15. Kapitel
Es ist sicher noch viel zu früh, dachte Doll und räkelte sich in der samtigen Dunkelheit auf dem Bett.
Die vor dem Schlafzimmerfenster des Bungalows aufleuchtenden Farbblitze zeigten, dass in Hazy Hassocks schon einige Feuerwerke in vollem Gange waren. Bald würden sie aufstehen und sich bei der Gemeindefeier auf dem Dorfanger ins Getümmel stürzen müssen. Aber jetzt noch nicht.
Sie fuhr mit ihrem schlanken bloßen Fuß an Bretts Bein entlang. »Schläfst du?«
»Nein … Bin völlig erledigt … Lass mich in Frieden …«
Sie kicherte. Diese nachmittäglichen Wonnestündchen hatten frischen Wind in ihr Liebesleben gebracht. Aber es ging nicht nur um Sex. Wie sie Lu zu erklären versucht hatte, ging es auch darum zu reden, zu lachen, einander wieder neu zu entdecken. Sich Zeit füreinander zu nehmen, etwas gemeinsam zu erleben, sich um den anderen zu bemühen, sich noch einmal neu zu verlieben. Es ging einfach darum, sich einander zuzuwenden.
Mit diesem Wunscherfüllungs-Mumpitz hatte das überhaupt nichts zu tun.
Sie rollte sich übers Bett und küsste Brett auf die Schulter. »Ich dusche noch schnell, und dann sollten wir uns wirklich auf der Gemeindewiese sehen lassen.«
»Ja, ist gut«, antwortete er und lächelte sie verschlafen an. »Aber wahrscheinlich werden mir über meiner Ofenkartoffel die Augen zufallen. Ich muss um vier für die Arbeit aufstehen – wie üblich.«
Doll ließ den weißen Frotteebademantel über ihren nackten Körper gleiten und blieb mit Blick auf Brett im Türrahmen stehen. Sie liebte ihn wirklich. Sie hatte ihn immer geliebt. Sie hatte nur alles zu sehr für selbstverständlich gehalten. Beide hatten sie das getan.
Seit fünfundzwanzig Jahren lebten sie miteinander in diesem Dorf; erst als Kinder, dann als verliebte Teenager und schließlich als Liebespaar. Fünfundzwanzig Jahre. So lange hatte die Ehe ihrer Eltern gerade mal gehalten – und als Ehepaar hatten Brett und sie noch nicht einmal angefangen. Es lagen noch Jahrzehnte vor ihnen. Eine beruhigende Vorstellung, dass sie den Rest ihres Lebens miteinander verbringen würden. Und das alles hätten sie beinahe aufs Spiel gesetzt.
»Wir bleiben nicht lange. Versprochen. Aber ich liebe dieses Gemeinde-Feuerwerk einfach. Und wir sind doch immer hingegangen, seit wir Kinder waren.«
Brett richtete sich in den zerwühlten Kissen auf und grinste. »Ja. Gruselige Vorstellung. Ein ganzes Leben lang. Und kaum etwas ändert sich. Man kauft noch immer das Feuerwerk bei Molly Coddle, der Pfarrer gerät noch immer völlig aus dem Häuschen und lässt zu viele Raketen auf einmal los. Clyde Spraggs sorgt noch immer für Glühwein, an dem man sich die Zunge verbrennt, die Ofenkartoffeln sind jedes Mal ganz verkohlt, und alle holen sich Frostbeulen an den Füßen und rußgeschwärzte Nasen und schwören, das wär’ jetzt aber wirklich das letzte Mal.«
Sie lachten gemeinsam.
