10. Kapitel
Molchauge – ja;
Fledermausohr – ja; Krötenklaue – ja …« Mitzi hakte die Zutaten auf
ihrer Einkaufsliste ab. »Also, mal im Ernst … getrockneter
Basilikum, Feigen, Bananen, Gerstenwasser – ja; Brombeerflocken,
Chicorée, Estragon – nein; frische Trauben, Lauch, Zitronen – ja;
Lakritz – nein; Majoran, gemischte Nüsse – ja; Pfefferminze – nein;
Ananas, Schalotten – ja; Sternanis, Erdbeeren, Thymian –
nein.«
Zu Mitzis großer Erleichterung enthielten Granny
Westwards Halloween-Rezepte im Gegensatz zu den vorherigen relativ
normale Zutaten. Okay, der Gilead-Balsam war ein bisschen schwierig
gewesen, genau wie der ziemlich beunruhigende Zusatz, dass eine
Prise Betonie gut für die Heilung der Elfenkrankheit sei, sowie die
fast unleserlich gekrakelte Bemerkung, dass eine große Tasse
Hanfsamen die Party erst richtig in Schwung bringen würde.
»Äpfel, ja … Ebenholz, nein. Ebenholz? Ebenholz?
Wahrscheinlich ein Schreibfehler. Gut – Haselnüsse? Ein bisschen
früh … Ah, Pappelflocken für den Sternenflug … vielleicht eher
nicht … Und Kürbisse für die Dekoration und das Fleisch für die
Kürbisküsse … hmmm …«
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie ziemlich laut
vor sich hin sprach und mit ausladenden Gesten ihre Liste abhakte.
Sie hielt abrupt inne und blickte sich verstohlen im Laden um.
So ein Mist. Eine Menschentraube, die sich um die
Körbe mit den Sonderangeboten versammelt hatte, beobachtete sie
aufmerksam. Mitzi warf ihnen ein kleines Lächeln zu, steckte die
Liste ein und schob ihren Einkaufswagen in die entgegengesetzte
Richtung, wobei sie inständig hoffte, dass sie nicht aussah wie
eine Verrückte, die Selbstgespräche führt. Alles, was ihr jetzt
noch fehlte, bekam sie gewiss bei Herbie’s Healthfoods, und beim
Rest musste sie eben improvisieren wie immer.
In bester Laune stellte sie sich in die Schlange an
der einzigen geöffneten Kasse und schob sich langsam mit den
anderen voran. Obwohl es erst auf Ende Oktober zuging, plärrte
»Santa Claus is Coming to Town« aus den Lautsprechern.
Da im Supermarkt allerdings bereits seit Ende
August Lametta hing, wunderte sich Mitzi nicht besonders
darüber.
Bis sie vorn an der Kasse angelangt war, lief
bereits »Wishing It Could Be Christmas Every Day« von Wizzard. Sie
sang mit Roy Wood den Refrain mit und stellte ihre Sachen aufs
Band.
»Fünfzehn Pfund und drei Pence, Mrs Blessing«,
schniefte Gavin, der Junge an der Kasse. »Is’ das alles für Ihre
Party morgen?«
»Genau.« Ungerührt von seinem Insider-Wissen
reichte ihm Mitzi einen Zwanzig-Pfund-Schein. Hazy Hassocks war
klein, und Gavin war eines von Flos und Clydes zahlreichen
Enkelkindern.
»Oma und Opa sagen, Sie kochen komisches Zeug, seit
die Bank Sie rausgeworfen hat, weil Sie zu alt sind, um noch
richtig zu rechnen. Und alles nur mit Obst und Gemüse, stimmt’s?
Sie sind aber keine Vulkanierin geworden, oder? Wir ham hier jede
Menge Vulkanier, die essen weder Fleisch noch Eier noch
Käse noch sonst was. Ganz schön dämlich, wenn Sie mich fragen. Ich
mein, was nimmt man dann bei Burger King?«
»Gute Frage, Gavin. Vielleicht solltest du die mal
in Question Time stellen. Und ich bin nicht
von der Bank rausgeworfen worden, weil ich zu alt bin. Ich bin in
Frührente gegangen. Ganz, ganz früh in Rente. Und nein, ich bin
keine Vulkanierin und auch keine Veganerin, ja nicht einmal
Vegetarierin. Was machst du da eigentlich?«
Gavin hielt den Zwanzig-Pfund-Schein gegen das
Licht.
