5. Kapitel
Oh mein Gott!«
Mitzi klammerte sich ans Treppengeländer und
starrte Johnny Depp an, der vor der Tür stand.
»Tut mir wirklich leid, wenn ich Sie erschreckt
habe«, sagte er grinsend, wobei seine strahlend weißen Zähne in der
Dunkelheit regelrecht leuchteten. »Alles in Ordnung?«
Mitzi nickte. Das kribbelnde Schwindelgefühl hatte
ihr die Sprache verschlagen. Die Vision vor ihren Augen, der schöne
junge Mann mit seinen perfekten Gesichtszügen und den seidigen
dunklen Haaren, die ihm bis auf die tiefbraunen Augen fielen,
konnte einfach nicht echt sein.
»Äh -« Sie gluckste ein wenig und hoffte inständig,
dass ihre Beine zu zittern aufhörten. »Ähm, danke, mir geht’s
bestens, glaub ich.«
»Das ist doch Hausnummer fünfunddreißig, oder?«
Johnny Depp sah immer noch besorgt drein. »Ich konnte die Ziffern
von der Straße aus nicht richtig sehen.«
»Ja – oder vielmehr nein«, korrigierte Mitzi sich
rasch. Guter Gott – der arme Kerl musste ja denken, sie sei völlig
gaga. Was war nur mit ihrem Gehirn los? »Wir sind Hausnummer
dreiunddreißig. Fünfunddreißig ist nebenan.«
Er grinste noch ein bisschen breiter. »Ach so. Dann
tut es mir aber wirklich leid, dass ich Sie – oh …«
Er starrte hinter Mitzi in die Diele. Immer noch an
den Treppenpfosten geklammert, wandte Mitzi vorsichtig den Kopf, um
seinem Blick zu folgen.
Zur lauten Hintergrundmusik von »Gimme Gimme Gimme
a Man After Midnight« standen Lulu und Doll Schulter an Schulter in
der Wohnzimmertür. Beide hatten offenbar die Fähigkeit verloren,
zusammenhängende Sätze zu bilden.
Doch sie erholten sich rasch.
»Mum … ist alles in Ordnung? Ich meine -« Lu fiel
der Unterkiefer nach unten. »Wow!«
»Wir haben dich schreien hören, und … Mann …« Doll
blinzelte. »Das ging ja schnell. Sie hat ihn sich doch erst vor ein
paar Minuten gewünscht.«
»Dieser … dieser – ähm – junge Mann wollte
eigentlich nach nebenan«, erklärte Mitzi. »Zu den Bandings, nicht
zu Flo und Clyde.«
»Ehrlich?« Doll zog die Brauen hoch. »Dann ist wohl
mit dem Wunsch etwas schiefgegangen, oder? Was in aller Welt sollen
denn Lav und Lob mit Johnny -«
»Tut mir leid, dass ich Sie aufgeschreckt habe«,
sagte er, während er über Mitzis Schulter hinweg Doll und Lulu
anstrahlte. »Vielleicht ist es ja auch schon zu spät, um noch bei«
– er konsultierte einen Zettel, den er in der Hand hielt –
»Lavender und Lobelia zu klingeln.«
»Sie gehen wirklich recht früh zu Bett«, bestätigte
Mitzi und artikulierte ihre Worte betont sorgfältig, da sich ihre
Lippen etwas taub anfühlten. »Aber wenn in ihrem Wohnzimmer Licht
brennt, sind sie noch auf.«
»Okay, danke. Dann probier ich es mal. Noch einmal
Entschuldigung. Gute Nacht.«
Mit einem letzten Blick in die Diele ging er auf
dem dunklen
Gartenweg davon, bis nur noch ein unscharfes Bild von
ausgebleichten Jeans und einem verwaschenen schwarzen Pullover
zurückblieb.
Langsam schloss Mitzi die Tür. Natürlich war er
nicht der echte Johnny Depp. Natürlich war das reiner Zufall.
Natürlich gingen Wünsche nicht in Erfüllung. Oder etwa doch?
Lu atmete heftig aus und verdrehte ihre schwarz
umrandeten Augen. »Wow. War der nicht schnuckelig?«
»Scharfer Typ.« Doll zog die Brauen hoch. »Und er
sah Johnny Depp wahnsinnig ähnlich. Offenbar wusste Granny Westward
genau, was sie kochen musste.«
Kichernd trollten sie sich alle wieder ins
Wohnzimmer. Richard und Judy saßen auf dem Tisch und leckten die
Teller sauber. Mitzi hoffte inständig, dass sie sich kein Gemetzel
an allerlei Kleingetier gewünscht hatten, das sie ihr dann – noch
im Todeskampf zappelnd – in den frühen Morgenstunden unter der
Bettdecke präsentieren würden.