»Du bist doch glücklich, oder nicht?«, fragte Doll. »Du willst doch gar nicht, dass sich etwas ändert.«
»Süße, das Leben ist wunderbar. Ich weiß, wir haben eine Durststrecke durchgemacht, aber die liegt jetzt ja hinter uns, stimmt’s? So sind wir – tja – nun mal gewesen, und ich habe nicht die Absicht, in alte Gewohnheiten zurückzufallen.« Nur zögernd kam Brett aus den Federn. »Soll ich uns was zu trinken machen, während du duschst? Tee? Kaffee? Oder hättest du lieber ein Glas Wein?«
Doll schüttelte den Kopf. »Für mich nicht, danke. Aber gönn du dir ruhig was.«
»Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist so blass, seit -«
»Letzten Freitag.« Lachend ging Doll ins Badezimmer. »Wie ein Großteil der Leute im Dorf. Meine Mutter läuft offenbar Gefahr, sich in eine Gift mischende Lucrezia Borgia zu verwandeln.«
Das Badezimmer, wie auch der Rest des Hauses, hatte eine kleine, aber erstaunliche Veränderung durchgemacht. Nicht nur war die Heizung erneuert worden, sodass es nun immer kuschelig warm war, sondern es waren auch einige wagemutige Farbtupfer hinzugekommen.
Zugegeben, überwiegend war die Einrichtung immer noch sehr beige, doch in jedem Raum gab es nun auch Kerzen und Blumen und ein paar belebende Dekorationsstücke in leuchtenden Farben oder Zitrustönen. Im Badezimmer erfreuten Zitronengelb und flauschige limonengrüne Handtücher das Auge; im Schlafzimmer gab es nun türkisfarbene Kissen und lila Lampenschirme; die Diele war mit knalligem Pink aufgepeppt worden, und im Wohnzimmer leuchteten weinrote Kissen und Teppiche.
Während es im Haus nach wie vor penibel ordentlich und makellos sauber war, spürte Doll, wie sich die wiedererwachte Wärme in ihrer Beziehung nun auch in ihrem Heim widerspiegelte. Das machte sie glücklich.
Nachdem sie die Dusche aufgedreht hatte und darauf wartete, dass das Wasser warm wurde, betrachtete Doll prüfend ihr Spiegelbild. Sie sah blass aus. Unter ihren Augen waren dunkle Ringe. Und Brett hatte recht, sie hatte sich seit der Halloween-Party wirklich nicht ganz wohl gefühlt.
Es war noch zu früh.
Sie trat unter die dampfend heiße Dusche. Es war wirklich noch zu früh, oder nicht? Ach was, pfeif drauf.
Sie trat wieder hervor, vergewisserte sich, dass die Tür verschlossen war, und kramte mit seltsam zitterigen Händen im Badezimmerschränkchen, bis sie von ganz hinten die schmale blau-weiße Schachtel hervorzog.
 
»Ich weiß nicht so recht, ob ich die Guy-Fawkes-Nacht wirklich mag!«, schrie Lulu Shay ins Ohr, als sie zwischen den Dorfbewohnern von Hazy Hassocks im Gewühl auf der Wiese standen und darauf warteten, dass das große Feuer entzündet wurde. »Ich meine, es gefällt mir natürlich, weil es aufregend ist und schön und ein alter Brauch und mich an meine Kindheit erinnert – aber die Tiere tun mir immer so leid. Die armen Dinger. Sie haben bestimmt schreckliche Angst. Und das Feuerwerk scheint jedes Jahr lauter zu werden.«
Wie als Bestätigung ihrer Aussage schossen von der Sozialsiedlung an der Bath Road mehrere Raketen mit Feuerschweifen kreischend über den Himmel.
Shay, in gebleichten, zerrissenen Levi’s-Jeans und in einen lässigen dicken schwarzen Wollpullover gemummelt, nickte. »Wenn ich am fünften November Dienst habe, frag ich mich immer, mit wie vielen Kindern, die sich Wunderkerzen in die Nasen gerammt haben, ich wieder in die Notaufnahme rasen muss. Aber andererseits möchte ich auch nicht zu den Spaßverderbern überlaufen und das Spektakel verbieten.«
»Ich auch nicht«, meinte Lu glücklich und fand, er sei wirklich der wunderbarste Mann, den sie je zu Gesicht bekommen hatte. Granny Westwards Apfelzauber war trotz dieses eher unglücklichen Starts an Halloween ja so was von cool!
