hatte.
»Ich hatte vorgeschlagen, bei dir vorbeizuschauen«,
sagte Lance, »weil Jennifer sich ihr Outfit für die Hochzeit kaufen
wird – Designersachen natürlich – und vermeiden möchte, dass es
sich mit deinem beißt.«
»Wie überaus rücksichtsvoll.«
»Also«, Jennifer wandte Mitzi ihr makelloses
Pfirsichgesicht zu. »Welche Farbe wirst du tragen?«
»Grün.«
»Grün! Grün? Du kannst doch
nicht Grün tragen! Das bringt doch Unglück!«
»Aber nur, wenn man die Braut ist.« Mitzi
versuchte, ihr Haar in Ordnung zu bringen und ihre Wimpern zu
entklumpen. »Und ich mag Grün.«
»Meine Güte«, sagte Jennifer mit der Andeutung
eines Lächelns in den Winkeln ihrer wulstigen Lippen. »Wie
ausgesprochen nostalgisch. Da wird es also keine Probleme mit sich
beißenden Farben geben. Und wie ist es mit den Hüten? Hast du dir
einen machen lassen?«
»Ich trage keinen Hut. Niemand trägt einen Hut.
Diese Sorte Hochzeit wird das nicht. Die Feier ist ganz klein und
ungezwungen.«
»Du kannst doch zu einer Hochzeit nicht ohne Hut
erscheinen!« Jennifer machte ein Gesicht, als hätte Mitzi
vorgeschlagen, die ganze Kirchengemeinde solle nackt antanzen. »Ich
kaufe meinen Hut bei Philip Treacy.«
»Hervorragende Wahl.« Die Küchentür öffnete sich
erneut, und wie in einem wirklich ganz schlimmen Traum erschien nun
auch noch Tarnia. »Meine Hüte sind natürlich alle vom guten Jasper,
aber Philip ist wirklich auch ein Goldstück.«
»Was zum Teufel willst du denn hier?«, knurrte
Mitzi, als Tarnia und Jennifer quer über den vollgestellten Tisch
Luftküsschen austauschten. »Du hast mich seit 1985 nicht mehr
besucht!«
Tarnia, die ebenfalls glänzend und vollendet
gepflegt aussah,
in babyrosa Lederjeans, einer schwarzen Bikerjacke und Stiefeln,
das kurze schwarze Haar geschmacklos mit pinkfarbenen Spitzen
gefrostet, verengte die Augen zu Schlitzen. »Um Himmels willen,
Mitzi. Ich wusste ja nicht, dass du krank bist. Du siehst um Jahre
gealtert aus.«
»Ich bin nicht krank. Mir geht es gut. Ich bin bloß
nicht passend gekleidet, um ein offenes Haus zu führen.«
»Am Mittag?« Lance lachte. »Du lässt dich wohl
wirklich gehen. Nein, okay, wir lassen dich jetzt allein, damit du
dich in Ordnung bringen kannst. Das wird wohl den Rest des Tages in
Anspruch nehmen … Egal, wir wollen zum Abendessen im Savoy nicht zu
spät kommen. Und immerhin hat Jennifer nun freie Hand auf der Bond
Street – niemand sonst wird Grün tragen.«
»Grün?«, kreischte Tarnia. »Du kannst bei einer
Hochzeit doch nicht Grün tragen, Mitzi! Das bringt Unglück!«
»Anscheinend nur, wenn man die Braut ist.« Jennifer
stand auf und inspizierte das helle Wildleder auf Krümel oder
Katzenhaare. Sie hatte jede Menge von beidem am Hintern, aber das
konnte sie nicht sehen. »Wenn wir aus London zurück sind, Tarnia,
werde ich dich wegen der Cocktailparty bei den Bancroft-Hulmes mal
anrufen, ja?«
Tarnia nickte, und nach einer weiteren Runde
Luftküsschen entschwanden Lance und Jennifer.
»Sieh mich nicht so an«, sagte Tarnia. »Ich weiß,
ich komme wahrscheinlich ein bisschen unerwartet, aber ich habe
gerade ein paar Sachen im Wohlfahrtsladen abgeladen und dachte mir,
wenn ich schon in der Nähe bin, könnte ich mal eben vorbeischauen
und fragen, ob du noch welche von diesen kleinen Speisekarten hast.
Du weißt schon, für deine Leckerhäppchen aus der alten ländlichen
Küche. Marquis und
ich planen im neuen Jahr eine riesige Party für die
Wohltätigkeitsbeauftragten, und, na ja, von Nigellas und Jamies
Rezepten sind doch schon alle bis zum Abwinken gelangweilt, also
wollte ich die Erste sein, die mal was ganz anderes
serviert.«
»Die sind hier irgendwo …« Mitzi ließ hilflos den
Blick über die Stapel von Krimskrams auf sämtlichen Oberflächen
wandern. »Ich werde später danach suchen und bring sie dir dann
vorbei.«
»Geht in Ordnung. Allerdings siehst du aus, als
solltest du lieber wieder ins Bett gehen. Hast du schon mal an ein
Lifting gedacht, Mitzi? Oder zumindest an chemisches Peeling und
eine Entschlackung? Wir sind es uns schuldig, ›young and beautiful‹
zu bleiben, wie es in dem Song von Annie Lennox so schön heißt.
Und« – Tarnia machte ein wissendes Gesicht, soweit das Botox es
zuließ – »du wirst diesen absolut göttlichen attraktiven jungen
Zahnarzt nicht halten können, wenn er dich in einem solchen Zustand
wie eine alte Spinatwachtel sieht.«
Mitzi war, als hätte ihr gerade jemand die Luft aus
den Lungen geboxt, und sie musste hart dagegen ankämpfen, in sich
zusammenzusacken. »Nein … wohl eher nicht.«
»Ich sag dir was«, trällerte Tarnia auf dem Weg zur
Tür, »mach dir keine Mühe wegen der Speisekärtchen. Die Damen im
Secondhandshop haben mir erzählt, dass es nächste Woche eine kleine
Weihnachtsaufführung im Gemeindesaal gibt. Daran bist du doch
sicherlich auch beteiligt – verstehe gar nicht, warum du mir davon
nichts erzählt hast -, und da müssen Marquis und ich uns natürlich
blicken lassen. Bei der Gelegenheit können wir uns ja dann die
Faltblätter von dir geben lassen. Tschüssi!«