»Möchte jemand noch einen Drink? Ich glaube, ich
brauche einen.« Mitzi fuhr sich durchs Haar und summte zu
»Waterloo« mit. »Hoffentlich kommt es nicht von meinem Essen, aber
ich fühle mich ziemlich seltsam.«
»Wir auch«, bestätigte Doll, ehe sie sich schwer
auf ihren Stuhl fallen ließ und nach der nächsten von Clydes
Flaschen griff. »Aber das kann auch an der Aufregung darüber
liegen, dass auf einmal ein Johnny-Depp-Double vor der Tür stand,
und muss nicht unbedingt von irgendeinem giftigen Bestandteil
deines Auflaufs kommen.«
Lu wirkte immer noch ganz weggetreten. »Aber du
hast doch ausschließlich pflanzliche Zutaten verwendet, oder?
Natürlich nicht das Übliche aus dem Gewürzregal, aber auch nichts,
was man als verbotene Substanz einstufen müsste.
Und schwört nicht die halbe Königsfamilie auf pflanzliche
Heilmittel?«
»Das ist ja eine tolle Empfehlung, was?« Doll
lachte ein bisschen zu laut. »Seht euch nur an, was dabei
herausgekommen ist – von denen ist doch kein Einziger normal. Oh
Mann, ich bin total benebelt.«
»Aber es ist kein so unangenehmes Gefühl, wie wenn
man zu viel getrunken hat, oder?« Mitzi runzelte die Stirn. »Es ist
eher prickelnd und leicht und ziemlich angenehm.«
Lächelnd ließ sie sich in die Plüschkissen auf dem
Sofa sinken. Vielleicht hatte Granny Westward genau dieses Gefühl
erzeugen wollen. Auch vor einigen Jahrzehnten hatte man in so
kleinen Orten selbst für Zerstreuung sorgen müssen. Warum sollten
die Leute ihr Leben nicht durch leicht verfügbare Zutaten aus ihrer
natürlichen Umwelt aufpeppen? Und wenn die ziemlich heftige Wirkung
dann als magisch bezeichnet wurde, was machte das schon? Es war
doch alles nur Spaß. Sie musste das Buch wirklich einmal genauer
studieren und schauen, was sich noch an Unterhaltsamem darin
fand.
»Oh mein Gott!« Mitzi kam mühsam auf die Beine.
»Ich muss verrückt geworden sein!«
»Was ist denn los?«, fragten Lulu und Doll wie aus
einem Munde.
Trotz ihrer Benommenheit war Mitzi bereits an der
Wohnzimmertür angelangt. »Ich – ich bin wohl nicht mehr ganz bei
Trost. Da schicke ich diesen Typen – auch wenn er noch so gut
aussah – zu dieser späten Stunde zwei alten Damen ins Haus!
Ausgerechnet ich! Dabei müsste ich doch vernünftig und fürsorglich
sein und auf die beiden aufpassen – er könnte ja ein Räuber oder
Vergewaltiger oder Mörder oder weiß Gott was sein.«
»Ausgeschlossen«, lachte Lu. »Er war total
süß.«
»Ich wette, es hat schon eine ganze Menge sehr
attraktiver Serienmörder gegeben.« Mitzi zog die Haustür auf. »Bin
gleich wieder da.«
Da sie ihre Füße nicht mehr spürte, war der kurze
Weg zwischen ihrem Haus und dem der Bandings eine höchst
merkwürdige Erfahrung. Sie stützte sich an den Verandapfosten der
beiden Schwestern und drückte die Klingel.
Nach einer ganzen Weile machte Lavender in einem
mottenzerfressenen Morgenrock und Celtic-Fußballsocken hinter
vorgelegter Kette die Tür auf. »Oh, hallo, Mitzi. Alles in Ordnung?
Deine Frisur sieht komisch aus, und dein Gesicht glänzt wie eine
Speckschwarte. Du bist doch nicht krank, oder? Ah!« Lavender riss
belustigt die Augen auf. »Du lässt dich gehen, meine Liebe, was? Du
hast einen einsamen Abend zu viel mit der Ginflasche verbracht, und
jetzt rufst du um Hilfe. Wir wussten, dass das über kurz oder lang
passieren musste. Komm rein, Mitzi. Lobelia und ich heitern dich
auf.«
Nach längerem metallischem Klirren und Schaben
machte Lavender die Tür richtig auf.