Okay, das hier war ja eigentlich kein echtes Rendezvous, aber ein riesiger Fortschritt im Vergleich zu gelegentlichem Smalltalk bei zufälligen Begegnungen an den benachbarten Türschwellen oder beim Schlangestehen an der Bushaltestelle oder dem Tresen des Faery Glen.
Shay hatte eine Stunde zuvor hereingeschaut, weil Lav und Lob von der Versammlung im Gemeindesaal noch nicht zurück waren, und gefragt, ob mit ihnen wohl alles in Ordnung sei? Und, ach, ob Lu zu dem Feuerwerk ginge? Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Richard und Judy schön kuschelig im Wäschekorb lagen, die Katzenklappe verriegelt war und das Radio lief, um den schlimmsten Lärm zu überspielen, hatte Lu sich ihren Afghanenmantel geschnappt und war raus auf den Gartenweg geflitzt.
Nachdem sie ihm versichert hatte, dass auch Mitzi noch immer im Gemeindesaal war und er sich um Lav und Lob keine Sorgen machen müsse, weil sich alle früher oder später am Feuer einfinden würden, hatten sie sich den Scharen warm eingepackter Menschen angeschlossen, die alle in Richtung Dorfanger strömten.
In einer Pause zwischen den Explosionen lächelte sie ihm zu. Es gab noch vieles in Erfahrung zu bringen. »Ich liebe diese Beständigkeit, du nicht auch? Die Geborgenheit, wenn man Freunde und Familie um sich hat; zu wissen, dass jedes Jahr die gleichen Leute zur gleichen Zeit die gleichen Sachen machen, so wie heute Nacht und im Advent und Weihnachten und Ostern und an Sommerabenden und … na ja, das alles eben.«
»Wolltest du deshalb nie von hier fort?«
Sie nickte. »Schätze, ja. Natürlich will ich nicht ewig bei meiner Mutter wohnen. Aber ich werde mir in Hazy Hassocks was zur Miete suchen. Tja, sofern ich mir von meinem Gehalt je was Eigenes leisten kann … Wozu hätte ich aus dieser Gegend wegziehen sollen, wenn hier alles ist, was mir am Herzen liegt? Obwohl ich auch eine Zeit lang in Winterbrook gewohnt habe – aber das ist ja nur wenige Kilometer entfernt und nicht am Ende der Welt.«
»Hm. Lav und Lob haben mir davon erzählt … oh, danke …« Shay unterbrach sich, um Flo zwei Styroporbecher von einem Tablett abzunehmen. »Ist das Glühwein?«
Flo grinste. »Ja, so könnte man es nennen. Aus Rosenkohl und Steckrüben mit einem Schuss Wacholder. Und ein paar Gewürzen. Gekocht.«
»Gehört zur Tradition«, beruhigte ihn Lu, als sie ihren Becher nahm und Flo weiterging, um die Nächsten mit ihrem Wein zu beglücken. »Clyde braut dieses Gesöff immer zur Bonfire-Night. Also, und wie ist es mit dir? Bist du schon weit in der Welt herumgekommen?«
»Ja, ziemlich«, Shay nippte am Wein. »Lieber Gott im Himmel!«
»Der Geschmack ist gewöhnungsbedürftig.« Lu grinste und überlegte, ob es in diesem frühen Stadium ihrer Bekanntschaft wohl zu weit ginge, ihm den Pullover abzuwischen. Nein, beschloss sie und fegte rasch mit ihren dicken Fäustlingen die Tropfen fort, wobei sie gegen das Verlangen ankämpfen musste, mit den Fingern an seinen Rippen entlangzufahren und über seine Bauchmuskeln und … sie schluckte und zog schnell ihre Hand zurück. »Und die Becher haben es so an sich, das Zeug sehr heiß zu halten.«
Shay lachte. Er hatte ein schönes Lachen. Und fantastische Augen. Und den tollsten Körper der Welt. Und Wuschelhaare wie Johnny Depp. Und zarte sinnliche Lippen. Und – oooh.
Lu krallte sich mit den Zehennägeln fest in ihre karierten Doc-Martens-Stiefel.
