5. Kapitel
Oh mein Gott!«
Mitzi klammerte sich ans Treppengeländer und starrte Johnny Depp an, der vor der Tür stand.
»Tut mir wirklich leid, wenn ich Sie erschreckt habe«, sagte er grinsend, wobei seine strahlend weißen Zähne in der Dunkelheit regelrecht leuchteten. »Alles in Ordnung?«
Mitzi nickte. Das kribbelnde Schwindelgefühl hatte ihr die Sprache verschlagen. Die Vision vor ihren Augen, der schöne junge Mann mit seinen perfekten Gesichtszügen und den seidigen dunklen Haaren, die ihm bis auf die tiefbraunen Augen fielen, konnte einfach nicht echt sein.
»Äh -« Sie gluckste ein wenig und hoffte inständig, dass ihre Beine zu zittern aufhörten. »Ähm, danke, mir geht’s bestens, glaub ich.«
»Das ist doch Hausnummer fünfunddreißig, oder?« Johnny Depp sah immer noch besorgt drein. »Ich konnte die Ziffern von der Straße aus nicht richtig sehen.«
»Ja – oder vielmehr nein«, korrigierte Mitzi sich rasch. Guter Gott – der arme Kerl musste ja denken, sie sei völlig gaga. Was war nur mit ihrem Gehirn los? »Wir sind Hausnummer dreiunddreißig. Fünfunddreißig ist nebenan.«
Er grinste noch ein bisschen breiter. »Ach so. Dann tut es mir aber wirklich leid, dass ich Sie – oh …«
Er starrte hinter Mitzi in die Diele. Immer noch an den Treppenpfosten geklammert, wandte Mitzi vorsichtig den Kopf, um seinem Blick zu folgen.
Zur lauten Hintergrundmusik von »Gimme Gimme Gimme a Man After Midnight« standen Lulu und Doll Schulter an Schulter in der Wohnzimmertür. Beide hatten offenbar die Fähigkeit verloren, zusammenhängende Sätze zu bilden.
Doch sie erholten sich rasch.
»Mum … ist alles in Ordnung? Ich meine -« Lu fiel der Unterkiefer nach unten. »Wow!«
»Wir haben dich schreien hören, und … Mann …« Doll blinzelte. »Das ging ja schnell. Sie hat ihn sich doch erst vor ein paar Minuten gewünscht.«
»Dieser … dieser – ähm – junge Mann wollte eigentlich nach nebenan«, erklärte Mitzi. »Zu den Bandings, nicht zu Flo und Clyde.«
»Ehrlich?« Doll zog die Brauen hoch. »Dann ist wohl mit dem Wunsch etwas schiefgegangen, oder? Was in aller Welt sollen denn Lav und Lob mit Johnny -«
»Tut mir leid, dass ich Sie aufgeschreckt habe«, sagte er, während er über Mitzis Schulter hinweg Doll und Lulu anstrahlte. »Vielleicht ist es ja auch schon zu spät, um noch bei« – er konsultierte einen Zettel, den er in der Hand hielt – »Lavender und Lobelia zu klingeln.«
»Sie gehen wirklich recht früh zu Bett«, bestätigte Mitzi und artikulierte ihre Worte betont sorgfältig, da sich ihre Lippen etwas taub anfühlten. »Aber wenn in ihrem Wohnzimmer Licht brennt, sind sie noch auf.«
»Okay, danke. Dann probier ich es mal. Noch einmal Entschuldigung. Gute Nacht.«
Mit einem letzten Blick in die Diele ging er auf dem dunklen Gartenweg davon, bis nur noch ein unscharfes Bild von ausgebleichten Jeans und einem verwaschenen schwarzen Pullover zurückblieb.
Langsam schloss Mitzi die Tür. Natürlich war er nicht der echte Johnny Depp. Natürlich war das reiner Zufall. Natürlich gingen Wünsche nicht in Erfüllung. Oder etwa doch?
Lu atmete heftig aus und verdrehte ihre schwarz umrandeten Augen. »Wow. War der nicht schnuckelig?«
»Scharfer Typ.« Doll zog die Brauen hoch. »Und er sah Johnny Depp wahnsinnig ähnlich. Offenbar wusste Granny Westward genau, was sie kochen musste.«
Kichernd trollten sie sich alle wieder ins Wohnzimmer. Richard und Judy saßen auf dem Tisch und leckten die Teller sauber. Mitzi hoffte inständig, dass sie sich kein Gemetzel an allerlei Kleingetier gewünscht hatten, das sie ihr dann – noch im Todeskampf zappelnd – in den frühen Morgenstunden unter der Bettdecke präsentieren würden.