»Nur zur Kontrolle.«
»Er ist echt«, schmunzelte Mitzi. »Es ist keiner
von denen, die ich früher selbst gedruckt habe – und auch kein
kleines Souvenir, das ich stibitzt habe, als ich von der Bank
weggegangen bin.«
»Man kann nie vorsichtig genug sein«, meinte Gavin.
»Vor allem bei Ihren Familienproblemen.«
»Was für Familienprobleme?«
Gavin lehnte sich über seine Kasse und sah sie
verschwörerisch an. »Ich hab gehört, dass Ihre Lu wegen
Landfriedensbruch geschnappt worden is’. Mitten auf der
Hauptstraße. Vor Hunderten von Leuten. Und dann ham sie sie nich’
mal verhaftet, stimmt’s? Das is’ so was von unfair! Sie ham sie
einfach bloß nach Hause geschickt. Find ich irgendwie nich’ korrekt
… uns aus der Sozialsiedlung in der Bath Road hätten sie in null
Komma nix dem Richter vorgeführt.« Er seufzte schwer angesichts
dieser Ungerechtigkeit.
»Es war alles nur ein Missverständnis.«
»Ey, is’ ja klar, dass Sie das so sehn. Hier is’
Ihr Wechselgeld. Bis bald – und vergessen Sie nich’, dass Sie für
die Rentnerangebote’nen Extrarabatt kriegen. Ach Scheiße, ja – hab
ich ganz vergessen – schönen Tag noch.«
»Dir auch, Gavin.«
Draußen, am unteren Ende der Hauptstraße, heulte
der Wind zwischen den Betonbauten hindurch und blies Mitzi leere
Chipstüten um die gestiefelten Füße. Auf dem an eine sibirische
Einöde erinnernden Supermarkt-Parkplatz stellte sie ihre Tüten in
den Mini und stöhnte auf. Inzwischen fühlte sie sich nicht nur wie
dreihundertneunzig, sondern jetzt waren die Blessings dank Lulus
Zusammenstoß mit dem Gesetz und der unvermeidlichen Gerüchteküche
auch noch in den Ruf geraten, eine Familie von Kriminellen zu sein.
Dabei hatte sie noch mehrere Einkaufsgänge vor sich, bei denen ihr
garantiert x Leute über den Weg liefen, die an ihren Zähnen saugen
und mehr oder weniger ehrliche Mitleidsbezeugungen abgeben
würden.
Sie schloss den Wagen ab und wappnete sich gegen
die bevorstehenden Schrecknisse.
Die Ahornbäume an der Hauptstraße verteilten ihre
propellerartigen kleinen Samen in alle Richtungen, und ihre
grün-goldenen Blätter wirbelten durch den Rinnstein. Mit gesenktem
Kopf trat Mitzi ihren spätherbstlichen Spießrutenlauf zwischen
Supermarkt und Herbie’s Healthfoods an. Leider hatte sich das
Gerücht von der Gangsterfamilie bereits in Windeseile verbreitet,
wie sie begriff, als mehrere Leute sie auf offener Straße
anhielten, um sie angesichts von Lulus jüngsten Verfehlungen
wortreich zu bemitleiden.
Das war das Problem, wenn man in einem kleinen Ort
lebte, auch wenn Mitzi hoffte, dass nach einer Woche alles wieder
vergessen wäre. Lulu hatte sich angesichts der Warnung von
Polizeiwachtmeister Hodgkin, so etwas bloß nie wieder zu tun,
bemerkenswert unerschüttert gezeigt, doch nachdem Biff und Hedley
sich aufgrund unbrauchbarer Informationen
immer wieder in heikle Situationen manövrierten, war eine
öffentliche Verwarnung dringend nötig gewesen. Mitzi rechnete
bereits fest damit, dass Lulu eines Tages unter Zwang in ein
Polizeiauto gezerrt würde, und dann hätten die Klatschbasen erst
recht ihren Freudentag.
Eilig ging sie an Patsy’s Pantry vorüber. Drinnen
saßen viel zu viele Pelzhüte, Paisley-Schals und Pringle-Twinsets.
Zu viele gekräuselte Münder. Zu viele unverhohlen geäußerte
Meinungen. Einem Ansturm von Inquisitoren beim Eisbecher fühlte sie
sich nicht gewachsen.
Aufatmend stolperte sie in die tropisch überhitzte,
würzige Atmosphäre von Herbie’s Healthfoods, wo ihr weiteres
mitfühlendes Getue erspart blieb.