Mitzi betrat die Diele, in der es nur geringfügig
kälter war als in der herbstlichen Nacht vor dem Haus, und
schmunzelte. »Danke, aber mir fehlt nichts. Ich bin nicht allein;
die Mädchen sind da, und wir hatten einen schönen Abend. Aber
vorhin hat ein junger Mann bei uns geklingelt, der eigentlich zu
euch wollte, und da wollte ich mal nachfragen, ob er … ob ihr ihn
reingelassen habt. Ich weiß natürlich, dass ihr das nie tun würdet,
aber -«
»Oh doch, wir haben ihn reingelassen, Mitzi.«
Lavender nickte vergnügt. »Er ist mit Lobelia oben im
Schlafzimmer.«
Guter Gott! Mitzi zuckte vor Schreck zusammen.
»Okay, jetzt bloß keine Panik. Du rufst die Polizei, und ich gehe
nach oben und sehe, was ich tun kann.«
»Was sollen wir denn mit der Polizei anfangen,
Mitzi?«, fragte Lavender. »Wir haben keinen Platz mehr. Und um
diese Uhrzeit käme wahrscheinlich ohnehin bloß der unterbelichtete
Tom Hodgkin – es sei denn, dieser nette junge Sergeant hat Dienst,
dann könnten wir eventuell noch Platz schaffen und -«
»Wir veranstalten hier keine Party, Lav. Es geht
nicht darum, wie viele es sind. Das hier könnte ein Notfall sein.
Ruf die Polizei an und sag, dass der junge Mann gewaltsam in euer
Haus eingedrungen ist und deine zweiundachtzigjährige Schwester als
Geisel genommen hat und -«
»Lobelia ist einundachtzigeinhalb«, entgegnete
Lavender pikiert. »Und ich bin neunundsiebzig. Und er hat sie nicht
als Geisel genommen. Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung
ist, Mitzi?«
»Lav, hör mal, ihr dürft niemals, unter keinen
Umständen, Fremde ins Haus lassen. Das wisst ihr doch, oder?«
»Ja, Mitzi, selbstverständlich wissen wir das. Wir
sind ja nicht senil. Aber er ist kein Fremder. Dr. Merrydew hat ihn
geschickt. Auf unseren Aushang in der Praxis hin. Herr im Himmel,
Mitzi, das kannst du doch nicht vergessen haben? Wir haben einen
Untermieter gesucht. Und jetzt ist er da. Pass mal auf …«
Mitzi stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung
aus und registrierte erst jetzt, dass sie heftig zitterte. Ihre
Beine fühlten sich an wie aus Gummi. Sie ließ sich auf die unterste
Stufe der Treppe sinken, die im Cremeweiß der Fünfzigerjahre
lackiert war und in der Mitte von einem abgetretenen erdbraunen
Läufer bedeckt war, während Lav einen Zettel
auseinanderfaltete.
»Hier. Siehst du? Eine schriftliche Empfehlung von
Dr. Merrydew. Der junge Mann arbeitet seit Neuestem am Krankenhaus
in Winterbrook und hat ein Wohnungsproblem. Sein Zimmer wurde
versehentlich doppelt vergeben, und Dr. Merrydew hat ihm geraten,
es bei uns zu versuchen. Er ist Sanitäter.« Lavender strahlte. »Und
er heißt Shag.«
»Was?« Mitzi versuchte das Gekritzel auf dem Zettel
zu entziffern. »Nein, nein, hier steht, er ist Sanitäter. Und er heißt Shay, Lavender. Shay.«
»Oh.« Lavender spähte auf den Zettel. »Ja, ja, kann
schon sein. Dr. Merrydews Schrift ist einfach völlig unleserlich.
Deshalb müssen ja die Leute ständig ihre Medikamente aus der
Apotheke umtauschen. Weißt du noch, als dein Lance ein Mittel gegen
seine Warze gebraucht hat und stattdessen die Steroidsalbe von Mrs
Elkins’ Arthur bekommen hat? Was haben wir alle gelacht! Ich meine,
für deinen Lance war es natürlich kein großer Schaden, aber für die
Hämorrhoiden von Mrs Elkins’ Arthur war es die Hölle. Und weißt du
noch, wie -«
»Ja, ja …« Mitzi erhob sich von der Treppe. »Dann
ist hier also alles in Ordnung, auch wenn es schon ein bisschen
spät ist, um sich auf Zimmersuche zu begeben, aber -«
Sämtliche weiteren Besänftigungsfloskeln wurden von
Lobelia unterbrochen, die fast so breit grinste wie vorher Lu und
zusammen mit dem umwerfenden Shay die Treppe herunterkam.
