24. Kapitel
Es war der dreiundzwanzigste Dezember. Ein dunkler, grauer, bitterkalter Tag. Mitzis Küche bot ein Bild der Verwüstung. Richard und Judy wuselten voller Mehl und Puderzucker mit freudig hochgestellten Schwänzen über den Fußboden und leckten munter alles auf, was ihnen in die Quere kam.
»Wer hatte eigentlich die doofe Idee, an Heiligabend zu heiraten?«, grummelte Mitzi.
Unter dem Tisch mampften Richard und Judy vergnügt und schwiegen. Hawkwind, die aus dem CD-Spieler dröhnten, gaben ihr auch keine Antwort.
In den Tagen nach der Aufführung von Hair war es Mitzi gelungen, sämtliche Weihnachtseinkäufe abzuschließen, sie hatte sich vergewissert, dass für die Hochzeit wirklich alles vorbereitet war, und versuchte Joel zu vergessen.
Die ersten beiden Punkte hatten ihr keine Probleme bereitet, anders jedoch der dritte.
Als in Hair die Polizei auf die Bühne geklettert war, um die Orgienteilnehmer zu »verhaften«, und damit das Zeichen für die offiziell vorgesehene Pause gab, woraufhin alle zu ihren Sitzplätzen zurückgekehrt waren, war Joel fort gewesen.
Himmel! Allein schon bei der Erinnerung wäre Mitzi vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Da stand sie nun knapp vor dem Rentenalter, und er hatte mit angesehen, wie sie mit zerknautschtem Gesicht und zerknittertem Körper, ungekämmt und ohne Make-up halbnackt vor der versammelten Bevölkerung dreier Dörfer herumhopste.
Stolz und Selbsterhaltungstrieb hatten sie davon abgehalten, Doll zu fragen, ob er ihren Auftritt seither erwähnt hätte.
Sie seufzte tief und versuchte, sich auf Grannys Rezeptbuch zu konzentrieren, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Die Mistelzweig-Meringen, Grünen Gewänder und übrigen Speisen waren alle fertig. Sie musste nur noch eine letzte Lage Schäumende Träume backen, die anderen Partyhäppchen auftauen, den ganzen Kram ins Faery Glen schaffen, zu Pauline gehen, um sich als würdige Brautmutter die Haare waschen und föhnen zu lassen, und schön daran denken, die ganze Zeit über ein Lächeln aufzusetzen.
Für einen klitzekleinen Augenblick hatte sie auf der Bühne im Gemeindesaal ihr gebrochenes Herz und den Ärger über ihre eigene Blödheit vergessen können. Doch als sie Joel entdeckt hatte, wie er da dunkel und faszinierend im Schatten stand, war ihre Hochstimmung verpufft wie die Luft aus einem zerstochenen Ballon. Und heute, wenn die Praxis für die Dauer der Feiertage ihre Türen schloss, würde Joel zu seiner Familie nach Manchester fahren.
»Dumme Kuh!«, schimpfte Mitzi mit sich selbst. »Du liebst ihn, du hattest ihn, und du hast ihn gehen lassen – alles nur wegen einer albernen pubertären romantischen Anwandlung.«
Hawkwind, ohne jedes Mitgefühl, legten los mit »Silver Machine«.
Hair war ein Bombenerfolg gewesen. Der zweite Akt war sogar noch besser gelaufen als der erste. Die Truppe hatte sich vor einem Vorhang nach dem anderen verbeugt, und bei der »After-Show-Party« war anschließend noch stundenlang gerockt worden. Der aphrodisische Effekt der Mistelzweig-Meringen, die beim Love-in so überaus passende Wirkung gezeigt hatten, war erst Ewigkeiten später abgeklungen, und alle waren immer noch stark erotisiert gewesen.
Mitzi war zu Tränen gerührt, als die Fitten Fünfziger sie zum Abschluss des Nachmittags auf die Bühne gezerrt und ihr einen riesigen Blumenstrauß überreicht hatten, wobei sie öffentlich erklärten, dass all dies ohne sie niemals hätte stattfinden können und dass sie mit unbeirrbarer Zielstrebigkeit alle anderen aus ihrer Fünfzig-plus-Lethargie gerissen hätte. Mitzi Blessing, so wurde dem Publikum verkündet, hatte das Leben der vielen Grauhaarigen von Hazy Hassocks ein für alle Mal entscheidend verändert.