Herbie, dessen Heiligenschein aus schütterem,
gekräuseltem Haar ihn wie einen siebzigjährigen Art Garfunkel
aussehen ließ, strahlte sie an. »Wunderschöner Morgen heute, Mrs
B.«
Mitzi nickte und suchte, erneut mit der
Einkaufsliste in der Hand, die dunklen Regale mit ihren intensiv
duftenden Beständen nach den fehlenden Zutaten ab. Herbie fand
jeden Morgen wunderschön, selbst den allerunfreundlichsten, was
vermutlich daher rührte, dass er in seiner Jugend Unmengen von
Glückskräutern inhaliert hatte. Zumindest konnte man sich darauf
verlassen, dass er keinen Kommentar über Lulu abgab. Der Vorfall
war gar nicht in sein permanent benebeltes Gehirn
vorgedrungen.
»Ah – gute Wahl«, lobte er, als sie ihre Einkäufe
vor ihm auf den Verkaufstresen stellte. »Feine Sachen für den
Höllenabend. Ihre alte Oma muss wirklich in engem Kontakt mit der
dunklen Seite der Macht gestanden haben.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Mitzi rasch.
»Das sind
einfach nur traditionelle Landfrauenrezepte für Halloween. Für
Partyspiele und dergleichen. Wir veranstalten keine Séance oder
sonst etwas Gruseliges.«
»Das sagen sie alle.« Herbie kicherte vor sich hin,
während er mehrere getrocknete Zweige und Blätter sowie kleine
Pulverdöschen in seine bekannten flaschengrünen Papiertüten packte.
»Aber jetzt, wo Sie im Ruhestand sind, brauchen Sie wahrscheinlich
etwas, um sich die Zeit zu vertreiben. In unserem Alter gibt es
nicht mehr viel, worauf man sich freuen kann, was? Nicht, dass ich
empfehlen würde, als Alternative zu Handarbeiten mit schwarzer
Magie zu experimentieren – also machen Sie mir bloß keine Vorwürfe,
wenn Sie mit diesen Sächelchen etwas heraufbeschwören, das man
besser hätte ruhen lassen …«
Mitzi wäre fast fluchtartig aus dem Laden gestürmt.
Jetzt fühlte sie sich noch älter als je zuvor – und sie wollte sich
wegen der Party-Gerichte auf keinen Fall von Herbie ins Bockshorn
jagen lassen. Schon immer hatte sie Halloween gemocht, aber
selbstverständlich nur auf ganz unhexenhafte Weise. Sie hatte es
herrlich gefunden, als Lu und Doll noch klein waren und sie die
beiden mit Mülltüten und schwarzer Schminke zurechtgemacht hatte,
worauf sie bei Flo und den Bandings angeklopft und unter Drohungen
Süßigkeiten verlangt hatten. Flo und Lob und Lav hatten so getan,
als hätten sie Angst, und Limo und Brausepulver herausgerückt, und
es war für alle ein unschuldiges Vergnügen gewesen.
Jetzt war dieses unschuldige Vergnügen irgendwie
getrübt.
Wie konnte Herbie es wagen, ihr zu unterstellen,
dass an ihren Plänen irgendetwas Ungehöriges war? Ein paar
traditionelle Festgerichte alten Stils zuzubereiten war doch wohl
kaum mit satanistischen Ritualen vergleichbar, oder?
Nachdem sie im Gemüseladen zwei große orangefarbene
Kürbisse erstanden hatte, hatte Mitzi mit diesen und der
Tragetasche von Herbie’s zu kämpfen und war weiß Gott nicht in
Stimmung für den Filzhutmann in voller Aktion. Doch da sie ohnehin
bereits in der Hauptstraße war, hatte sie das Gefühl, nach ihren
Fitten Fünfzigern sehen zu müssen, auch wenn diese offenbar bestens
ohne sie zurechtkamen. Sie hatten lediglich jemanden gebraucht, der
den Ball ins Rollen brachte, und schon waren sie in die Startlöcher
getreten, dachte sie, hemmungslos Metaphern und Klischees
durcheinanderwerfend.
Der schneidende Wind ließ sie frösteln und wehte
ihr einzelne Haarsträhnen in Augen und Mund. Mit der Schulter voran
bahnte sie sich den Weg durch die wärmebedürftige Menge im
Eingangsbereich der Dorfbücherei. Der Filzhutmann saß alleine am
Tisch an der Heizung, hatte jedoch über jeden Stuhl ein mausgraues
Kleidungsstück drapiert, um Eindringlinge abzuschrecken. Er winkte
ihr gleich zu und faltete die Sun
unordentlich zusammen. »Hallo, Mitzi. Schön, dass du vorbeischaust.