»Möchte jemand noch einen Drink? Ich glaube, ich brauche einen.« Mitzi fuhr sich durchs Haar und summte zu »Waterloo« mit. »Hoffentlich kommt es nicht von meinem Essen, aber ich fühle mich ziemlich seltsam.«
»Wir auch«, bestätigte Doll, ehe sie sich schwer auf ihren Stuhl fallen ließ und nach der nächsten von Clydes Flaschen griff. »Aber das kann auch an der Aufregung darüber liegen, dass auf einmal ein Johnny-Depp-Double vor der Tür stand, und muss nicht unbedingt von irgendeinem giftigen Bestandteil deines Auflaufs kommen.«
Lu wirkte immer noch ganz weggetreten. »Aber du hast doch ausschließlich pflanzliche Zutaten verwendet, oder? Natürlich nicht das Übliche aus dem Gewürzregal, aber auch nichts, was man als verbotene Substanz einstufen müsste. Und schwört nicht die halbe Königsfamilie auf pflanzliche Heilmittel?«
»Das ist ja eine tolle Empfehlung, was?« Doll lachte ein bisschen zu laut. »Seht euch nur an, was dabei herausgekommen ist – von denen ist doch kein Einziger normal. Oh Mann, ich bin total benebelt.«
»Aber es ist kein so unangenehmes Gefühl, wie wenn man zu viel getrunken hat, oder?« Mitzi runzelte die Stirn. »Es ist eher prickelnd und leicht und ziemlich angenehm.«
Lächelnd ließ sie sich in die Plüschkissen auf dem Sofa sinken. Vielleicht hatte Granny Westward genau dieses Gefühl erzeugen wollen. Auch vor einigen Jahrzehnten hatte man in so kleinen Orten selbst für Zerstreuung sorgen müssen. Warum sollten die Leute ihr Leben nicht durch leicht verfügbare Zutaten aus ihrer natürlichen Umwelt aufpeppen? Und wenn die ziemlich heftige Wirkung dann als magisch bezeichnet wurde, was machte das schon? Es war doch alles nur Spaß. Sie musste das Buch wirklich einmal genauer studieren und schauen, was sich noch an Unterhaltsamem darin fand.
»Oh mein Gott!« Mitzi kam mühsam auf die Beine. »Ich muss verrückt geworden sein!«
»Was ist denn los?«, fragten Lulu und Doll wie aus einem Munde.
Trotz ihrer Benommenheit war Mitzi bereits an der Wohnzimmertür angelangt. »Ich – ich bin wohl nicht mehr ganz bei Trost. Da schicke ich diesen Typen – auch wenn er noch so gut aussah – zu dieser späten Stunde zwei alten Damen ins Haus! Ausgerechnet ich! Dabei müsste ich doch vernünftig und fürsorglich sein und auf die beiden aufpassen – er könnte ja ein Räuber oder Vergewaltiger oder Mörder oder weiß Gott was sein.«
»Ausgeschlossen«, lachte Lu. »Er war total süß.«
»Ich wette, es hat schon eine ganze Menge sehr attraktiver Serienmörder gegeben.« Mitzi zog die Haustür auf. »Bin gleich wieder da.«
Da sie ihre Füße nicht mehr spürte, war der kurze Weg zwischen ihrem Haus und dem der Bandings eine höchst merkwürdige Erfahrung. Sie stützte sich an den Verandapfosten der beiden Schwestern und drückte die Klingel.
Nach einer ganzen Weile machte Lavender in einem mottenzerfressenen Morgenrock und Celtic-Fußballsocken hinter vorgelegter Kette die Tür auf. »Oh, hallo, Mitzi. Alles in Ordnung? Deine Frisur sieht komisch aus, und dein Gesicht glänzt wie eine Speckschwarte. Du bist doch nicht krank, oder? Ah!« Lavender riss belustigt die Augen auf. »Du lässt dich gehen, meine Liebe, was? Du hast einen einsamen Abend zu viel mit der Ginflasche verbracht, und jetzt rufst du um Hilfe. Wir wussten, dass das über kurz oder lang passieren musste. Komm rein, Mitzi. Lobelia und ich heitern dich auf.«
Nach längerem metallischem Klirren und Schaben machte Lavender die Tür richtig auf.