Auch sie erhielt donnernden Applaus, und sie hoffte, dass nur ihr selbst mit Lu und Doll bewusst war, dass all ihre Tränen nicht nur vom Überschwang der Fitte-Fünfziger-Gefühle herrührten.
Tarnia, die immer noch versucht hatte, jedermann in Sichtweite abzuküssen, hatte Mitzi erklärt, dass sie sich im Leben noch nie so köstlich amüsiert hätte und die Fitten Fünfziger bis in alle Ewigkeit frei über den Gemeindesaal verfügen könnten, und war dann kichernd vom versteinert dreinblickenden Schnösel-Mark abgeführt worden.
Auf diese Weise war wenigstens etwas Gutes dabei herausgekommen.
»So.« Mitzi beäugte mit zusammengekniffenen Augen Granny Westwards Krakelschrift. »Jetzt lassen wir dieses Blech Schäumende Träume einfach abkühlen, und ich zaubere noch eben einen kleinen Auflauf für heute Abend aus dem Ärmel.«
Ihr war, als sei es Lichtjahre her, dass sie sich vor dem Kochen gefürchtet hatte. So viele Jahre hatte sie mit dem Auftauen von Fertiggerichten verschwendet, wo sie doch wirklich ein Händchen dafür hatte, erstaunlich schmackhafte Speisen zuzubereiten. Und ebenso ewig lange schien es ihr zurückzuliegen, dass sie Großmutters Kochbuch gefunden und diesen ersten Wünsch-dir-was-Auflauf gebacken hatte.
Nun, zumindest für Doll und Lu war in Erfüllung gegangen, was sie sich von Herzen gewünscht hatten.
Heute Abend hatten Lu, Doll und sie einen häuslichen Weiberabend geplant – nachdem Doll und Lu als Andeutung eines Junggesellinnenabschieds im Faery Glen einen kleinen Umtrunk mit ihren Freundinnen veranstaltet hatten. Mitzi hatte die Einladung, sich dazuzugesellen, abgelehnt und gesagt, sie bräuchte sehr viel mehr Zeit, um sich für die Hochzeitsfeier rundum zu erneuern und zu verschönern, als ihre Töchter.
Überraschenderweise hatten beide sie gebeten, für dieses Abendessen den Wünsch-dir-was-Auflauf zuzubereiten. Doll übernachtete bei ihrer Mutter, um zumindest als Lippenbekenntnis zur Tradition so tun zu können, als bräche sie von ihrem Elternhaus aus zur Kirche auf, wenn Lance sie am nächsten Morgen abholte.
Für den morgigen Tag war alles bestens vorbereitet, und es sollte eigentlich einer der glücklichsten Tage in Mitzis Leben werden. So wäre es natürlich auch – fast.
 
Die Zahnarztpraxis glitzerte weihnachtlich, Joel und Dr. Johnson trugen beide Weihnachtsmann-Mützen und ängstigten die Patienten damit wahrscheinlich halb zu Tode. Tammy und Viv hatten sich hoffnungsfroh Mistelzweige an die Brust geheftet, und Doll trug blinkende Schneemann-Ohrringe.
Der Wind blies immer noch heulend von Norden her und ließ alles klappern und scheppern. Das Dorf fröstelte unter schweren grauen Wolken, und Doll hielt immer wieder sehnsüchtig Ausschau nach der ersten Schneeflocke.