Kommst genau richtig. Mann – dein Gesicht sieht ja übel aus. Was
ist los? Weinst du?«
Mitzi schniefte. Wahrscheinlich hatte sie sich bei
Gavin irgendetwas eingefangen. »Es ist eiskalt draußen, und der
Wind hat meine Augen zum Tränen gebracht, weiter nichts.
Wahrscheinlich ist deshalb auch die Wimperntusche
verschmiert.«
»Ah.« Der Filzhutmann nickte erneut. »Verstehe. Du
siehst aus wie dieser Rockmusiker – wie heißt er doch gleich? Ach
ja, Gladys Cooper. Du musst dich ein bisschen frisch machen. Man
lässt sich leicht gehen, wenn man nicht mehr in Lohn und Brot steht
und nur noch der Sensenmann auf einen
wartet. Warum du dich in deinem Alter allerdings noch schminkst,
ist mir schleierhaft.«
Mitzi biss die Zähne zusammen, ließ die Kürbisse
auf den Tisch poltern und rieb mit einem Finger an der
verschmierten Wimperntusche. Plötzlich fiel ihr ein, dass in allen
Frauenzeitschriften stand, man solle niemals grob mit der zarten
Haut unter den Augen umgehen, und so hörte sie sofort wieder auf
damit.
Dank Gavin, Herbie und dem Filzhutmann hatte sie
mittlerweile das Gefühl, als sei sie nur noch fürs Seniorenheim
»Rauschende Zedern« zu gebrauchen.
»Ich wollte mich eigentlich bloß nach den Fitten
Fünfzigern umhören, aber da außer dir niemand hier ist, komme ich
vielleicht später noch einmal oder schicke einfach heute Abend eine
E-Mail an alle.«
»Nicht nötig, Mitzi. Wir haben mehr oder weniger
alles geklärt, aber wenn du dringende Neuigkeiten hast, gebe ich
sie weiter. Die anderen kommen auch gleich. Wenn du magst, kannst
du den Mirror haben, solange Ken noch nicht
da ist. Nein? Na gut, wie du willst. Hör mal, tut mir leid, wenn
ich vorhin ein bisschen zu deutlich geworden bin. Wahrscheinlich
war ich deshalb nie verheiratet. Manche Frauen hören es halt nicht
gern, wenn man die Dinge beim Namen nennt. Sie wollen, dass man
ihnen schöntut – selbst wenn sie grottenhässlich sind, verstehst du
…« Er strahlte sie an. »Jedenfalls hast du wenigstens eine hübsche
neue Frisur, Mitzi. Hast du dir bei Pauline einen Rentnerschnitt
machen lassen?«
»Ich bin noch lange nicht im Rentenalter und – ach
du lieber Gott!« Mitzi erhaschte einen Blick auf ihr Spiegelbild im
Fenster. Sie sah aus wie Don King mit roter Tönung.
»Es ist zwecklos, wenn du versuchst, es glatt zu
drücken«,
wollte der Filzhutmann sie trösten. »Am Ende wird es platt wie ein
Vogelnest und sieht noch blöder aus. Lass es einfach, wie es ist,
bis du nach Hause kommst. Dich schaut doch sowieso keiner zweimal
an, stimmt’s?«
Obwohl sie gegen den heftigen Impuls ankämpfen
musste, ihm die Faust ins Gesicht zu rammen, gestand sich Mitzi
ein, dass er womöglich nicht einmal unrecht hatte. Nach Lulu
drehten sich die Leute um. Doll war wunderhübsch. Sie selbst hatte
ihre beste Zeit hinter sich, und zwar schon sehr, sehr lange.
Niemand würde sie beachten, selbst wenn sie die windige Hauptstraße
mit einem feuerroten Irokesenschnitt in Zickzackform
entlangschritt. Wahrscheinlich würden die Leute es für einen Hut
halten. Einen roten Hut. Einen geschmacklosen roten Altweiberhut.
Guter Gott – war sie wirklich schon so alt? Wurde sie im
Sauseschritt zu einer alten Schachtel, die lila Kleider und rote
Hüte trug und sich unmöglich aufführte?
