10. Kapitel
Molchauge – ja; Fledermausohr – ja; Krötenklaue – ja …« Mitzi hakte die Zutaten auf ihrer Einkaufsliste ab. »Also, mal im Ernst … getrockneter Basilikum, Feigen, Bananen, Gerstenwasser – ja; Brombeerflocken, Chicorée, Estragon – nein; frische Trauben, Lauch, Zitronen – ja; Lakritz – nein; Majoran, gemischte Nüsse – ja; Pfefferminze – nein; Ananas, Schalotten – ja; Sternanis, Erdbeeren, Thymian – nein.«
Zu Mitzis großer Erleichterung enthielten Granny Westwards Halloween-Rezepte im Gegensatz zu den vorherigen relativ normale Zutaten. Okay, der Gilead-Balsam war ein bisschen schwierig gewesen, genau wie der ziemlich beunruhigende Zusatz, dass eine Prise Betonie gut für die Heilung der Elfenkrankheit sei, sowie die fast unleserlich gekrakelte Bemerkung, dass eine große Tasse Hanfsamen die Party erst richtig in Schwung bringen würde.
»Äpfel, ja … Ebenholz, nein. Ebenholz? Ebenholz? Wahrscheinlich ein Schreibfehler. Gut – Haselnüsse? Ein bisschen früh … Ah, Pappelflocken für den Sternenflug … vielleicht eher nicht … Und Kürbisse für die Dekoration und das Fleisch für die Kürbisküsse … hmmm …«
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie ziemlich laut vor sich hin sprach und mit ausladenden Gesten ihre Liste abhakte. Sie hielt abrupt inne und blickte sich verstohlen im Laden um.
So ein Mist. Eine Menschentraube, die sich um die Körbe mit den Sonderangeboten versammelt hatte, beobachtete sie aufmerksam. Mitzi warf ihnen ein kleines Lächeln zu, steckte die Liste ein und schob ihren Einkaufswagen in die entgegengesetzte Richtung, wobei sie inständig hoffte, dass sie nicht aussah wie eine Verrückte, die Selbstgespräche führt. Alles, was ihr jetzt noch fehlte, bekam sie gewiss bei Herbie’s Healthfoods, und beim Rest musste sie eben improvisieren wie immer.
In bester Laune stellte sie sich in die Schlange an der einzigen geöffneten Kasse und schob sich langsam mit den anderen voran. Obwohl es erst auf Ende Oktober zuging, plärrte »Santa Claus is Coming to Town« aus den Lautsprechern.
Da im Supermarkt allerdings bereits seit Ende August Lametta hing, wunderte sich Mitzi nicht besonders darüber.
Bis sie vorn an der Kasse angelangt war, lief bereits »Wishing It Could Be Christmas Every Day« von Wizzard. Sie sang mit Roy Wood den Refrain mit und stellte ihre Sachen aufs Band.
»Fünfzehn Pfund und drei Pence, Mrs Blessing«, schniefte Gavin, der Junge an der Kasse. »Is’ das alles für Ihre Party morgen?«
»Genau.« Ungerührt von seinem Insider-Wissen reichte ihm Mitzi einen Zwanzig-Pfund-Schein. Hazy Hassocks war klein, und Gavin war eines von Flos und Clydes zahlreichen Enkelkindern.
»Oma und Opa sagen, Sie kochen komisches Zeug, seit die Bank Sie rausgeworfen hat, weil Sie zu alt sind, um noch richtig zu rechnen. Und alles nur mit Obst und Gemüse, stimmt’s? Sie sind aber keine Vulkanierin geworden, oder? Wir ham hier jede Menge Vulkanier, die essen weder Fleisch noch Eier noch Käse noch sonst was. Ganz schön dämlich, wenn Sie mich fragen. Ich mein, was nimmt man dann bei Burger King?«
»Gute Frage, Gavin. Vielleicht solltest du die mal in Question Time stellen. Und ich bin nicht von der Bank rausgeworfen worden, weil ich zu alt bin. Ich bin in Frührente gegangen. Ganz, ganz früh in Rente. Und nein, ich bin keine Vulkanierin und auch keine Veganerin, ja nicht einmal Vegetarierin. Was machst du da eigentlich?«
Gavin hielt den Zwanzig-Pfund-Schein gegen das Licht.