»Es schneit garantiert nicht«, sagte Tammy, zog ihren Rock noch ein paar Zentimeter höher und bewunderte ihre schlanken Beine in den dunklen Strumpfhosen. »Der Wetterbericht sagt, es wird einfach nur saumäßig kalt. Es gibt wohl gar keine weißen Weihnachten mehr, oder? Meine Eltern sagen, sie erinnern sich noch an welche in ihrer Kindheit. Da sind sie dann immer Schlitten gefahren und haben Schneeballschlachten veranstaltet und hatten wochenlang schulfrei. Das ist so was von unfair.«
»Doll will gar nicht wirklich, dass es schneit«, sagte Viv. »Da friert sie sich doch halb tot in ihrem Kleid. Wir müssen ja so schon alle warme Unterwäsche anziehen.«
Tammy hörte auf, ihre Beine zu bewundern, und sah Doll an. »Bist du jetzt aufgeregt?«
»Nö. Überhaupt nicht. Ich freu mich echt drauf. Wahrscheinlich, weil alles ganz ungezwungen ist. Bretts Eltern waren erst etwas verschnupft, weil es keine großartige Feier gibt, aber inzwischen haben sie sich wieder abgeregt.«
Tammy grinste. »Und ihr wollt wirklich gar keine Hochzeitsgeschenke?«
»Wozu denn? Wir wohnen doch schon seit Ewigkeiten zusammen. Wir haben alles, was wir brauchen. Alles, was wir uns wünschen, ist, dass unsere Verwandten und Freunde kommen und mit uns feiern.«
»Ach wie schön.«
Viv begutachtete ihre Fingernägel. »Um wie viel Uhr treffen wir uns heute Abend im Pub?«
»Gleich nach der Arbeit.« Doll spähte aus dem Fenster des leeren Wartezimmers noch immer gen Himmel. »Und es ist nur ein kurzer Umtrunk, nichts Großartiges. Ich möchte den heutigen Abend zu Hause mit meiner Mutter verbringen. Sie kocht uns etwas Besonderes.«
Tammy zog die stark gezupften Augenbrauen hoch. »Was denn? Etwa so Sachen, wie sie für Hair gemacht hat? Das war cool. Ich hatte eins von diesen Baisers. Das war echt besser als Red Bull. Da schwebst du ja morgen auf dem Weg zum Altar bestimmt in allen Wolken.«
»Heute gibt es nichts in der Richtung, keine Überdosis an Kräutern, nur einen altmodischen Auflauf. Lu und ich dachten, es würde ihr guttun, sich gedanklich auch noch mit etwas anderem zu beschäftigen.«
»Ist sie noch immer so … mitgenommen wegen Joel – du weißt schon?« Viv betonte die letzten Worte besonders nachdrücklich.
»Sehr. Leider. Dabei waren sie echt ein tolles Paar.«
»Fand ich auch.« Viv zupfte an ihren Haaren herum. »Und was ist mit ihm? Wie ist er so drauf? Irgendwas Neues?«
»Nein, ziemlich unverändert. Ich weiß, dass er Sehnsucht nach ihr hat. Die beiden spinnen total. Er fährt heute Abend nach Manchester. Dabei will er eigentlich gar nicht, weil er dann nämlich an Weihnachten womöglich seinem Bruder und seiner Exfrau begegnet, und seine Eltern wollen nicht Partei ergreifen – er ist einfach verdammt unglücklich.«
»Nein, bin ich verdammt noch mal nicht!« Joel, noch immer mit Weihnachtsmann-Mütze auf dem Kopf, riss die Tür des Behandlungszimmers auf. »Ich bin bis zur verdammten Oberkante voller verdammter Festtagsstimmung! Habt ihr drei denn nichts Besseres, worüber ihr euch die Mäuler zerreißen könnt? Und was ist aus meiner verdammten Zwei-Uhr-Füllung geworden?«
Die Tür des Behandlungszimmers knallte wieder zu.