Mitzi betrat die Diele, in der es nur geringfügig kälter war als in der herbstlichen Nacht vor dem Haus, und schmunzelte. »Danke, aber mir fehlt nichts. Ich bin nicht allein; die Mädchen sind da, und wir hatten einen schönen Abend. Aber vorhin hat ein junger Mann bei uns geklingelt, der eigentlich zu euch wollte, und da wollte ich mal nachfragen, ob er … ob ihr ihn reingelassen habt. Ich weiß natürlich, dass ihr das nie tun würdet, aber -«
»Oh doch, wir haben ihn reingelassen, Mitzi.« Lavender nickte vergnügt. »Er ist mit Lobelia oben im Schlafzimmer.«
Guter Gott! Mitzi zuckte vor Schreck zusammen. »Okay, jetzt bloß keine Panik. Du rufst die Polizei, und ich gehe nach oben und sehe, was ich tun kann.«
»Was sollen wir denn mit der Polizei anfangen, Mitzi?«, fragte Lavender. »Wir haben keinen Platz mehr. Und um diese Uhrzeit käme wahrscheinlich ohnehin bloß der unterbelichtete Tom Hodgkin – es sei denn, dieser nette junge Sergeant hat Dienst, dann könnten wir eventuell noch Platz schaffen und -«
»Wir veranstalten hier keine Party, Lav. Es geht nicht darum, wie viele es sind. Das hier könnte ein Notfall sein. Ruf die Polizei an und sag, dass der junge Mann gewaltsam in euer Haus eingedrungen ist und deine zweiundachtzigjährige Schwester als Geisel genommen hat und -«
»Lobelia ist einundachtzigeinhalb«, entgegnete Lavender pikiert. »Und ich bin neunundsiebzig. Und er hat sie nicht als Geisel genommen. Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist, Mitzi?«
»Lav, hör mal, ihr dürft niemals, unter keinen Umständen, Fremde ins Haus lassen. Das wisst ihr doch, oder?«
»Ja, Mitzi, selbstverständlich wissen wir das. Wir sind ja nicht senil. Aber er ist kein Fremder. Dr. Merrydew hat ihn geschickt. Auf unseren Aushang in der Praxis hin. Herr im Himmel, Mitzi, das kannst du doch nicht vergessen haben? Wir haben einen Untermieter gesucht. Und jetzt ist er da. Pass mal auf …«
Mitzi stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus und registrierte erst jetzt, dass sie heftig zitterte. Ihre Beine fühlten sich an wie aus Gummi. Sie ließ sich auf die unterste Stufe der Treppe sinken, die im Cremeweiß der Fünfzigerjahre lackiert war und in der Mitte von einem abgetretenen erdbraunen Läufer bedeckt war, während Lav einen Zettel auseinanderfaltete.
»Hier. Siehst du? Eine schriftliche Empfehlung von Dr. Merrydew. Der junge Mann arbeitet seit Neuestem am Krankenhaus in Winterbrook und hat ein Wohnungsproblem. Sein Zimmer wurde versehentlich doppelt vergeben, und Dr. Merrydew hat ihm geraten, es bei uns zu versuchen. Er ist Sanitäter.« Lavender strahlte. »Und er heißt Shag.«
»Was?« Mitzi versuchte das Gekritzel auf dem Zettel zu entziffern. »Nein, nein, hier steht, er ist Sanitäter. Und er heißt Shay, Lavender. Shay.«
»Oh.« Lavender spähte auf den Zettel. »Ja, ja, kann schon sein. Dr. Merrydews Schrift ist einfach völlig unleserlich. Deshalb müssen ja die Leute ständig ihre Medikamente aus der Apotheke umtauschen. Weißt du noch, als dein Lance ein Mittel gegen seine Warze gebraucht hat und stattdessen die Steroidsalbe von Mrs Elkins’ Arthur bekommen hat? Was haben wir alle gelacht! Ich meine, für deinen Lance war es natürlich kein großer Schaden, aber für die Hämorrhoiden von Mrs Elkins’ Arthur war es die Hölle. Und weißt du noch, wie -«
»Ja, ja …« Mitzi erhob sich von der Treppe. »Dann ist hier also alles in Ordnung, auch wenn es schon ein bisschen spät ist, um sich auf Zimmersuche zu begeben, aber -«
Sämtliche weiteren Besänftigungsfloskeln wurden von Lobelia unterbrochen, die fast so breit grinste wie vorher Lu und zusammen mit dem umwerfenden Shay die Treppe herunterkam.