»Oh, Mitzi – schön, dich zu sehen. Hattest du
Selbstmordgedanken, meine Liebe? Das ist Shay Donovan, unser neuer
Untermieter. Mr Donovan, das ist Mitzi Blessing, unsere
Nachbarin.«
Verlegen schüttelten sie sich die Hände.
»Wir kennen uns schon«, sagte Mitzi. »Lav erzählt
dir alles – und jetzt muss ich sowieso wieder gehen.«
»Mitzi hatte Angst, dass es ein bisschen spät sein
könnte, um Herrenbesuch zu empfangen«, keuchte Lavender, während
sie sich bückte und ihre Fußballsocken bis zu den Knien hochzog.
»Sie hat sich Sorgen um uns gemacht – hat sie zumindest gesagt.
Offen gestanden« – sie klimperte mit den blassen Wimpern in Shays
Richtung – »glaube ich, dass sie einsam war. Sie ist geschieden,
wissen Sie.«
Shay lächelte Mitzi verständnisvoll an. »Meine
Eltern sind auch geschieden. Aber bei Ihnen schien es doch ganz
lustig zuzugehen, als ich geklingelt habe.«
»Allerdings«, bestätigte Mitzi. »Ich habe für meine
beiden Töchter gekocht und -«
Lobelia prustete vor Lachen. »Gekocht? Du? Das ist
ja ganz was Neues!«
»Ja. Ich weiß. Jedenfalls war bei mir alles in
Ordnung, aber ich fand es eben etwas spät für – äh – Mr Donovans
Besuch, und da dachte ich -«
Shay streifte sich die langen Haare aus dem
Gesicht, worauf sie prompt wieder zurückfielen. »Es hat eine
Verwechslung gegeben. Ich hätte mir eigentlich mit einem Kollegen
eine Wohnung in Winterbrook teilen sollen, doch als ich heute Abend
dort ankam, waren schon alle Zimmer belegt. Also bin ich wieder ins
Krankenhaus gefahren, um zu fragen, ob es hier irgendwo eine kleine
Frühstückspension gibt, und da stand Ihr Hausarzt am
Empfangstresen. Wir sind ins Gespräch gekommen, und jetzt bin ich
eben hier.«
»Das sehe ich«, sagte Mitzi nickend. Sie war enorm
erleichtert. »Aber jetzt muss ich wirklich gehen.«
»Und ich muss unserem zahlenden Gast etwas zu essen
machen, da er bestimmt noch nichts bekommen hat«, warf sich Lobelia
in die Brust. Sie zog die Reste ihrer eingegangenen Strickjacke
nach unten, strahlte Shay an und machte sich auf den Weg in
Richtung Küche. »Normalerweise ist natürlich kein Abendessen
inbegriffen, aber an Ihrem ersten Abend möchten wir Ihnen gern
etwas Besonderes bieten. Ich könnte ein schönes Sandwich mit
Fischpaste machen und eine Essiggurke dazugeben.«
Mitzi hatte Mühe, sich das Lachen zu verkneifen,
während Shay um eine gefasste Miene rang und Lobelia folgte.
»Und«, verkündete Lob aus den frostigen Tiefen der
Eiskellerküche der Bandings, »als Willkommensgruß in Ihrem neuen
Heim kann ich Ihnen sogar ein Sandwich mit zwei Scheiben Brot anbieten.«
»Verflixt«, knurrte Lavender und hielt Mitzi die
Haustür auf. »Aus ist’s mit meinem Frühstück.«
Drüben in ihrem eigenen Heim wurde Mitzi sogleich
von behaglicher Geborgenheit umfangen. Der arme, arme Shay.
Doll und Lu saßen mit Richard und Judy auf dem
Kaminvorleger und sahen sie erwartungsvoll an. Rasch berichtete sie
ihnen, was Shay bei ihren Nachbarinnen wollte, worauf Lus Augen
verdächtig zu glitzern begannen. Mitzi hielt die Hände ans Feuer
und sprach weiter. »Damit wäre das Märchen von Johnny Depp
erledigt, genauso wie die angeblichen Zauberkräfte von Granny
Westwards Auflauf.«
»Ach, ich weiß nicht«, meinte Lu, während sie
versonnen die Katzen streichelte. »Ich finde es trotzdem ziemlich
cool. Zwar nicht ganz das Wahre, aber ziemlich nah dran. Und man
weiß ja nie – oh, da klingelt es schon wieder an der Tür.