»Seht ihr?«, sagte Doll. »Schlimmer Fall von Liebeskummer. Der Ärmste.«
 
»Wir freuen uns so sehr auf morgen«, sagte Biff Pippin, während sie alles vorbereiteten, um den Wohlfahrtsladen über Weihnachten zu schließen. »Hedley und ich lieben Hochzeiten. Wir werden ja nicht oft zu einer eingeladen. Aber dank deiner Familie wird unser Gesellschaftsleben immer spannender, Lu. Bei Hair haben wir uns auch ganz prächtig amüsiert. Wird es so ähnlich werden, was meinst du?«
»Nun, morgen werden hoffentlich alle ihre Kleider anbehalten«, meinte Lu kichernd, die gerade dutzendweise Nylonblusen »Fürs Fest« zusammenfaltete. »Aber die Party danach wird bestimmt lustig.«
»Sorgt Mitzi denn für das Hochzeitsessen? Neulich hatten wir welche von diesen Brownies, die sie gebacken hat, die waren einfach köstlich. Und nicht nur das, wir waren danach auch – nun ja – reichlich angeschickert. Hedley hat drei davon gegessen und zwei Tage später noch gelacht.«
Lu grinste. »Äh – ja, sie macht ein paar von Granny Westwards Spezialitäten. Boris und Otto sorgen aber auch für normalere Sachen. Heute Abend kocht sie uns ebenfalls etwas Besonderes. Ich – na ja – hoffe, dass es mit ihr dann wieder etwas aufwärtsgeht. Wegen Joel, wisst ihr?«
Biff verstand eindeutig nicht, was das bedeuten sollte. »Du hast ein gutes Herz, Lu. Nette Idee von dir, dass ein gutes Essen deine Mutter auf andere Gedanken bringen könnte. Was ist denn eigentlich zwischen ihr und diesem jungen Zahnarzt vorgefallen?«
»Das wissen wir immer noch nicht.« Lu war mit Zusammenfalten und Wegräumen fertig. »Deshalb wollte ich ja auch, dass sie heute Abend den Wünsch-dir-was-Auflauf macht. Ich glaube, der bringt alles wieder in Ordnung.«
»Meinst du? Also ich weiß nicht … Übrigens, wir werden dich wirklich vermissen, wenn du uns verlässt und zum Tierschutzbund gehst.« Biff polierte ihre Gleitsichtbrille. So wie sie es sagte, klang es, als ob Lu der Fremdenlegion beiträte. »Dann bekommen wir den ganzen Klatsch nicht mehr mit. Aber wir sind stolz auf dich. Sehr stolz.«
Lu war auf einmal ganz gerührt und kletterte über einen Stapel lila-rosa Vorhänge mit geometrischen Mustern, um Biff zu umarmen. »Ich werde euch auch vermissen – ach je, sieh mich an. Ich sollte doch morgen erst Tränen vergießen …«
 
»Ach ist das schön kuschelig warm hier drin. Es ist ja dermaßen kalt draußen! Aber noch immer kein Schnee! Können wir dir noch irgendwie helfen?«, fragte Doll, als Lu und sie sich nach ihrer Stippvisite im Faery Glen in Mitzis Küche drängten. »Deine Haare sehen toll aus. Pauline ist echt ein Genie. Sind wir spät dran?«
»Danke – nein, gar nicht.« Mitzi verpackte gerade auf dem Küchentisch Sachen in Frischhaltefolie und blickte auf. »Es ist eben alles fertig geworden. War es nett?«
»Sehr nett«, meinte Doll lächelnd. »Ganz zivilisiert. Weitaus besser als eine ausgewachsene Junggesellinnenparty in irgendeinem Lokal, wo man dann mit L-Plaketten für Führerscheinneulinge behängt wird und mit einem männlichen Stripper tanzen muss.«
»Jedem das Seine«, murmelte Lu. »Ich für meinen Teil …«
Doll packte eine Handvoll Perlenzöpfe und zog einmal fest daran.
»Sind alle mitgekommen?«, fragte Mitzi, ohne Doll anzusehen. »All deine Freundinnen und auch sonst jeder aus der Praxis – und, na ja, eben jeder?«
»Jeder.« Doll nickte, entfernte die Hawkwind-Scheibe und schob stattdessen »Die größten Weihnachts-Hits« in den CD-Spieler. »Und ja, ich weiß, was du wissen möchtest: Joel ist nach Manchester gefahren. Um vier ist er los. Inzwischen wird er wohl dort sein. Tut mir leid, Mum.«
»Ach, da braucht dir nichts leidzutun.« Mitzi bemühte sich um einen unbekümmerten Tonfall. Es fiel ihr sehr schwer. Sie hatte sich an die Hoffnung geklammert, dass Joel es sich vielleicht doch noch anders überlegte. Sie hatte ihm sogar eine Weihnachtskarte geschrieben und ein kleines Geschenk für ihn gekauft, das eingepackt in ihrer Wäscheschublade versteckt lag. Sie atmete tief durch und versuchte ihre Miene zu gelassener Akzeptanz zu glätten. »Das kommt ja schließlich nicht überraschend. Also, seid ihr beide bereit zum Essen?«
»Wir sind am Verhungern«, sagte Lulu und umarmte Mitzi. »Aber uns brauchst du nichts vorzumachen, Mum. Wir wissen doch, was du für Joel empfindest.«
»Ja, ich weiß, Liebes. Aber das ist alles Vergangenheit. Ich möchte nicht mehr darüber reden. Liebe Güte, Doll, leg das weg – du verdirbst dir nur den Appetit. Ihr seid noch genauso schlimm wie als Kinder. Die sind für morgen!«
Mitzi griff nach dem letzten abkühlenden Blech Schäumender Träume, als Doll im selben Moment einen zum Mund führte. Beide lachten.