»Nur zur Kontrolle.«
»Er ist echt«, schmunzelte Mitzi. »Es ist keiner von denen, die ich früher selbst gedruckt habe – und auch kein kleines Souvenir, das ich stibitzt habe, als ich von der Bank weggegangen bin.«
»Man kann nie vorsichtig genug sein«, meinte Gavin. »Vor allem bei Ihren Familienproblemen.«
»Was für Familienprobleme?«
Gavin lehnte sich über seine Kasse und sah sie verschwörerisch an. »Ich hab gehört, dass Ihre Lu wegen Landfriedensbruch geschnappt worden is’. Mitten auf der Hauptstraße. Vor Hunderten von Leuten. Und dann ham sie sie nich’ mal verhaftet, stimmt’s? Das is’ so was von unfair! Sie ham sie einfach bloß nach Hause geschickt. Find ich irgendwie nich’ korrekt … uns aus der Sozialsiedlung in der Bath Road hätten sie in null Komma nix dem Richter vorgeführt.« Er seufzte schwer angesichts dieser Ungerechtigkeit.
»Es war alles nur ein Missverständnis.«
»Ey, is’ ja klar, dass Sie das so sehn. Hier is’ Ihr Wechselgeld. Bis bald – und vergessen Sie nich’, dass Sie für die Rentnerangebote’nen Extrarabatt kriegen. Ach Scheiße, ja – hab ich ganz vergessen – schönen Tag noch.«
»Dir auch, Gavin.«
Draußen, am unteren Ende der Hauptstraße, heulte der Wind zwischen den Betonbauten hindurch und blies Mitzi leere Chipstüten um die gestiefelten Füße. Auf dem an eine sibirische Einöde erinnernden Supermarkt-Parkplatz stellte sie ihre Tüten in den Mini und stöhnte auf. Inzwischen fühlte sie sich nicht nur wie dreihundertneunzig, sondern jetzt waren die Blessings dank Lulus Zusammenstoß mit dem Gesetz und der unvermeidlichen Gerüchteküche auch noch in den Ruf geraten, eine Familie von Kriminellen zu sein. Dabei hatte sie noch mehrere Einkaufsgänge vor sich, bei denen ihr garantiert x Leute über den Weg liefen, die an ihren Zähnen saugen und mehr oder weniger ehrliche Mitleidsbezeugungen abgeben würden.
Sie schloss den Wagen ab und wappnete sich gegen die bevorstehenden Schrecknisse.
Die Ahornbäume an der Hauptstraße verteilten ihre propellerartigen kleinen Samen in alle Richtungen, und ihre grün-goldenen Blätter wirbelten durch den Rinnstein. Mit gesenktem Kopf trat Mitzi ihren spätherbstlichen Spießrutenlauf zwischen Supermarkt und Herbie’s Healthfoods an. Leider hatte sich das Gerücht von der Gangsterfamilie bereits in Windeseile verbreitet, wie sie begriff, als mehrere Leute sie auf offener Straße anhielten, um sie angesichts von Lulus jüngsten Verfehlungen wortreich zu bemitleiden.
Das war das Problem, wenn man in einem kleinen Ort lebte, auch wenn Mitzi hoffte, dass nach einer Woche alles wieder vergessen wäre. Lulu hatte sich angesichts der Warnung von Polizeiwachtmeister Hodgkin, so etwas bloß nie wieder zu tun, bemerkenswert unerschüttert gezeigt, doch nachdem Biff und Hedley sich aufgrund unbrauchbarer Informationen immer wieder in heikle Situationen manövrierten, war eine öffentliche Verwarnung dringend nötig gewesen. Mitzi rechnete bereits fest damit, dass Lulu eines Tages unter Zwang in ein Polizeiauto gezerrt würde, und dann hätten die Klatschbasen erst recht ihren Freudentag.
Eilig ging sie an Patsy’s Pantry vorüber. Drinnen saßen viel zu viele Pelzhüte, Paisley-Schals und Pringle-Twinsets. Zu viele gekräuselte Münder. Zu viele unverhohlen geäußerte Meinungen. Einem Ansturm von Inquisitoren beim Eisbecher fühlte sie sich nicht gewachsen.
Aufatmend stolperte sie in die tropisch überhitzte, würzige Atmosphäre von Herbie’s Healthfoods, wo ihr weiteres mitfühlendes Getue erspart blieb.
