24. Kapitel
Es war der
dreiundzwanzigste Dezember. Ein dunkler, grauer, bitterkalter Tag.
Mitzis Küche bot ein Bild der Verwüstung. Richard und Judy wuselten
voller Mehl und Puderzucker mit freudig hochgestellten Schwänzen
über den Fußboden und leckten munter alles auf, was ihnen in die
Quere kam.
»Wer hatte eigentlich die doofe Idee, an
Heiligabend zu heiraten?«, grummelte Mitzi.
Unter dem Tisch mampften Richard und Judy vergnügt
und schwiegen. Hawkwind, die aus dem CD-Spieler dröhnten, gaben ihr
auch keine Antwort.
In den Tagen nach der Aufführung von Hair war es Mitzi gelungen, sämtliche
Weihnachtseinkäufe abzuschließen, sie hatte sich vergewissert, dass
für die Hochzeit wirklich alles vorbereitet war, und versuchte Joel
zu vergessen.
Die ersten beiden Punkte hatten ihr keine Probleme
bereitet, anders jedoch der dritte.
Als in Hair die Polizei auf
die Bühne geklettert war, um die Orgienteilnehmer zu »verhaften«,
und damit das Zeichen für die offiziell vorgesehene Pause gab,
woraufhin alle zu ihren Sitzplätzen zurückgekehrt waren, war Joel
fort gewesen.
Himmel! Allein schon bei der Erinnerung wäre Mitzi
vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Da stand sie nun knapp
vor dem Rentenalter, und er hatte mit angesehen,
wie sie mit zerknautschtem Gesicht und zerknittertem Körper,
ungekämmt und ohne Make-up halbnackt vor der versammelten
Bevölkerung dreier Dörfer herumhopste.
Stolz und Selbsterhaltungstrieb hatten sie davon
abgehalten, Doll zu fragen, ob er ihren Auftritt seither erwähnt
hätte.
Sie seufzte tief und versuchte, sich auf Grannys
Rezeptbuch zu konzentrieren, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag.
Die Mistelzweig-Meringen, Grünen Gewänder und übrigen Speisen waren
alle fertig. Sie musste nur noch eine letzte Lage Schäumende Träume
backen, die anderen Partyhäppchen auftauen, den ganzen Kram ins
Faery Glen schaffen, zu Pauline gehen, um sich als würdige
Brautmutter die Haare waschen und föhnen zu lassen, und schön daran
denken, die ganze Zeit über ein Lächeln aufzusetzen.
Für einen klitzekleinen Augenblick hatte sie auf
der Bühne im Gemeindesaal ihr gebrochenes Herz und den Ärger über
ihre eigene Blödheit vergessen können. Doch als sie Joel entdeckt
hatte, wie er da dunkel und faszinierend im Schatten stand, war
ihre Hochstimmung verpufft wie die Luft aus einem zerstochenen
Ballon. Und heute, wenn die Praxis für die Dauer der Feiertage ihre
Türen schloss, würde Joel zu seiner Familie nach Manchester
fahren.
»Dumme Kuh!«, schimpfte Mitzi mit sich selbst. »Du
liebst ihn, du hattest ihn, und du hast ihn gehen lassen – alles
nur wegen einer albernen pubertären romantischen Anwandlung.«
Hawkwind, ohne jedes Mitgefühl, legten los mit
»Silver Machine«.
Hair war ein Bombenerfolg
gewesen. Der zweite Akt war sogar noch besser gelaufen als der
erste. Die Truppe hatte sich vor einem Vorhang nach dem anderen
verbeugt, und bei
der »After-Show-Party« war anschließend noch stundenlang gerockt
worden. Der aphrodisische Effekt der Mistelzweig-Meringen, die beim
Love-in so überaus passende Wirkung gezeigt hatten, war erst
Ewigkeiten später abgeklungen, und alle waren immer noch stark
erotisiert gewesen.
Mitzi war zu Tränen gerührt, als die Fitten
Fünfziger sie zum Abschluss des Nachmittags auf die Bühne gezerrt
und ihr einen riesigen Blumenstrauß überreicht hatten, wobei sie
öffentlich erklärten, dass all dies ohne sie niemals hätte
stattfinden können und dass sie mit unbeirrbarer Zielstrebigkeit
alle anderen aus ihrer Fünfzig-plus-Lethargie gerissen hätte. Mitzi
Blessing, so wurde dem Publikum verkündet, hatte das Leben der
vielen Grauhaarigen von Hazy Hassocks ein für alle Mal entscheidend
verändert.