Sie schluckte erneut. »Also, erzähl weiter, du wolltest mir gerade von deinen Weltreisen berichten.«
»Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder sprechen kann.« Er sah auf seinen Becher hinab. »Vielleicht lass ich das erst mal abkühlen – falls es jemals kühler wird … Und danke für die Abreibung … Ja, also, ich war ein Militärkind. Immer auf Achse. Mein Dad hatte unzählige verschiedene Posten, und ich war auf unzähligen verschiedenen Schulen; wir haben nie Wurzeln geschlagen; ich hatte nie längere Freundschaften. Als ich mit der Schule fertig war, hatte ich schon in sieben verschiedenen Ländern gelebt. Als mein Vater dann in den Ruhestand ging, sind meine Mutter und er in seine Heimatstadt im Ring of Kerry zurück – aber Mum hat es dort nicht gefallen. Sie konnte sich nicht eingewöhnen. Sie haben sich dann scheiden lassen. Er lebt noch dort. Sie wohnt in London. Beide sind glücklich mit neuen Partnern.«
Wow, dachte Lu und nickte. Ganz schön vertrackte Geschichte. Das erklärte einiges.
»Und der Sanitäterjob? Wolltest du das schon immer machen, oder bist du da mehr so reingerutscht?«
»Doch, das wollte ich, als ich schließlich erwachsen wurde. Vorher war ich während des Studiums und noch einige Zeit danach Bassist in einer Heavy-Metal-Band. Wir haben es eine Weile professionell versucht und wirklich wildes Zeug gemacht.«
Wow, dachte Lu. Sie konnte ihn bildlich vor sich sehen, wie er sich im Scheinwerfernebel mit seinem Rickenbacker lasziv hin und her wiegte und mit wehenden Haaren in hautengen zerfetzten Jeans und sonst kaum etwas am Leib den pulsierenden Rhythmus vorgab.
»Ich wünschte, ich hätte dich mal bei einem Auftritt gesehen. Hattest du Groupies?«
»Scharenweise. War’ne tolle Zeit.« Tapfer nahm Shay einen Schluck von seinem Glühwein. »Aber nichts für die Dauer. Wir wurden immer ausgeflippter, doch ich spürte immer mehr eine starke soziale Ader in mir erwachen. Lach nicht, aber ich hatte darüber nachgedacht, zur Polizei zu gehen – allerdings konnte ich mir dann doch nicht vorstellen, mir die hüftlangen Haare über Nacht streichholzkurz stutzen zu lassen. Beim Rettungsdienst waren sie nicht ganz so streng, was lange Haare betrifft – also habe ich sie nach und nach etwas schneiden lassen, und da bin ich. Vor fünf Jahren habe ich die Ausbildung gemacht und zunächst in London gearbeitet, bis ich dieses Jahr hierher versetzt wurde.«
»Und – ähm – glaubst du, dass du hier bleiben wirst … ich meine, wird man dich noch mal woandershin versetzen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich möchte jetzt gern selbst Wurzeln schlagen. Die wilden Zeiten sind vorbei. Und in die Stadt zieht es mich nicht mehr zurück. Von daher, sosehr ich Lav und Lob auch mag, will ich mir im neuen Jahr hier in der Gegend eine feste Bleibe suchen.«
Jaaa! In Gedanken boxte Lu vor Freude in die Luft.
Aber natürlich war da noch eine kleine Fliege in der sonst so herrlichen Suppe.
»Und – äh – Carmel? Seid ihr beide …? Ich meine, wirst du …?«
Shay zuckte die Schultern. »Wir verstehen uns prima und sind ein gutes Team. Sie ist ein tolles Mädchen. Und echt bewundernswert. Weißt du, was sie heute Abend macht?«
»Nein«, sagte Lulu, nicht sonderlich interessiert, sondern heilfroh, dass Carmel nicht auch auf der Gemeindewiese war und die elfenhafte Anstandsdame spielte.