Herbie, dessen Heiligenschein aus schütterem, gekräuseltem Haar ihn wie einen siebzigjährigen Art Garfunkel aussehen ließ, strahlte sie an. »Wunderschöner Morgen heute, Mrs B.«
Mitzi nickte und suchte, erneut mit der Einkaufsliste in der Hand, die dunklen Regale mit ihren intensiv duftenden Beständen nach den fehlenden Zutaten ab. Herbie fand jeden Morgen wunderschön, selbst den allerunfreundlichsten, was vermutlich daher rührte, dass er in seiner Jugend Unmengen von Glückskräutern inhaliert hatte. Zumindest konnte man sich darauf verlassen, dass er keinen Kommentar über Lulu abgab. Der Vorfall war gar nicht in sein permanent benebeltes Gehirn vorgedrungen.
»Ah – gute Wahl«, lobte er, als sie ihre Einkäufe vor ihm auf den Verkaufstresen stellte. »Feine Sachen für den Höllenabend. Ihre alte Oma muss wirklich in engem Kontakt mit der dunklen Seite der Macht gestanden haben.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Mitzi rasch. »Das sind einfach nur traditionelle Landfrauenrezepte für Halloween. Für Partyspiele und dergleichen. Wir veranstalten keine Séance oder sonst etwas Gruseliges.«
»Das sagen sie alle.« Herbie kicherte vor sich hin, während er mehrere getrocknete Zweige und Blätter sowie kleine Pulverdöschen in seine bekannten flaschengrünen Papiertüten packte. »Aber jetzt, wo Sie im Ruhestand sind, brauchen Sie wahrscheinlich etwas, um sich die Zeit zu vertreiben. In unserem Alter gibt es nicht mehr viel, worauf man sich freuen kann, was? Nicht, dass ich empfehlen würde, als Alternative zu Handarbeiten mit schwarzer Magie zu experimentieren – also machen Sie mir bloß keine Vorwürfe, wenn Sie mit diesen Sächelchen etwas heraufbeschwören, das man besser hätte ruhen lassen …«
Mitzi wäre fast fluchtartig aus dem Laden gestürmt. Jetzt fühlte sie sich noch älter als je zuvor – und sie wollte sich wegen der Party-Gerichte auf keinen Fall von Herbie ins Bockshorn jagen lassen. Schon immer hatte sie Halloween gemocht, aber selbstverständlich nur auf ganz unhexenhafte Weise. Sie hatte es herrlich gefunden, als Lu und Doll noch klein waren und sie die beiden mit Mülltüten und schwarzer Schminke zurechtgemacht hatte, worauf sie bei Flo und den Bandings angeklopft und unter Drohungen Süßigkeiten verlangt hatten. Flo und Lob und Lav hatten so getan, als hätten sie Angst, und Limo und Brausepulver herausgerückt, und es war für alle ein unschuldiges Vergnügen gewesen.
Jetzt war dieses unschuldige Vergnügen irgendwie getrübt.
Wie konnte Herbie es wagen, ihr zu unterstellen, dass an ihren Plänen irgendetwas Ungehöriges war? Ein paar traditionelle Festgerichte alten Stils zuzubereiten war doch wohl kaum mit satanistischen Ritualen vergleichbar, oder?
Nachdem sie im Gemüseladen zwei große orangefarbene Kürbisse erstanden hatte, hatte Mitzi mit diesen und der Tragetasche von Herbie’s zu kämpfen und war weiß Gott nicht in Stimmung für den Filzhutmann in voller Aktion. Doch da sie ohnehin bereits in der Hauptstraße war, hatte sie das Gefühl, nach ihren Fitten Fünfzigern sehen zu müssen, auch wenn diese offenbar bestens ohne sie zurechtkamen. Sie hatten lediglich jemanden gebraucht, der den Ball ins Rollen brachte, und schon waren sie in die Startlöcher getreten, dachte sie, hemmungslos Metaphern und Klischees durcheinanderwerfend.