Auch sie erhielt donnernden Applaus, und sie
hoffte, dass nur ihr selbst mit Lu und Doll bewusst war, dass all
ihre Tränen nicht nur vom Überschwang der Fitte-Fünfziger-Gefühle
herrührten.
Tarnia, die immer noch versucht hatte, jedermann in
Sichtweite abzuküssen, hatte Mitzi erklärt, dass sie sich im Leben
noch nie so köstlich amüsiert hätte und die Fitten Fünfziger bis in
alle Ewigkeit frei über den Gemeindesaal verfügen könnten, und war
dann kichernd vom versteinert dreinblickenden Schnösel-Mark
abgeführt worden.
Auf diese Weise war wenigstens etwas Gutes dabei
herausgekommen.
»So.« Mitzi beäugte mit zusammengekniffenen Augen
Granny Westwards Krakelschrift. »Jetzt lassen wir dieses Blech
Schäumende Träume einfach abkühlen, und ich zaubere noch eben einen
kleinen Auflauf für heute Abend aus dem Ärmel.«
Ihr war, als sei es Lichtjahre her, dass sie sich
vor dem Kochen gefürchtet hatte. So viele Jahre hatte sie mit dem
Auftauen von Fertiggerichten verschwendet, wo sie doch wirklich ein
Händchen dafür hatte, erstaunlich schmackhafte Speisen
zuzubereiten. Und ebenso ewig lange schien es ihr zurückzuliegen,
dass sie Großmutters Kochbuch gefunden und diesen ersten
Wünsch-dir-was-Auflauf gebacken hatte.
Nun, zumindest für Doll und Lu war in Erfüllung
gegangen, was sie sich von Herzen gewünscht hatten.
Heute Abend hatten Lu, Doll und sie einen
häuslichen Weiberabend geplant – nachdem Doll und Lu als Andeutung
eines Junggesellinnenabschieds im Faery Glen einen kleinen Umtrunk
mit ihren Freundinnen veranstaltet hatten. Mitzi hatte die
Einladung, sich dazuzugesellen, abgelehnt und gesagt, sie bräuchte
sehr viel mehr Zeit, um sich für die Hochzeitsfeier rundum zu
erneuern und zu verschönern, als ihre Töchter.
Überraschenderweise hatten beide sie gebeten, für
dieses Abendessen den Wünsch-dir-was-Auflauf zuzubereiten. Doll
übernachtete bei ihrer Mutter, um zumindest als Lippenbekenntnis
zur Tradition so tun zu können, als bräche sie von ihrem Elternhaus
aus zur Kirche auf, wenn Lance sie am nächsten Morgen
abholte.
Für den morgigen Tag war alles bestens vorbereitet,
und es sollte eigentlich einer der glücklichsten Tage in Mitzis
Leben werden. So wäre es natürlich auch – fast.
Die Zahnarztpraxis glitzerte weihnachtlich, Joel
und Dr. Johnson trugen beide Weihnachtsmann-Mützen und ängstigten
die Patienten damit wahrscheinlich halb zu Tode. Tammy und Viv
hatten sich hoffnungsfroh Mistelzweige an
die Brust geheftet, und Doll trug blinkende
Schneemann-Ohrringe.
Der Wind blies immer noch heulend von Norden her
und ließ alles klappern und scheppern. Das Dorf fröstelte unter
schweren grauen Wolken, und Doll hielt immer wieder sehnsüchtig
Ausschau nach der ersten Schneeflocke.
»Es schneit garantiert nicht«, sagte Tammy, zog
ihren Rock noch ein paar Zentimeter höher und bewunderte ihre
schlanken Beine in den dunklen Strumpfhosen. »Der Wetterbericht
sagt, es wird einfach nur saumäßig kalt. Es gibt wohl gar keine
weißen Weihnachten mehr, oder? Meine Eltern sagen, sie erinnern
sich noch an welche in ihrer Kindheit. Da sind sie dann immer
Schlitten gefahren und haben Schneeballschlachten veranstaltet und
hatten wochenlang schulfrei. Das ist so was von unfair.«
»Doll will gar nicht wirklich, dass es schneit«,
sagte Viv. »Da friert sie sich doch halb tot in ihrem Kleid. Wir
müssen ja so schon alle warme Unterwäsche anziehen.«
Tammy hörte auf, ihre Beine zu bewundern, und sah
Doll an. »Bist du jetzt aufgeregt?«
»Nö. Überhaupt nicht. Ich freu mich echt drauf.