»Sie hilft bei der Bonfire-Night-Party im Kinderhospiz. Sie gehört nämlich zum Team von ›Träume werden wahr‹ für unheilbar kranke Kinder. Damit verbringt sie jede freie Minute.«
Lulu stöhnte innerlich auf. Ach verdammt. Wie sollte sie jetzt das Elfenpüppchen Carmel weiterhin hassen, wenn die sich bei so etwas engagierte. Damit war sie ja schon fast wie eine Heilige.
»Das ist großartig«, sagte sie leise. »Sie muss wirklich was Besonderes sein.«
»Oh ja.« Shay nickte. »Das ist sie.«
 
Doll hatte sich bei Brett eingehakt und schwebte beinahe durch die dunklen, verqualmten Straßen von Hazy Hassocks. Das orangefarbene Glühen am Himmel zeigte, dass das Feuer schon hellauf loderte. Bestimmt ging bald das Feuerwerk los.
»Geht’s dir besser?« Brett sah sie fragend an. »Bist du sicher, dass du heute Nacht noch da hinwillst?«
»Absolut. Mir geht’s jetzt fantastisch, danke. Ähm – kann ich dich mal was fragen?«
»Wenn es nicht gerade um Quantenphysik oder den Sinn des Lebens geht, nur zu.«
»Weißt du noch, wie du gesagt hast, du willst nicht, dass sich etwas ändert? Ja also, aber wie wäre es, wenn ich aufhören würde zu arbeiten?«
»Möchtest du das denn?« Brett sah sie einigermaßen erstaunt an. »Ich dachte immer, du wärst sehr zufrieden in der Praxis.«
»Oh, das bin ich auch – ich habe mir nur überlegt, wie es wäre, wenn ich mal eine Karrierepause einlege, sagen wir mal, für ein Jahr oder so. Kämen wir zurecht? Ich meine, finanziell?«
»Ganz bestimmt. Wir müssten uns hier und dort vielleicht ein bisschen einschränken, aber insgesamt wäre es kein Problem. Wenn du dir das wünschst, unterstütze ich dich dabei voll und ganz, das weißt du ja.«
Sie lächelte. »Gut, das ist prima. Und die andere Frage: Möchtest du heiraten?«
Brett blieb stehen. »Wie bitte? Dich? Oder ganz allgemein?«
»Vorzugsweise mich«, antwortete Doll mit schelmischem Grinsen.
Brett zog sie an sich. »Seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, wollte ich dich heiraten – aber damals waren wir erst sechs, und du hattest mich gerade geschubst, weil ich am Spielplatz dein Hüpfspiel verpatzt hatte, und da dachte ich, ich warte lieber noch ein Weilchen, bevor ich dich frage.«
»Und nun, ein Vierteljahrhundert später?«
»Meine Gefühle für dich haben sich nicht verändert – aber andererseits gab es bislang ja auch nicht wirklich einen Anlass, oder?«
Sie bogen um die Ecke und standen am Rand der Wiese. Der ganze Ort hatte sich versammelt, wie immer.
»Nun könnte es einen Anlass geben«, sagte Doll sanft. »Das heißt, wenn dir an den altmodischen Sitten von Hazy Hassocks etwas liegt und du möchtest, dass dein Kind ehelich geboren wird.«
 
Als Mitzi nach Hause kam, parkte sie den Wagen vor Nummer 33, vergewisserte sich, dass Richard und Judy nicht völlig verängstigt waren, weil über ihnen der Weltuntergang tobte, und brach zur Gemeindewiese auf. Die Tatsache, dass Tarnia und Schnösel-Mark es darauf anlegten, vom Königshaus für Freigiebigkeit gegenüber dem gemeinen Volk belobigt zu werden, hatte sie über die Maßen erheitert; das konnten nur gute Nachrichten sein, was das Fortbestehen des FFC betraf – auch wenn sie nach wie vor fand, dass die öffentliche Aufführung von Hair als Weihnachtsprogramm so lange wie möglich geheim gehalten werden sollte. Die anderen Aktivitäten jedoch, und insbesondere das Weihnachtsessen für die Armen und Einsamen, würden die Snepps sicher als dicken Meilenstein auf ihrem Weg zu Ruhm und Ehre begrüßen.