Aus den Lautsprechern begann gerade Bing Crosby etwas von »Weiße Weihnachten« zu säuseln.
»I’m Dreaming of a White Christmas …«, trällerte Doll und verteilte munter Krümel der Schäumenden Träume auf ihrem schwarzen Pullover.
Lulu zog die Augenbrauen hoch. »Sei lieber vorsichtig. Sonst bekommst du auch welche. Heißt es in Granny Westwards Buch nicht, diese Dinger lassen Träume wahr werden?«
»So heißt es.« Mitzi drückte den Deckel fester auf die Dose.
»Ach – ihr zwei und eure Hexerei«, meinte Doll grinsend und stopfte sich das letzte Häppchen in den Mund. »Wenn das Wetteramt mit seinen Satelliten und Computern und der ausgefeilten Technologie des einundzwanzigsten Jahrhunderts sagt, es gibt keinen Schnee, dann gibt es verflixt noch mal auch keinen Schnee.«
»Man kann nie wissen«, beharrte Lu. »Magie ist weitaus älter und weitaus stärker als Technik.«
»Oh, bit-te!« Doll verzog das Gesicht. »Soll es denn jetzt den ganzen Abend um diesen Hokuspokus gehen?«
»Aufhören, alle beide!«, lachte Mitzi, machte den Ofen auf und holte den Wünsch-dir-was-Auflauf heraus. »Bitte sehr! Genau richtig – geht hinüber ins Wohnzimmer. Es steht schon alles bereit. Ja, nimm ruhig den CD-Spieler mit. Und versucht bitte, nicht zu streiten.«
»Das ist aber wirklich hübsch«, sagte Doll, als sie sich im abgedunkelten Wohnzimmer umsah, das nur von Feuerschein, Kerzen und den Lichtern des Weihnachtsbaums beleuchtet war. »Ganz so wie in unserer Kindheit.«
Lu nickte. »Derselbe Christbaumschmuck, all die alten Sachen, die wir Jahr für Jahr ausgepackt haben, die Lichter sind auch noch dieselben, und der Engel mit dem strengen Gesicht …«
»Und die Weihnachtsmusik im Hintergrund. Ich glaube, ich mag von allen Liedern ja ›Winter Wonderland‹ am liebsten. Als Kind habe ich dabei immer so viele schöne Bilder vor Augen gehabt. Weißt du noch, wie Dad es uns vorgesungen hat?«
»Ja, und er hat sich einen eigenen Text dazu ausgedacht. Was haben wir immer gelacht.«
»Ich wette, er und Jennifer haben nicht so viel zu lachen.«
Lu zuckte die Achseln. »Seine Entscheidung. Sein Pech.«
Mitzi balancierte das Geschirr, um den Wünsch-dir-was-Auflauf zu servieren, und lächelte die beiden an. In den wenigen Monaten, seit sie sich zum ersten Mal hier im gemütlichen Wohnzimmer versammelt hatten, um Granny Westwards Rezepte zu kosten, war so viel geschehen. Für sie alle. Überwiegend Gutes.
Es war ein netter Gedanke von den beiden, an vergangene Weihnachtsfeste anknüpfen zu wollen. Es waren liebenswerte Mädchen – aber nicht einmal Mitzi selbst glaubte, dass Granny Westward ihrem Glück zu einer zweiten Chance verhelfen würde. Nicht, nachdem sie es in Händen gehalten und so leichtsinnig wieder fortgeworfen hatte.