Wahrscheinlich, weil alles ganz ungezwungen ist. Bretts Eltern
waren erst etwas verschnupft, weil es keine großartige Feier gibt,
aber inzwischen haben sie sich wieder abgeregt.«
Tammy grinste. »Und ihr wollt wirklich gar keine
Hochzeitsgeschenke?«
»Wozu denn? Wir wohnen doch schon seit Ewigkeiten
zusammen. Wir haben alles, was wir brauchen. Alles, was wir uns
wünschen, ist, dass unsere Verwandten und Freunde kommen und mit
uns feiern.«
»Ach wie schön.«
Viv begutachtete ihre Fingernägel. »Um wie viel Uhr
treffen wir uns heute Abend im Pub?«
»Gleich nach der Arbeit.« Doll spähte aus dem
Fenster des leeren Wartezimmers noch immer gen Himmel. »Und es ist
nur ein kurzer Umtrunk, nichts Großartiges. Ich möchte den heutigen
Abend zu Hause mit meiner Mutter verbringen. Sie kocht uns etwas
Besonderes.«
Tammy zog die stark gezupften Augenbrauen hoch.
»Was denn? Etwa so Sachen, wie sie für Hair
gemacht hat? Das war cool. Ich hatte eins von diesen Baisers. Das
war echt besser als Red Bull. Da schwebst du ja morgen auf dem Weg
zum Altar bestimmt in allen Wolken.«
»Heute gibt es nichts in der Richtung, keine
Überdosis an Kräutern, nur einen altmodischen Auflauf. Lu und ich
dachten, es würde ihr guttun, sich gedanklich auch noch mit etwas
anderem zu beschäftigen.«
»Ist sie noch immer so … mitgenommen wegen Joel –
du weißt schon?« Viv betonte die letzten
Worte besonders nachdrücklich.
»Sehr. Leider. Dabei waren sie echt ein tolles
Paar.«
»Fand ich auch.« Viv zupfte an ihren Haaren herum.
»Und was ist mit ihm? Wie ist er so drauf? Irgendwas Neues?«
»Nein, ziemlich unverändert. Ich weiß, dass er
Sehnsucht nach ihr hat. Die beiden spinnen total. Er fährt heute
Abend nach Manchester. Dabei will er eigentlich gar nicht, weil er
dann nämlich an Weihnachten womöglich seinem Bruder und seiner
Exfrau begegnet, und seine Eltern wollen nicht Partei ergreifen –
er ist einfach verdammt unglücklich.«
»Nein, bin ich verdammt noch mal nicht!« Joel, noch
immer mit Weihnachtsmann-Mütze auf dem Kopf, riss die Tür des
Behandlungszimmers auf. »Ich bin bis zur verdammten
Oberkante voller verdammter Festtagsstimmung! Habt ihr drei denn
nichts Besseres, worüber ihr euch die Mäuler zerreißen könnt? Und
was ist aus meiner verdammten Zwei-Uhr-Füllung geworden?«
Die Tür des Behandlungszimmers knallte wieder
zu.
»Seht ihr?«, sagte Doll. »Schlimmer Fall von
Liebeskummer. Der Ärmste.«
»Wir freuen uns so sehr auf morgen«, sagte Biff
Pippin, während sie alles vorbereiteten, um den Wohlfahrtsladen
über Weihnachten zu schließen. »Hedley und ich lieben Hochzeiten.