Sie funkelte den Filzhutmann an. »Nein, ich will
mich nicht setzen, vielen Dank. Keine Zeit. Ich muss zu meinem
Rentner-Lunch im Gemeindesaal. Nein, natürlich nicht im Ernst – das
war ein Witz. Ironie – oder vielleicht Sarkasmus. Ach, vergiss es …
ich wollte nur wissen, ob ihr meinen letzten Rundbrief für den FFC
bekommen habt.«
»June und Sally ja. Wir anderen sind nicht so fit
mit EMails. Klar ist es praktisch, dieses Internet-Zeugs hier in
der Bücherei zu haben. Nicht dass ich es besonders toll fände. Es
ist irgendwie unnatürlich. Aber du bist schon ein kleiner
Silversurfer, stimmt’s, Mitzi?«
»Ich glaube, Silversurfer nennt man eher Leute über
siebzig oder achtzig, soviel ich weiß.«
»Kann schon sein.« Der Filzhutmann sah fast
verschmitzt
drein. »Aber wie gesagt, die Dinge beim Namen zu nennen ist quasi
mein Markenzeichen, und ich wette, du bist unter deiner roten
Tünche grau wie ein Wiesel.«
Mitzi ballte die Hände zu Fäusten, zählte bis zehn
und konnte sich gerade noch mit knapper Not davor zurückhalten,
sich mit einem Schlachtruf quer über den Tisch auf ihn zu
stürzen.
Der Filzhutmann strahlte ungerührt weiter. »Dank
deiner flotten Laptop-Künste wissen wir schon alle, dass Mrs Snepps
uns den Gemeindesaal benutzen lässt und an welchen Tagen, und dafür
sind wir dir dankbar, Mitzi. Wir machen mit ein paar der
Indoor-Aktivitäten weiter, wie besprochen. Willst du sehen, was wir
bislang auf die Beine gestellt haben?«
Da sie ihm immer noch am liebsten eine saftige
Ohrfeige verpasst hätte, nickte Mitzi nur kurz, und selbst ihr
Lächeln war nicht mehr als eine zähnefletschende Grimasse. Der
Filzhutmann schien es nicht zu bemerken. Die Liste war allerdings
beeindruckend: Quiz-Teams, Musik hören, ein Lesekreis, ein
Schreibzirkel, eine American Drama Group, Tanzstunden, Unterricht
in Bridge und Whist und ein Kochkurs für Fortgeschrittene waren
allesamt bereits restlos ausgebucht. In den wärmeren Monaten, so
entnahm sie der Liste, würde sich der Fitte-Fünfziger-Club zu
zahlreichen sportlichen Aktivitäten und eventuell auch zu
Wanderungen zusammenfinden.
Leicht beklommen registrierte Mitzi, dass sich Lav
und Lob trotz ihrer Versicherungen, nicht mitmachen zu wollen, für
alles eingetragen hatten.
»Das ist ja schön.« Sie schob ihm die Liste wieder
hinüber. »Und die ersten Termine sind schon für nächste Woche
gebucht, wie ich sehe. Tja, offenbar braucht ihr mich nicht mehr,
also -«
»Aber natürlich brauchen wir dich«, versicherte ihr
der Filzhutmann. »Du bist unsere Koordinatorin. Ohne dich wäre die
ganze Sache überhaupt nicht ins Rollen gekommen – außerdem bist du
ehrlich gesagt die Einzige, die mit Lady Tarnia Protz verhandeln
kann, oder? Wir freuen uns, dich beim ersten Treffen zu sehen. Aber
darf ich dir noch etwas ganz Persönliches sagen, Mitzi? Findest du
nicht, dass die Jeans und der Ledermantel ein bisschen zu
jugendlich für dich sind? So à la hinten Lyzeum, vorne Museum? In
deinem Alter wäre eher eine brave beige Windjacke angebracht und
-«
Mit wütendem Schnauben packte Mitzi ihre Kürbisse
und verließ fluchtartig die Bücherei, sodass die restlichen
Modetipps des Filzhutmanns ungehört verhallten.
»Zum Kuckuck aber auch«, zischte sie, als sie – von
den Kürbissen behindert – im Gedränge des Eingangsbereichs mit dem
Riemen ihrer Tasche an den wie Stierhörner geformten Griffen eines
Babybuggys hängen blieb.
Je mehr sie zog und zerrte, desto mehr kam der
Buggy ins Schaukeln, und desto lauter brüllte das Baby.
»He!« Die Mutter der Kleinen kam auf sie
zugeschossen und hielt Mitzi ihre gepiercte Nase vors Gesicht. »Was
machen Sie denn da? Meine süße kleine Paris ist sehr sensibel.