»Habt ihr alle genug? In der Küche gibt es noch mehr … Also, wer spricht den ersten Wunsch aus?«
»Doll«, sagte Lulu. »Immerhin ist dies ihr letzter Abend in Freiheit. Jede, die so doof ist, sich für immer und ewig an den Langweiler Brett zu binden, verdient eine letzte Chance zu entkommen. Ich schätze, heute Abend im Pub schließen alle Wetten ab, ob sie sich morgen überhaupt blicken lässt.«
»Eifersucht, Eifersucht … nichts als Geschwisterrivalität. Wie überaus bedauerlich«, konterte Doll und streckte ihrer Schwester die Zunge raus. »Nun, letztes Mal hatte ich mir gewünscht, dass Brett etwas mehr Spontaneität zeigen und uns aus unserer eingefahrenen Routine holen sollte, und« – sie lachte und tätschelte ihren Bauch – »das hat er eindeutig hingekriegt. Oh, nicht dass ich glauben würde, der Auflauf hätte auch nur im Geringsten etwas damit zu tun, aber trotzdem …«
»Ach, um Himmels willen.« Lu zappelte ungeduldig auf dem Stuhl herum. »Jetzt wünsch dir schon eine lange glückliche Ehe und ein gesundes Baby und lass uns in die Gänge kommen.«
Doll nahm eine erste Gabel voll. »Okay – natürlich wünsche ich mir das beides. Und Lu hat recht, es gibt sonst nichts, was ich mir wünschen könnte … also dann.« Sie führte die Gabel zum Mund. »Ach, es ist köstlich, Mum. Ähm … ja, dann wünsche ich mir, dass Brett und ich immer glücklich zusammen bleiben, dass das Baby rundum gesund ist und ein – äh – rundum gutes Leben hat.« Sie schluckte. »Aber natürlich glaube ich nicht die Spur an so was. Also los, Lu – du bist die Nächste.«
Lulu kannte kein Zögern.
»Ich wünsche mir«, nuschelte sie mit vollem Mund, »dass Shay und ich mit Pip, Squeak und Wilfred ein eigenes Zuhause bekommen.«
Mitzi sah Lu über den Tisch hinweg teilnahmsvoll an. Da würde Granny Westward aber alle Register ziehen müssen. Nie im Leben würde Shay Lavender und Lobelia im Stich lassen. Und nie im Leben würde Lu bei ihnen einziehen können.
»Netter Versuch, Lu. Wollen wir hoffen, dass dein Wunsch in Erfüllung geht.«
»Wird er«, sagte Lulu zuversichtlich. »Ich meine, schau doch nur, was sich beim ersten Mal mit Shay ereignet hat. Das war echte Magie. So, jetzt weiter, Mum – du bist dran.«
Mitzi saß einen Moment lang still da. Beide beobachteten sie. Sie wusste, welchen Wunsch ihre Töchter von ihr am liebsten hören würden. Sie wusste, was sie selbst sich am liebsten wünschen würde. Glaubte sie genug an Granny Westwards Magie? Sie seufzte. Es bräuchte nicht nur einen kleinen Kräuterzauber, um ihren Herzenswunsch wahr werden zu lassen. Es bräuchte ein verdammtes Wunder.
»Na komm schon …«, drängte Doll. »Zumindest du glaubst doch an all diesen Hokuspokus. Dann muss es doch helfen.«
»Pssst!«, mahnte Lu. »Du verdirbst es noch. Jetzt komm, Mum. Na los doch.«
Mitzi hob ihre Gabel an die Lippen. Was machte es schon? Lu und Doll würden sie nicht auslachen. Sie würden niemandem erzählen, wie albern sie war.
Sie zögerte. Es hatte ja gar keinen Zweck, sich ganz Unmögliches zu wünschen. Unerfüllbare Träume hatte sie schon vor langer, langer Zeit aufgegeben.
»Ich wünsche mir«, sagte sie leise, während Dean Martin sich »Snow, Snow, Snow« wünschte und Richard und Judy sich zusammenrollten, um zwischen den Geschenken unter dem Christbaum zu schlafen, »dass morgen der glücklichste Tag in unserem Leben wird.«