Wir werden ja nicht oft zu einer eingeladen. Aber dank deiner
Familie wird unser Gesellschaftsleben immer spannender, Lu. Bei
Hair haben wir uns auch ganz prächtig
amüsiert. Wird es so ähnlich werden, was meinst du?«
»Nun, morgen werden hoffentlich alle ihre Kleider
anbehalten«, meinte Lu kichernd, die gerade dutzendweise
Nylonblusen »Fürs Fest« zusammenfaltete. »Aber die Party danach
wird bestimmt lustig.«
»Sorgt Mitzi denn für das Hochzeitsessen? Neulich
hatten wir welche von diesen Brownies, die sie gebacken hat, die
waren einfach köstlich. Und nicht nur das, wir waren danach auch –
nun ja – reichlich angeschickert. Hedley hat drei davon gegessen
und zwei Tage später noch gelacht.«
Lu grinste. »Äh – ja, sie macht ein paar von Granny
Westwards Spezialitäten. Boris und Otto sorgen aber auch für
normalere Sachen. Heute Abend kocht sie uns ebenfalls etwas
Besonderes. Ich – na ja – hoffe, dass es mit ihr dann wieder etwas
aufwärtsgeht. Wegen Joel, wisst ihr?«
Biff verstand eindeutig nicht, was das bedeuten
sollte. »Du hast ein gutes Herz, Lu. Nette Idee von dir, dass ein
gutes Essen
deine Mutter auf andere Gedanken bringen könnte. Was ist denn
eigentlich zwischen ihr und diesem jungen Zahnarzt
vorgefallen?«
»Das wissen wir immer noch nicht.« Lu war mit
Zusammenfalten und Wegräumen fertig. »Deshalb wollte ich ja auch,
dass sie heute Abend den Wünsch-dir-was-Auflauf macht. Ich glaube,
der bringt alles wieder in Ordnung.«
»Meinst du? Also ich weiß nicht … Übrigens, wir
werden dich wirklich vermissen, wenn du uns verlässt und zum
Tierschutzbund gehst.« Biff polierte ihre Gleitsichtbrille. So wie
sie es sagte, klang es, als ob Lu der Fremdenlegion beiträte. »Dann
bekommen wir den ganzen Klatsch nicht mehr mit. Aber wir sind stolz
auf dich. Sehr stolz.«
Lu war auf einmal ganz gerührt und kletterte über
einen Stapel lila-rosa Vorhänge mit geometrischen Mustern, um Biff
zu umarmen. »Ich werde euch auch vermissen – ach je, sieh mich an.
Ich sollte doch morgen erst Tränen vergießen …«
»Ach ist das schön kuschelig warm hier drin. Es
ist ja dermaßen kalt draußen! Aber noch immer kein Schnee! Können
wir dir noch irgendwie helfen?«, fragte Doll, als Lu und sie sich
nach ihrer Stippvisite im Faery Glen in Mitzis Küche drängten.
»Deine Haare sehen toll aus. Pauline ist echt ein Genie. Sind wir
spät dran?«
»Danke – nein, gar nicht.« Mitzi verpackte gerade
auf dem Küchentisch Sachen in Frischhaltefolie und blickte auf. »Es
ist eben alles fertig geworden. War es nett?«
»Sehr nett«, meinte Doll lächelnd. »Ganz
zivilisiert. Weitaus besser als eine ausgewachsene
Junggesellinnenparty in irgendeinem Lokal, wo man dann mit
L-Plaketten für Führerscheinneulinge
behängt wird und mit einem männlichen Stripper tanzen muss.«
»Jedem das Seine«, murmelte Lu. »Ich für meinen
Teil …«
Doll packte eine Handvoll Perlenzöpfe und zog
einmal fest daran.
»Sind alle mitgekommen?«, fragte Mitzi, ohne Doll
anzusehen. »All deine Freundinnen und auch sonst jeder aus der
Praxis – und, na ja, eben jeder?«
»Jeder.« Doll nickte, entfernte die
Hawkwind-Scheibe und schob stattdessen »Die größten
Weihnachts-Hits« in den CD-Spieler. »Und ja, ich weiß, was du
wissen möchtest: Joel ist nach Manchester gefahren. Um vier ist er
los. Inzwischen wird er wohl dort sein. Tut mir leid, Mum.«
»Ach, da braucht dir nichts leidzutun.« Mitzi
bemühte sich um einen unbekümmerten Tonfall. Es fiel ihr sehr
schwer. Sie hatte sich an die Hoffnung geklammert, dass Joel es
sich vielleicht doch noch anders überlegte. Sie hatte ihm sogar
eine Weihnachtskarte geschrieben und ein kleines Geschenk für ihn
gekauft, das eingepackt in ihrer Wäscheschublade versteckt lag. Sie
atmete tief durch und versuchte ihre Miene zu gelassener Akzeptanz
zu glätten. »Das kommt ja schließlich nicht überraschend. Also,
seid ihr beide bereit zum Essen?«
»Wir sind am Verhungern«, sagte Lulu und umarmte
Mitzi. »Aber uns brauchst du nichts vorzumachen, Mum. Wir wissen
doch, was du für Joel empfindest.«
»Ja, ich weiß, Liebes. Aber das ist alles
Vergangenheit. Ich möchte nicht mehr darüber reden. Liebe Güte,
Doll, leg das weg – du verdirbst dir nur den Appetit. Ihr seid noch
genauso schlimm wie als Kinder. Die sind für morgen!«
Mitzi griff nach dem letzten abkühlenden Blech
Schäumender
Träume, als Doll im selben Moment einen zum Mund führte. Beide
lachten.