Der schneidende Wind ließ sie frösteln und wehte ihr einzelne Haarsträhnen in Augen und Mund. Mit der Schulter voran bahnte sie sich den Weg durch die wärmebedürftige Menge im Eingangsbereich der Dorfbücherei. Der Filzhutmann saß alleine am Tisch an der Heizung, hatte jedoch über jeden Stuhl ein mausgraues Kleidungsstück drapiert, um Eindringlinge abzuschrecken. Er winkte ihr gleich zu und faltete die Sun unordentlich zusammen. »Hallo, Mitzi. Schön, dass du vorbeischaust. Kommst genau richtig. Mann – dein Gesicht sieht ja übel aus. Was ist los? Weinst du?«
Mitzi schniefte. Wahrscheinlich hatte sie sich bei Gavin irgendetwas eingefangen. »Es ist eiskalt draußen, und der Wind hat meine Augen zum Tränen gebracht, weiter nichts. Wahrscheinlich ist deshalb auch die Wimperntusche verschmiert.«
»Ah.« Der Filzhutmann nickte erneut. »Verstehe. Du siehst aus wie dieser Rockmusiker – wie heißt er doch gleich? Ach ja, Gladys Cooper. Du musst dich ein bisschen frisch machen. Man lässt sich leicht gehen, wenn man nicht mehr in Lohn und Brot steht und nur noch der Sensenmann auf einen wartet. Warum du dich in deinem Alter allerdings noch schminkst, ist mir schleierhaft.«
Mitzi biss die Zähne zusammen, ließ die Kürbisse auf den Tisch poltern und rieb mit einem Finger an der verschmierten Wimperntusche. Plötzlich fiel ihr ein, dass in allen Frauenzeitschriften stand, man solle niemals grob mit der zarten Haut unter den Augen umgehen, und so hörte sie sofort wieder auf damit.
Dank Gavin, Herbie und dem Filzhutmann hatte sie mittlerweile das Gefühl, als sei sie nur noch fürs Seniorenheim »Rauschende Zedern« zu gebrauchen.
»Ich wollte mich eigentlich bloß nach den Fitten Fünfzigern umhören, aber da außer dir niemand hier ist, komme ich vielleicht später noch einmal oder schicke einfach heute Abend eine E-Mail an alle.«
»Nicht nötig, Mitzi. Wir haben mehr oder weniger alles geklärt, aber wenn du dringende Neuigkeiten hast, gebe ich sie weiter. Die anderen kommen auch gleich. Wenn du magst, kannst du den Mirror haben, solange Ken noch nicht da ist. Nein? Na gut, wie du willst. Hör mal, tut mir leid, wenn ich vorhin ein bisschen zu deutlich geworden bin. Wahrscheinlich war ich deshalb nie verheiratet. Manche Frauen hören es halt nicht gern, wenn man die Dinge beim Namen nennt. Sie wollen, dass man ihnen schöntut – selbst wenn sie grottenhässlich sind, verstehst du …« Er strahlte sie an. »Jedenfalls hast du wenigstens eine hübsche neue Frisur, Mitzi. Hast du dir bei Pauline einen Rentnerschnitt machen lassen?«
»Ich bin noch lange nicht im Rentenalter und – ach du lieber Gott!« Mitzi erhaschte einen Blick auf ihr Spiegelbild im Fenster. Sie sah aus wie Don King mit roter Tönung.
»Es ist zwecklos, wenn du versuchst, es glatt zu drücken«, wollte der Filzhutmann sie trösten. »Am Ende wird es platt wie ein Vogelnest und sieht noch blöder aus. Lass es einfach, wie es ist, bis du nach Hause kommst. Dich schaut doch sowieso keiner zweimal an, stimmt’s?«
Obwohl sie gegen den heftigen Impuls ankämpfen musste, ihm die Faust ins Gesicht zu rammen, gestand sich Mitzi ein, dass er womöglich nicht einmal unrecht hatte. Nach Lulu drehten sich die Leute um. Doll war wunderhübsch. Sie selbst hatte ihre beste Zeit hinter sich, und zwar schon sehr, sehr lange. Niemand würde sie beachten, selbst wenn sie die windige Hauptstraße mit einem feuerroten Irokesenschnitt in Zickzackform entlangschritt. Wahrscheinlich würden die Leute es für einen Hut halten. Einen roten Hut. Einen geschmacklosen roten Altweiberhut. Guter Gott – war sie wirklich schon so alt? Wurde sie im Sauseschritt zu einer alten Schachtel, die lila Kleider und rote Hüte trug und sich unmöglich aufführte?