Vielleicht ist er das noch mal?«
»Vielleicht auch nicht.« Doll kam mühsam auf die
Beine. »Ich mache auf – ich muss sowieso mal aufs Klo.«
Nachdem sie genug Wärme getankt hatte, machte Mitzi
es sich auf dem weichen Sofa bequem und schloss die Augen. Ihr war
immer noch ziemlich schwummrig.
»Guter Gott!«
Lulus Aufschrei ließ sie zusammenzucken. Sie schlug
die Augen auf und wandte sich zur Tür um. Eine verblüfft aussehende
Doll stand direkt vor Brett, der noch in der Diele stand und eine
Art schwarzen Lederoverall trug.
»Brett!« Mitzi erhob sich langsam vom Sofa. Sie
fühlte sich immer noch reichlich seltsam. »Schön, dich zu sehen.
Ähm – Doll hat gar nicht gesagt, dass du noch vorbeikommen
wolltest.«
Brett lächelte reichlich verlegen. Auf einmal
erkannte Mitzi, dass der vermeintliche Lederoverall aus engen
schwarzen Jeans und einer Lederjacke bestand. Er sah aus wie eine
Art Superman für Arme, was sehr befremdlich war, da Brett, seit sie
ihn kannte – abgesehen von seiner Briefträgeruniform -, meist nur
beige Stoffhosen und noch beigere Polohemden trug.
»Hatte ich auch nicht vor, aber – na ja, ich dachte
mir, vielleicht hat Doll ein bisschen zu viel getrunken, um noch zu
fahren, also bin ich hergelaufen, um sie nach Hause zu bringen …«
Er runzelte die Stirn. »Es war wirklich seltsam, wisst ihr. Ich war
schon im Bett und schlief, da hatte ich auf einmal einen unheimlich
lebendigen Traum, in dem Doll mich gebraucht hat. Als ich
aufgewacht bin, musste ich sie unbedingt sehen. Musste unbedingt
herkommen und sie abholen …«
»Aber du hast sie doch noch nie abgeholt, noch kein
einziges Mal«, kicherte Lu. »Und warum in aller Welt hast du so
perverse Klamotten an?«
Brett schüttelte irritiert den Kopf. »Weiß ich auch
nicht. Ich hab die Sachen seit Jahren nicht mehr angehabt.
Irgendwie sind sie mir aus dem Schrank entgegengefallen, und ich
musste so dringend hierherkommen, dass ich mir nicht die Zeit
genommen habe, etwas anderes zu suchen. Irgendwie haben sie auch zu
meiner Stimmung gepasst …« Er lächelte Doll zärtlich an. »Und,
Liebling, bist du fertig?«
»Liebling? Mann!« Lu sah
Mitzi an. »Was hat sie sich gewünscht? Spontane romantische
Anwandlungen … Wow. Das ist ja schon fast beängstigend!«
»Still«, zischte Mitzi. »Was auch immer der Grund
dafür sein mag, wir wollen es nicht verderben. Doll, Schätzchen, du
fährst jetzt besser nach Hause. Nein, Lu und ich räumen morgen früh
alles auf. Jetzt geht schon, ihr beiden.«
Doll, die nach wie vor völlig perplex dreinsah,
ließ sich von einem liebevoll besorgten Brett in den Mantel helfen.
Dass er dabei Anstalten machte, sie von oben bis unten abzuküssen,
machte die Sache etwas schwieriger als sonst. Lulu vergrub das
Gesicht in Richards und Judys weichem Fell und kicherte.
Nachdem sich alle verabschiedet hatten und sie Doll
und Brett in ihrem Kokon aus innigem Glück nachgewinkt hatte,
machte Mitzi das Licht in der völlig verwüsteten Küche aus und
kehrte ins Wohnzimmer zurück.