Aus den Lautsprechern begann gerade Bing Crosby
etwas von »Weiße Weihnachten« zu säuseln.
»I’m Dreaming of a White Christmas …«, trällerte
Doll und verteilte munter Krümel der Schäumenden Träume auf ihrem
schwarzen Pullover.
Lulu zog die Augenbrauen hoch. »Sei lieber
vorsichtig. Sonst bekommst du auch welche. Heißt es in Granny
Westwards Buch nicht, diese Dinger lassen Träume wahr
werden?«
»So heißt es.« Mitzi drückte den Deckel fester auf
die Dose.
»Ach – ihr zwei und eure Hexerei«, meinte Doll
grinsend und stopfte sich das letzte Häppchen in den Mund. »Wenn
das Wetteramt mit seinen Satelliten und Computern und der
ausgefeilten Technologie des einundzwanzigsten Jahrhunderts sagt,
es gibt keinen Schnee, dann gibt es verflixt noch mal auch keinen
Schnee.«
»Man kann nie wissen«, beharrte Lu. »Magie ist
weitaus älter und weitaus stärker als Technik.«
»Oh, bit-te!« Doll verzog das Gesicht. »Soll es
denn jetzt den ganzen Abend um diesen Hokuspokus gehen?«
»Aufhören, alle beide!«, lachte Mitzi, machte den
Ofen auf und holte den Wünsch-dir-was-Auflauf heraus. »Bitte sehr!
Genau richtig – geht hinüber ins Wohnzimmer. Es steht schon alles
bereit. Ja, nimm ruhig den CD-Spieler mit. Und versucht bitte,
nicht zu streiten.«
»Das ist aber wirklich hübsch«, sagte Doll, als sie
sich im abgedunkelten Wohnzimmer umsah, das nur von Feuerschein,
Kerzen und den Lichtern des Weihnachtsbaums beleuchtet war. »Ganz
so wie in unserer Kindheit.«
Lu nickte. »Derselbe Christbaumschmuck, all die
alten
Sachen, die wir Jahr für Jahr ausgepackt haben, die Lichter sind
auch noch dieselben, und der Engel mit dem strengen Gesicht
…«
»Und die Weihnachtsmusik im Hintergrund. Ich
glaube, ich mag von allen Liedern ja ›Winter Wonderland‹ am
liebsten. Als Kind habe ich dabei immer so viele schöne Bilder vor
Augen gehabt. Weißt du noch, wie Dad es uns vorgesungen hat?«
»Ja, und er hat sich einen eigenen Text dazu
ausgedacht. Was haben wir immer gelacht.«
»Ich wette, er und Jennifer haben nicht so viel zu
lachen.«
Lu zuckte die Achseln. »Seine Entscheidung. Sein
Pech.«
Mitzi balancierte das Geschirr, um den
Wünsch-dir-was-Auflauf zu servieren, und lächelte die beiden an. In
den wenigen Monaten, seit sie sich zum ersten Mal hier im
gemütlichen Wohnzimmer versammelt hatten, um Granny Westwards
Rezepte zu kosten, war so viel geschehen. Für sie alle. Überwiegend
Gutes.
Es war ein netter Gedanke von den beiden, an
vergangene Weihnachtsfeste anknüpfen zu wollen. Es waren
liebenswerte Mädchen – aber nicht einmal Mitzi selbst glaubte, dass
Granny Westward ihrem Glück zu einer zweiten Chance verhelfen
würde. Nicht, nachdem sie es in Händen gehalten und so leichtsinnig
wieder fortgeworfen hatte.