Sie funkelte den Filzhutmann an. »Nein, ich will mich nicht setzen, vielen Dank. Keine Zeit. Ich muss zu meinem Rentner-Lunch im Gemeindesaal. Nein, natürlich nicht im Ernst – das war ein Witz. Ironie – oder vielleicht Sarkasmus. Ach, vergiss es … ich wollte nur wissen, ob ihr meinen letzten Rundbrief für den FFC bekommen habt.«
»June und Sally ja. Wir anderen sind nicht so fit mit EMails. Klar ist es praktisch, dieses Internet-Zeugs hier in der Bücherei zu haben. Nicht dass ich es besonders toll fände. Es ist irgendwie unnatürlich. Aber du bist schon ein kleiner Silversurfer, stimmt’s, Mitzi?«
»Ich glaube, Silversurfer nennt man eher Leute über siebzig oder achtzig, soviel ich weiß.«
»Kann schon sein.« Der Filzhutmann sah fast verschmitzt drein. »Aber wie gesagt, die Dinge beim Namen zu nennen ist quasi mein Markenzeichen, und ich wette, du bist unter deiner roten Tünche grau wie ein Wiesel.«
Mitzi ballte die Hände zu Fäusten, zählte bis zehn und konnte sich gerade noch mit knapper Not davor zurückhalten, sich mit einem Schlachtruf quer über den Tisch auf ihn zu stürzen.
Der Filzhutmann strahlte ungerührt weiter. »Dank deiner flotten Laptop-Künste wissen wir schon alle, dass Mrs Snepps uns den Gemeindesaal benutzen lässt und an welchen Tagen, und dafür sind wir dir dankbar, Mitzi. Wir machen mit ein paar der Indoor-Aktivitäten weiter, wie besprochen. Willst du sehen, was wir bislang auf die Beine gestellt haben?«
Da sie ihm immer noch am liebsten eine saftige Ohrfeige verpasst hätte, nickte Mitzi nur kurz, und selbst ihr Lächeln war nicht mehr als eine zähnefletschende Grimasse. Der Filzhutmann schien es nicht zu bemerken. Die Liste war allerdings beeindruckend: Quiz-Teams, Musik hören, ein Lesekreis, ein Schreibzirkel, eine American Drama Group, Tanzstunden, Unterricht in Bridge und Whist und ein Kochkurs für Fortgeschrittene waren allesamt bereits restlos ausgebucht. In den wärmeren Monaten, so entnahm sie der Liste, würde sich der Fitte-Fünfziger-Club zu zahlreichen sportlichen Aktivitäten und eventuell auch zu Wanderungen zusammenfinden.
Leicht beklommen registrierte Mitzi, dass sich Lav und Lob trotz ihrer Versicherungen, nicht mitmachen zu wollen, für alles eingetragen hatten.
»Das ist ja schön.« Sie schob ihm die Liste wieder hinüber. »Und die ersten Termine sind schon für nächste Woche gebucht, wie ich sehe. Tja, offenbar braucht ihr mich nicht mehr, also -«
»Aber natürlich brauchen wir dich«, versicherte ihr der Filzhutmann. »Du bist unsere Koordinatorin. Ohne dich wäre die ganze Sache überhaupt nicht ins Rollen gekommen – außerdem bist du ehrlich gesagt die Einzige, die mit Lady Tarnia Protz verhandeln kann, oder? Wir freuen uns, dich beim ersten Treffen zu sehen. Aber darf ich dir noch etwas ganz Persönliches sagen, Mitzi? Findest du nicht, dass die Jeans und der Ledermantel ein bisschen zu jugendlich für dich sind? So à la hinten Lyzeum, vorne Museum? In deinem Alter wäre eher eine brave beige Windjacke angebracht und -«
Mit wütendem Schnauben packte Mitzi ihre Kürbisse und verließ fluchtartig die Bücherei, sodass die restlichen Modetipps des Filzhutmanns ungehört verhallten.
»Zum Kuckuck aber auch«, zischte sie, als sie – von den Kürbissen behindert – im Gedränge des Eingangsbereichs mit dem Riemen ihrer Tasche an den wie Stierhörner geformten Griffen eines Babybuggys hängen blieb.
Je mehr sie zog und zerrte, desto mehr kam der Buggy ins Schaukeln, und desto lauter brüllte das Baby.
»He!« Die Mutter der Kleinen kam auf sie zugeschossen und hielt Mitzi ihre gepiercte Nase vors Gesicht. »Was machen Sie denn da? Meine süße kleine Paris ist sehr sensibel. Hören Sie auf zu zerren. Sie werfen sie ja noch um!«
»Pfeif auf Paris!«, knurrte Mitzi und zerrte weiter. »Pfeif auf Gavin und Herbie und vor allem auf den blöden, fiesen Filzhutmann! Ah!«
Die Buggygriffe gaben ihren Taschenriemen schlagartig und mit der ungebremsten Kraft eines Flugzeugstarts frei.