Der Scheiterhaufen, mit schief stehender und abrutschender Guy-Fawkes-Puppe, war eine knisternde Feuersbrunst in Orange, Rot und Gold. Die Gesichter der Umstehenden glühten im Widerschein der Flammen. Die kalte Luft flimmerte vor Erwartung.
Mitzi tauschte mit dieser und jener Gruppe Begrüßungen aus und arbeitete sich zu den vorderen Reihen der Menschenmenge durch, wobei sie über die Köpfe hinweg auf der einen Seite des Freudenfeuers Lulu mit Shay und einigen ihrer hippiemäßigen Freunde erspähte und Doll mit Brett sowie Tammy und Viv aus der Zahnarztpraxis auf der anderen. Beide Paare, fand sie, sahen überschäumend glücklich aus. Sie hoffte, sie waren es auch. Was mehr könnte eine Mutter sich wünschen?
Allerdings versetzte es ihr einen dummen Stich der Enttäuschung, als sie erkannte, dass Joel nicht bei Dolls Zahnarztclique war. Natürlich hatte er sicher nur aus Höflichkeit gesagt, dass er heute Nacht herkäme. Er war ein netter Mann; beim Abschied nach ihrer Party hätte er ja schlecht sagen können: »Vielen Dank, aber nein danke.« Er wollte es wahrscheinlich ihr überlassen, nun ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Den Bruchteil einer Sekunde lang kam sich Mitzi sehr allein vor. Inmitten dieser riesigen Menge von Menschen, von denen sie die meisten schon ihr Leben lang kannte, fühlte sie sich einsam. Wenngleich sie nie eine radikale Feministin gewesen war, hatte sie doch immer gewusst, dass sie gut alleine zurechtkam. Sie hatte nie zu den Frauen gehört, die um jeden Preis einen Mann in ihrem Leben brauchten. Sie war gut ohne Lance oder einen längerfristigen Ersatzmann ausgekommen. Aber jetzt, nachdem sie ein wenig Zeit mit Joel verbracht hatte und dieses verflixte Prickeln spürte, erschien ihr eine bessere Hälfte doch als etwas sehr Wünschenswertes. Und, so musste sie sich eingestehen, sie hatte sich auf das Wiedersehen mit ihm gefreut.
Im flackernden Licht eilte der Pfarrer herbei, rief seine üblichen Grußworte, machte durch die Zähne eine Art Trompetenfanfare nach und setzte mit einer brennenden Kerze vorsichtig das erste Feuerwerk in Gang.
Das blaue Zündpapier glühte. Die Menge hielt den Atem an.
Nichts geschah. Das blaue Zündpapier erlosch.
Die Menge stöhnte vor Enttäuschung.
Ungeachtet aller Sicherheitsbestimmungen schlich der Pfarrer nach vorn, beäugte den Fehlstarter und riss ein Streichholz an.
Begleitet von einem Wusch und einem Blitz und einem Aufschrei begeisterte die erste Batterie von Molly Coddles Römischen Lichtern die Zuschauer in Hazy Hassocks.
Der Pfarrer, mit einer Augenbraue weniger und einem gelblich versengten Büschel Haare, strahlte triumphierend in die Runde.
»Was hab ich verpasst?« Joel drängte sich durch die Menge und quetschte sich neben sie. »Haben die Jungfrauenopfer schon angefangen?«
Mitzi, deren Finger und Zehen eben noch halb erfroren waren, spürte auf einmal eine herrlich warme Glut in sich. »Nein, aber der Pfarrer wäre fast in Flammen aufgegangen. Das geht jedes Jahr so. Wir wären alle sehr enttäuscht, wenn es einmal nicht so käme.«
Die Flammen funkelten in Joels Diamantohrstecker. Mitzi fand das unheimlich sexy. Es war so – na ja – ungewöhnlich. Und erinnerte sie an die tolle Unisex-Mode ihrer Jugend. Er trug einen langen schwarzen Mantel über Jeans und einem dunklen Sweatshirt. Er sah so atemberaubend aus, dass Mitzi ein Ziehen im Magen spürte.