»Oh, Mitzi – schön, dich zu sehen. Hattest du Selbstmordgedanken, meine Liebe? Das ist Shay Donovan, unser neuer Untermieter. Mr Donovan, das ist Mitzi Blessing, unsere Nachbarin.«
Verlegen schüttelten sie sich die Hände.
»Wir kennen uns schon«, sagte Mitzi. »Lav erzählt dir alles – und jetzt muss ich sowieso wieder gehen.«
»Mitzi hatte Angst, dass es ein bisschen spät sein könnte, um Herrenbesuch zu empfangen«, keuchte Lavender, während sie sich bückte und ihre Fußballsocken bis zu den Knien hochzog. »Sie hat sich Sorgen um uns gemacht – hat sie zumindest gesagt. Offen gestanden« – sie klimperte mit den blassen Wimpern in Shays Richtung – »glaube ich, dass sie einsam war. Sie ist geschieden, wissen Sie.«
Shay lächelte Mitzi verständnisvoll an. »Meine Eltern sind auch geschieden. Aber bei Ihnen schien es doch ganz lustig zuzugehen, als ich geklingelt habe.«
»Allerdings«, bestätigte Mitzi. »Ich habe für meine beiden Töchter gekocht und -«
Lobelia prustete vor Lachen. »Gekocht? Du? Das ist ja ganz was Neues!«
»Ja. Ich weiß. Jedenfalls war bei mir alles in Ordnung, aber ich fand es eben etwas spät für – äh – Mr Donovans Besuch, und da dachte ich -«
Shay streifte sich die langen Haare aus dem Gesicht, worauf sie prompt wieder zurückfielen. »Es hat eine Verwechslung gegeben. Ich hätte mir eigentlich mit einem Kollegen eine Wohnung in Winterbrook teilen sollen, doch als ich heute Abend dort ankam, waren schon alle Zimmer belegt. Also bin ich wieder ins Krankenhaus gefahren, um zu fragen, ob es hier irgendwo eine kleine Frühstückspension gibt, und da stand Ihr Hausarzt am Empfangstresen. Wir sind ins Gespräch gekommen, und jetzt bin ich eben hier.«
»Das sehe ich«, sagte Mitzi nickend. Sie war enorm erleichtert. »Aber jetzt muss ich wirklich gehen.«
»Und ich muss unserem zahlenden Gast etwas zu essen machen, da er bestimmt noch nichts bekommen hat«, warf sich Lobelia in die Brust. Sie zog die Reste ihrer eingegangenen Strickjacke nach unten, strahlte Shay an und machte sich auf den Weg in Richtung Küche. »Normalerweise ist natürlich kein Abendessen inbegriffen, aber an Ihrem ersten Abend möchten wir Ihnen gern etwas Besonderes bieten. Ich könnte ein schönes Sandwich mit Fischpaste machen und eine Essiggurke dazugeben.«
Mitzi hatte Mühe, sich das Lachen zu verkneifen, während Shay um eine gefasste Miene rang und Lobelia folgte.
»Und«, verkündete Lob aus den frostigen Tiefen der Eiskellerküche der Bandings, »als Willkommensgruß in Ihrem neuen Heim kann ich Ihnen sogar ein Sandwich mit zwei Scheiben Brot anbieten.«
»Verflixt«, knurrte Lavender und hielt Mitzi die Haustür auf. »Aus ist’s mit meinem Frühstück.«
Drüben in ihrem eigenen Heim wurde Mitzi sogleich von behaglicher Geborgenheit umfangen. Der arme, arme Shay.