»Habt ihr alle genug? In der Küche gibt es noch
mehr … Also, wer spricht den ersten Wunsch aus?«
»Doll«, sagte Lulu. »Immerhin ist dies ihr letzter
Abend in Freiheit. Jede, die so doof ist, sich für immer und ewig
an den Langweiler Brett zu binden, verdient eine letzte Chance zu
entkommen. Ich schätze, heute Abend im Pub schließen alle Wetten
ab, ob sie sich morgen überhaupt blicken lässt.«
»Eifersucht, Eifersucht … nichts als
Geschwisterrivalität. Wie überaus bedauerlich«, konterte Doll und
streckte ihrer Schwester die Zunge raus. »Nun, letztes Mal hatte
ich mir gewünscht, dass Brett etwas mehr Spontaneität zeigen und
uns aus unserer eingefahrenen Routine holen sollte, und« – sie
lachte und tätschelte ihren Bauch – »das hat er eindeutig
hingekriegt. Oh, nicht dass ich glauben würde, der Auflauf hätte
auch nur im Geringsten etwas damit zu tun, aber trotzdem …«
»Ach, um Himmels willen.« Lu zappelte ungeduldig
auf dem Stuhl herum. »Jetzt wünsch dir schon eine lange glückliche
Ehe und ein gesundes Baby und lass uns in die Gänge kommen.«
Doll nahm eine erste Gabel voll. »Okay – natürlich
wünsche ich mir das beides. Und Lu hat recht, es gibt sonst nichts,
was ich mir wünschen könnte … also dann.« Sie führte die Gabel zum
Mund. »Ach, es ist köstlich, Mum. Ähm … ja, dann wünsche ich mir,
dass Brett und ich immer glücklich zusammen bleiben, dass das Baby
rundum gesund ist und ein – äh – rundum gutes Leben hat.« Sie
schluckte. »Aber natürlich glaube ich nicht die Spur an so was.
Also los, Lu – du bist die Nächste.«
Lulu kannte kein Zögern.
»Ich wünsche mir«, nuschelte sie mit vollem Mund,
»dass Shay und ich mit Pip, Squeak und Wilfred ein eigenes Zuhause
bekommen.«
Mitzi sah Lu über den Tisch hinweg teilnahmsvoll
an. Da würde Granny Westward aber alle Register ziehen müssen. Nie
im Leben würde Shay Lavender und Lobelia im Stich lassen. Und nie
im Leben würde Lu bei ihnen einziehen können.
»Netter Versuch, Lu. Wollen wir hoffen, dass dein
Wunsch in Erfüllung geht.«
»Wird er«, sagte Lulu zuversichtlich. »Ich meine,
schau doch nur, was sich beim ersten Mal mit Shay ereignet hat. Das
war echte Magie. So, jetzt weiter, Mum – du bist dran.«
Mitzi saß einen Moment lang still da. Beide
beobachteten sie. Sie wusste, welchen Wunsch ihre Töchter von ihr
am liebsten hören würden. Sie wusste, was sie selbst sich am
liebsten wünschen würde. Glaubte sie genug an Granny Westwards
Magie? Sie seufzte. Es bräuchte nicht nur einen kleinen
Kräuterzauber, um ihren Herzenswunsch wahr werden zu lassen. Es
bräuchte ein verdammtes Wunder.
»Na komm schon …«, drängte Doll. »Zumindest du
glaubst doch an all diesen Hokuspokus. Dann muss es doch
helfen.«
»Pssst!«, mahnte Lu. »Du verdirbst es noch. Jetzt
komm, Mum. Na los doch.«
Mitzi hob ihre Gabel an die Lippen. Was machte es
schon? Lu und Doll würden sie nicht auslachen. Sie würden niemandem
erzählen, wie albern sie war.
Sie zögerte. Es hatte ja gar keinen Zweck, sich
ganz Unmögliches zu wünschen. Unerfüllbare Träume hatte sie schon
vor langer, langer Zeit aufgegeben.
»Ich wünsche mir«, sagte sie leise, während Dean
Martin sich »Snow, Snow, Snow« wünschte und Richard und Judy sich
zusammenrollten, um zwischen den Geschenken unter dem Christbaum zu
schlafen, »dass morgen der glücklichste Tag in unserem Leben
wird.«