Hören Sie auf zu zerren. Sie werfen sie ja noch um!«
»Pfeif auf Paris!«, knurrte Mitzi und zerrte
weiter. »Pfeif auf Gavin und Herbie und vor allem auf den blöden,
fiesen Filzhutmann! Ah!«
Die Buggygriffe gaben ihren Taschenriemen
schlagartig und mit der ungebremsten Kraft eines Flugzeugstarts
frei.
Mitzi, ihre Tasche und die Kürbisse purzelten in
wildem Durcheinander aus der Bücherei auf die Hauptstraße.
»Dusslige alte Kuh!«, plärrte ihr Paris’ Mutter
hinterher. »Die gehört doch ins Altersheim!«
Seit der Silberhochzeit mit den Enthüllungen über
Jennifer hatte sich Mitzi nicht mehr so elend gefühlt. Mühsam
raffte sie ihre Sachen zusammen und stapfte in Richtung
Supermarkt-Parkplatz davon. Der Wind blies nach wie vor mit eisiger
Wut, doch die Tränen, die ihr in den Augen brannten und ihr in
lästiger Weise die Nase entlangliefen, waren eher ihrem
Selbstmitleid geschuldet als dem kalten Wind.
Sie senkte den Kopf und eilte mit einem Kürbis
unter jedem Arm an Patsy’s Pantry vorüber. »Mist, verdammter, Mist,
ver… oh, verflixt!« Sie prallte gegen etwas Großes und Festes. Die
Kürbisse purzelten munter davon.
»Genauso geht’s mir auch«, sagte jemand belustigt.
»Alles in Ordnung?«
»Alles okay, außer dass ich meine blöden Kürbisse
verloren habe.« Mitzi hob den Kopf. Ihr Haar, das mittlerweile eher
dem Afrolook von Marsha Hunt ähnelte, verdeckte ihr die Sicht. Der
Mann, mit dem sie zusammengestoßen war, schien fünf Meter groß zu
sein. »Es tut mir ja so leid … Ich habe nicht aufgepasst, wohin ich
gehe …«
»Ich auch nicht. Warten Sie – ich hole Ihnen Ihre
Kürbisse.«
Unendlich dankbar und nicht minder verlegen sah
Mitzi zu, wie sich der große Mann im dunklen Mantel gewandt durch
den Verkehr auf der Hauptstraße schlängelte, sich bückte und zu ihr
zurückgeeilt kam, die beiden Kürbisse triumphierend in den Händen
wie ein Rugbyspieler.
Er reichte ihr die Kürbisse. »Sie sind heil
geblieben. Meine
Mum hat an Halloween auch immer Kürbisse gehabt. Ausgehöhlt und
mit Kerzen drin. Wir fanden es phänomenal.«
War sie alt genug, um seine Mutter zu sein?
Möglicherweise. Mit ihrem verschmierten Make-up, das sich in den
Falten gesammelt hatte, die Oil of Olaz nicht hatte verhindern
können, und dem zerzausten Haar sah sie bestimmt so aus.
Sie lächelte. »Vielen herzlichen Dank. Heute ist
irgendwie nicht mein Tag.«
»Irgendwie war es nicht mein Jahr«, sagte er und
erwiderte ihr Lächeln. »Nur ein einziger katastrophaler Tag wäre
göttlich. Aber Hauptsache, Ihnen fehlt nichts.«
»Alles bestens«, versicherte sie ihm erneut. »Und
vielen Dank noch mal. Ich hoffe, der Rest Ihres Jahres wird
besser.«
»Das hoffe ich auch«, meinte er grinsend.
Seine Zähne waren erstaunlich weiß und seine
Backenknochen sensationell. Und er trug einen einzelnen
Diamantohrstecker. Lulu fände ihn sicher total umwerfend.
Er grinste immer noch, als er sich abwandte und die
Hauptstraße entlangging. Mitzi sah ihm mit plötzlicher Traurigkeit
nach. Zum ersten Mal seit Lance’ Treuebruch hatte sie ein Prickeln
gespürt. Ein richtiges Prickeln. Und das hatte ausgerechnet ein
Mann ausgelöst, der etliche Jahre jünger war als sie und sie
offenbar mit seiner Mutter auf eine Stufe stellte. Ältlich. Und
vertrottelt. Und ungeschickt. Und auf dem besten Weg, nicht nur
ihre Kürbisse, sondern auch ihren Verstand zu verlieren. Und –
oooh!
»Das Leben«, sagte Mitzi laut und vernehmlich,
indem sie einen Satz ihrer Töchter stibitzte, »ist ja so was von unfair!«