Doll und Lu saßen mit Richard und Judy auf dem Kaminvorleger und sahen sie erwartungsvoll an. Rasch berichtete sie ihnen, was Shay bei ihren Nachbarinnen wollte, worauf Lus Augen verdächtig zu glitzern begannen. Mitzi hielt die Hände ans Feuer und sprach weiter. »Damit wäre das Märchen von Johnny Depp erledigt, genauso wie die angeblichen Zauberkräfte von Granny Westwards Auflauf.«
»Ach, ich weiß nicht«, meinte Lu, während sie versonnen die Katzen streichelte. »Ich finde es trotzdem ziemlich cool. Zwar nicht ganz das Wahre, aber ziemlich nah dran. Und man weiß ja nie – oh, da klingelt es schon wieder an der Tür. Vielleicht ist er das noch mal?«
»Vielleicht auch nicht.« Doll kam mühsam auf die Beine. »Ich mache auf – ich muss sowieso mal aufs Klo.«
Nachdem sie genug Wärme getankt hatte, machte Mitzi es sich auf dem weichen Sofa bequem und schloss die Augen. Ihr war immer noch ziemlich schwummrig.
»Guter Gott!«
Lulus Aufschrei ließ sie zusammenzucken. Sie schlug die Augen auf und wandte sich zur Tür um. Eine verblüfft aussehende Doll stand direkt vor Brett, der noch in der Diele stand und eine Art schwarzen Lederoverall trug.
»Brett!« Mitzi erhob sich langsam vom Sofa. Sie fühlte sich immer noch reichlich seltsam. »Schön, dich zu sehen. Ähm – Doll hat gar nicht gesagt, dass du noch vorbeikommen wolltest.«
Brett lächelte reichlich verlegen. Auf einmal erkannte Mitzi, dass der vermeintliche Lederoverall aus engen schwarzen Jeans und einer Lederjacke bestand. Er sah aus wie eine Art Superman für Arme, was sehr befremdlich war, da Brett, seit sie ihn kannte – abgesehen von seiner Briefträgeruniform -, meist nur beige Stoffhosen und noch beigere Polohemden trug.
»Hatte ich auch nicht vor, aber – na ja, ich dachte mir, vielleicht hat Doll ein bisschen zu viel getrunken, um noch zu fahren, also bin ich hergelaufen, um sie nach Hause zu bringen …« Er runzelte die Stirn. »Es war wirklich seltsam, wisst ihr. Ich war schon im Bett und schlief, da hatte ich auf einmal einen unheimlich lebendigen Traum, in dem Doll mich gebraucht hat. Als ich aufgewacht bin, musste ich sie unbedingt sehen. Musste unbedingt herkommen und sie abholen …«
»Aber du hast sie doch noch nie abgeholt, noch kein einziges Mal«, kicherte Lu. »Und warum in aller Welt hast du so perverse Klamotten an?«
Brett schüttelte irritiert den Kopf. »Weiß ich auch nicht. Ich hab die Sachen seit Jahren nicht mehr angehabt. Irgendwie sind sie mir aus dem Schrank entgegengefallen, und ich musste so dringend hierherkommen, dass ich mir nicht die Zeit genommen habe, etwas anderes zu suchen. Irgendwie haben sie auch zu meiner Stimmung gepasst …« Er lächelte Doll zärtlich an. »Und, Liebling, bist du fertig?«
»Liebling? Mann!« Lu sah Mitzi an. »Was hat sie sich gewünscht? Spontane romantische Anwandlungen … Wow. Das ist ja schon fast beängstigend!«
»Still«, zischte Mitzi. »Was auch immer der Grund dafür sein mag, wir wollen es nicht verderben. Doll, Schätzchen, du fährst jetzt besser nach Hause. Nein, Lu und ich räumen morgen früh alles auf. Jetzt geht schon, ihr beiden.«
Doll, die nach wie vor völlig perplex dreinsah, ließ sich von einem liebevoll besorgten Brett in den Mantel helfen. Dass er dabei Anstalten machte, sie von oben bis unten abzuküssen, machte die Sache etwas schwieriger als sonst. Lulu vergrub das Gesicht in Richards und Judys weichem Fell und kicherte.
Nachdem sich alle verabschiedet hatten und sie Doll und Brett in ihrem Kokon aus innigem Glück nachgewinkt hatte, machte Mitzi das Licht in der völlig verwüsteten Küche aus und kehrte ins Wohnzimmer zurück.