Mitzi, ihre Tasche und die Kürbisse purzelten in wildem Durcheinander aus der Bücherei auf die Hauptstraße.
»Dusslige alte Kuh!«, plärrte ihr Paris’ Mutter hinterher. »Die gehört doch ins Altersheim!«
Seit der Silberhochzeit mit den Enthüllungen über Jennifer hatte sich Mitzi nicht mehr so elend gefühlt. Mühsam raffte sie ihre Sachen zusammen und stapfte in Richtung Supermarkt-Parkplatz davon. Der Wind blies nach wie vor mit eisiger Wut, doch die Tränen, die ihr in den Augen brannten und ihr in lästiger Weise die Nase entlangliefen, waren eher ihrem Selbstmitleid geschuldet als dem kalten Wind.
Sie senkte den Kopf und eilte mit einem Kürbis unter jedem Arm an Patsy’s Pantry vorüber. »Mist, verdammter, Mist, ver… oh, verflixt!« Sie prallte gegen etwas Großes und Festes. Die Kürbisse purzelten munter davon.
»Genauso geht’s mir auch«, sagte jemand belustigt. »Alles in Ordnung?«
»Alles okay, außer dass ich meine blöden Kürbisse verloren habe.« Mitzi hob den Kopf. Ihr Haar, das mittlerweile eher dem Afrolook von Marsha Hunt ähnelte, verdeckte ihr die Sicht. Der Mann, mit dem sie zusammengestoßen war, schien fünf Meter groß zu sein. »Es tut mir ja so leid … Ich habe nicht aufgepasst, wohin ich gehe …«
»Ich auch nicht. Warten Sie – ich hole Ihnen Ihre Kürbisse.«
Unendlich dankbar und nicht minder verlegen sah Mitzi zu, wie sich der große Mann im dunklen Mantel gewandt durch den Verkehr auf der Hauptstraße schlängelte, sich bückte und zu ihr zurückgeeilt kam, die beiden Kürbisse triumphierend in den Händen wie ein Rugbyspieler.
Er reichte ihr die Kürbisse. »Sie sind heil geblieben. Meine Mum hat an Halloween auch immer Kürbisse gehabt. Ausgehöhlt und mit Kerzen drin. Wir fanden es phänomenal.«
War sie alt genug, um seine Mutter zu sein? Möglicherweise. Mit ihrem verschmierten Make-up, das sich in den Falten gesammelt hatte, die Oil of Olaz nicht hatte verhindern können, und dem zerzausten Haar sah sie bestimmt so aus.
Sie lächelte. »Vielen herzlichen Dank. Heute ist irgendwie nicht mein Tag.«
»Irgendwie war es nicht mein Jahr«, sagte er und erwiderte ihr Lächeln. »Nur ein einziger katastrophaler Tag wäre göttlich. Aber Hauptsache, Ihnen fehlt nichts.«
»Alles bestens«, versicherte sie ihm erneut. »Und vielen Dank noch mal. Ich hoffe, der Rest Ihres Jahres wird besser.«
»Das hoffe ich auch«, meinte er grinsend.
Seine Zähne waren erstaunlich weiß und seine Backenknochen sensationell. Und er trug einen einzelnen Diamantohrstecker. Lulu fände ihn sicher total umwerfend.
Er grinste immer noch, als er sich abwandte und die Hauptstraße entlangging. Mitzi sah ihm mit plötzlicher Traurigkeit nach. Zum ersten Mal seit Lance’ Treuebruch hatte sie ein Prickeln gespürt. Ein richtiges Prickeln. Und das hatte ausgerechnet ein Mann ausgelöst, der etliche Jahre jünger war als sie und sie offenbar mit seiner Mutter auf eine Stufe stellte. Ältlich. Und vertrottelt. Und ungeschickt. Und auf dem besten Weg, nicht nur ihre Kürbisse, sondern auch ihren Verstand zu verlieren. Und – oooh!
»Das Leben«, sagte Mitzi laut und vernehmlich, indem sie einen Satz ihrer Töchter stibitzte, »ist ja so was von unfair!«