»Zwei von drei.« Lu streckte die Beine unter ihren
langen Röcken und erhob sich. »Nicht schlecht, Mum. Gar nicht
schlecht … Und bist du sicher, dass du heute Abend nicht mehr
aufräumen willst?«
»Ganz sicher. Wahrscheinlich werden wir uns morgen
früh wieder normaler fühlen, wenn wir erst mal eine Nacht
geschlafen haben. Aber sogar ich muss zugeben, dass Bretts
Verhalten nicht – na ja – nicht so ganz zu seinem sonstigen Wesen
gepasst hat.«
»Die arme Doll.« Lu erschauerte und gab ihrer
Mutter einen Kuss, ehe sie auf wackligen Beinen durchs Wohnzimmer
stolperte. »Dank Granny Westward muss sie jetzt eine Nacht der
Leidenschaft mit Briefträger Brett durchstehen. Stell dir das nur
mal vor – ach, lieber nicht! Ich meine, der langweilige Brett und
unsere Doll beim heißen Liebesspiel! Igitt. Das zeigt, dass man
sich wirklich gut überlegen muss, was man sich wünscht … Gute Nacht
dann … Ich geh schlafen und träume tugendhafte Dinge von unserem
neuen Nachbarn.«
Allein im Schein des Kaminfeuers, tauschte Mitzi
ABBA gegen die Rolling Stones aus und trällerte mit, während Mick
und seine Jungs ihren »19th Nervous Breakdown« besangen. Richard
und Judy räkelten sich vor dem Feuer, und Mitzi legte sich zu ihnen
auf den Teppich. Es war ein wunderbarer Abend gewesen, wenn auch
ein sehr, sehr merkwürdiger – zuerst Shays Auftauchen und dann
Bretts völlig untypisches Verhalten. Und beides so kurz, nachdem
sie ihre Wünsche ausgesprochen hatten. Natürlich war das reiner
Zufall, sonst nichts. Trotzdem war es komisch, und vielleicht,
vielleicht steckte ja doch etwas hinter dieser Kräuterküche.
Im Lauf des Wochenendes würde sie sämtliche Leute
anrufen, die sich auf ihren Fitte-Fünfziger-Aushang hin gemeldet
hatten, und ein Treffen im Gemeindesaal ansetzen. Wenn sie den
Gemeindesaal mieten wollte, hieß das natürlich, dass sie sich mit
Tarnia Snepps anlegen musste, was garantiert zum gewohnten
Zweikampf darüber ausarten würde, wer das Sagen hatte. Falls Tarnia
der Ansicht war, der Fitte-Fünfziger-Club könnte ihr Image
verbessern, würde sie sich garantiert in den Vordergrund drängen.
Wie üblich.
Mitzi klopfte im Takt zur Musik mit den Fingern,
als Mick und seine Jungs zu »It’s All Over Now« übergingen.
Vielleicht sollte sie Granny Westwards Kochbuch mal genauer
studieren. Womöglich fand sie ja ein Rezept, das ihr half, die
Botox-Queen von Hazy Hassocks auszumanövrieren. Gesteigertes
Selbstbewusstsein oder etwas in der Richtung. Ginseng im
Gewürzkuchen oder Kümmel in den Karamellkeksen.
Das Telefon klingelte. Stöhnend sah Mitzi auf die
Uhr. Schon nach Mitternacht. Wahrscheinlich falsch verbunden.
Irgendein Betrunkener, der ein Taxi brauchte oder Döner bestellen
wollte. Ohne extra aufzustehen, rollte sie sich zum Apparat
hinüber.
»Hallo? Oh, Lance, langsam werden die nächtlichen
Anrufe zur Gewohnheit, stimmt’s? Was ist denn los? Hört Jennifer am
zweiten Anschluss mit? Wo ist sie? Was macht sie? Nein, ich lache
nicht … ganz ehrlich. Aber das kommt davon, wenn man eine Frau aus
dem feinen Chigwell heiratet. Französische Maniküre und Wochenenden
zur Gesichtsentschlackung … Hmmm … Was? Nein, ich schwöre, ich
lache nicht. Was? Ach, sei doch nicht albern, Lance – natürlich
nicht! Morgen? Nein, ich glaube nicht – ehrlich. Ich habe wirklich
viel zu tun. Ruf mich unter der Woche an, okay? Tut mir leid – gute
Nacht.«
Ärgerlich drückte sie die Auflegetaste und rammte
das Telefon unter die Kissen. Mick und Co. johlten unterdessen
»Under My Thumb«.
Mitzi schmiegte sich an Richard und Judy und
seufzte schwer. Du liebe Zeit. Warum hatte Lance ausgerechnet an
diesem Abend angerufen, um ihr zu sagen, wie sehr er sie immer noch
brauchte und liebte?