»Zwei von drei.« Lu streckte die Beine unter ihren langen Röcken und erhob sich. »Nicht schlecht, Mum. Gar nicht schlecht … Und bist du sicher, dass du heute Abend nicht mehr aufräumen willst?«
»Ganz sicher. Wahrscheinlich werden wir uns morgen früh wieder normaler fühlen, wenn wir erst mal eine Nacht geschlafen haben. Aber sogar ich muss zugeben, dass Bretts Verhalten nicht – na ja – nicht so ganz zu seinem sonstigen Wesen gepasst hat.«
»Die arme Doll.« Lu erschauerte und gab ihrer Mutter einen Kuss, ehe sie auf wackligen Beinen durchs Wohnzimmer stolperte. »Dank Granny Westward muss sie jetzt eine Nacht der Leidenschaft mit Briefträger Brett durchstehen. Stell dir das nur mal vor – ach, lieber nicht! Ich meine, der langweilige Brett und unsere Doll beim heißen Liebesspiel! Igitt. Das zeigt, dass man sich wirklich gut überlegen muss, was man sich wünscht … Gute Nacht dann … Ich geh schlafen und träume tugendhafte Dinge von unserem neuen Nachbarn.«
Allein im Schein des Kaminfeuers, tauschte Mitzi ABBA gegen die Rolling Stones aus und trällerte mit, während Mick und seine Jungs ihren »19th Nervous Breakdown« besangen. Richard und Judy räkelten sich vor dem Feuer, und Mitzi legte sich zu ihnen auf den Teppich. Es war ein wunderbarer Abend gewesen, wenn auch ein sehr, sehr merkwürdiger – zuerst Shays Auftauchen und dann Bretts völlig untypisches Verhalten. Und beides so kurz, nachdem sie ihre Wünsche ausgesprochen hatten. Natürlich war das reiner Zufall, sonst nichts. Trotzdem war es komisch, und vielleicht, vielleicht steckte ja doch etwas hinter dieser Kräuterküche.
Im Lauf des Wochenendes würde sie sämtliche Leute anrufen, die sich auf ihren Fitte-Fünfziger-Aushang hin gemeldet hatten, und ein Treffen im Gemeindesaal ansetzen. Wenn sie den Gemeindesaal mieten wollte, hieß das natürlich, dass sie sich mit Tarnia Snepps anlegen musste, was garantiert zum gewohnten Zweikampf darüber ausarten würde, wer das Sagen hatte. Falls Tarnia der Ansicht war, der Fitte-Fünfziger-Club könnte ihr Image verbessern, würde sie sich garantiert in den Vordergrund drängen. Wie üblich.
Mitzi klopfte im Takt zur Musik mit den Fingern, als Mick und seine Jungs zu »It’s All Over Now« übergingen. Vielleicht sollte sie Granny Westwards Kochbuch mal genauer studieren. Womöglich fand sie ja ein Rezept, das ihr half, die Botox-Queen von Hazy Hassocks auszumanövrieren. Gesteigertes Selbstbewusstsein oder etwas in der Richtung. Ginseng im Gewürzkuchen oder Kümmel in den Karamellkeksen.
Das Telefon klingelte. Stöhnend sah Mitzi auf die Uhr. Schon nach Mitternacht. Wahrscheinlich falsch verbunden. Irgendein Betrunkener, der ein Taxi brauchte oder Döner bestellen wollte. Ohne extra aufzustehen, rollte sie sich zum Apparat hinüber.
»Hallo? Oh, Lance, langsam werden die nächtlichen Anrufe zur Gewohnheit, stimmt’s? Was ist denn los? Hört Jennifer am zweiten Anschluss mit? Wo ist sie? Was macht sie? Nein, ich lache nicht … ganz ehrlich. Aber das kommt davon, wenn man eine Frau aus dem feinen Chigwell heiratet. Französische Maniküre und Wochenenden zur Gesichtsentschlackung … Hmmm … Was? Nein, ich schwöre, ich lache nicht. Was? Ach, sei doch nicht albern, Lance – natürlich nicht! Morgen? Nein, ich glaube nicht – ehrlich. Ich habe wirklich viel zu tun. Ruf mich unter der Woche an, okay? Tut mir leid – gute Nacht.«
Ärgerlich drückte sie die Auflegetaste und rammte das Telefon unter die Kissen. Mick und Co. johlten unterdessen »Under My Thumb«.
Mitzi schmiegte sich an Richard und Judy und seufzte schwer. Du liebe Zeit. Warum hatte Lance ausgerechnet an diesem Abend angerufen, um ihr zu sagen, wie sehr er sie immer noch brauchte und liebte?