»Ich bin wirklich froh, dass ich dich doch noch gefunden habe«, sagte Joel. »Ich habe schon seit Ewigkeiten immer wieder diese Wiese umrundet und nach dir Ausschau gehalten. Dann hab ich deine Haare erspäht. Deine Haare sind nicht zu verkennen.«
Alte Henna-Hexe? War es das, was er dachte? Ach, Mist.
»Ich steh auf Rothaarige«, sagte Joel vergnügt. »Hab sogar mal eine geheiratet.«
»Bei mir war es ein Blondgefärbter, der aussah wie David Bowie.«
Joel grinste zu ihr hinab. »Das läuft natürlich außer Konkurrenz.«
Um sie herum zischten und krachten und explodierten die Feuerwerkskörper. Der Pfarrer, nachdem er der Gefahr entronnen war, von seinem eigenen Brandstifterzubehör in die Luft gejagt zu werden, organisierte auf der anderen Seite des Scheiterhaufens eifrig die Pfadfinderjugend und bewaffnete sie mit gegabelten Bohnenstangen.
»Was zum Teufel geht da drüben vor sich?« Joel beugte sich näher zu ihr, sein Atem hauchte warm an ihr Ohr, während eine Reihe Feuerräder sich kreischend und spotzend auf der Stelle drehte. »Ist das irgendein ländlicher Initiationsritus? So was habe ich in Manchester noch nie gesehen.«
»Sie holen die gebackenen Kartoffeln aus dem Feuer«, erklärte Mitzi lachend. »Die werden später herumgereicht, wenn man schon so erfroren ist, dass man sich nicht mehr daran stört, wenn sie einem die Mundschleimhäute wegbrennen – immer vorausgesetzt, dass Clydes Wein das nicht schon vorher erledigt hat.«
»Hast du Lust auf einen richtigen Drink?«, fragte Joel. »Später? Oder jetzt gleich? Ich meine … na ja … The Faery Glen ist ein schöner Pub und – äh – wenn du allerdings nicht möchtest …«
»Aber gerne!« Mitzi bezähmte ein breites Grinsen und widerstand dem Drang, vor Freude in die Luft zu springen. »Wann immer du willst.«
Im Faery Glen war es ruhig. Es war ein uriger Pub, der mit originalen Deckenbalken, bucklig verputzten Wänden, glänzendem Messing und alten polierten Möbeln eingerichtet, stets ein herzliches Willkommen bot.
Boris und Otto, die gelangweilt hinter dem Tresen standen, richteten sich auf, als Mitzi und Joel hereinkamen.
»Tote Hose heute Abend. Sind alle beim Feuerwerk. Später wird’s bestimmt brechend voll. Schön, euch beide zu sehen. Äh – gehört ihr zusammen?«
Joel nickte. Mitzi, zu ihrer Schande, wurde rot.
Otto lächelte. »Ah ja. Wusste gar nicht, dass ihr euch kennt. Das Übliche?«
»Für mich ein Bier bitte«, sagte Joel. »Und du, Mitzi?«
Boris beugte sich vor. »Ein Glas Rotwein? Ein großes?«
»Ja bitte.«
Mitzi ging zu einem Tisch mit hubbeliger Kupferplatte neben dem riesigen Kaminfeuer aus glühenden Holzscheiten, schlüpfte aus ihrem Mantel und sah Joel an der Bar plaudern. Ohne Zweifel fragten ihn Otto und Boris nun nach allen Einzelheiten ihrer Bekanntschaft aus.
Sie war schon so lange mit keinem Mann mehr ausgegangen, dass sie ziemlich nervös war. Auch wenn man dies hier ja nicht wirklich »Ausgehen« nennen konnte. Zwei Leute, die sich flüchtig kannten und zur selben Zeit am selben Ort waren, gingen einfach nur zusammen etwas trinken. Zwei Leute, die ein bisschen einsam waren, fügte Mitzi in Gedanken hinzu. Zwei Leute, die kaum etwas gemeinsam hatten, außer dass sie beide geschieden waren.
»Toller Pub«, sagte Joel, reichte ihr das Weinglas und legte seinen Mantel ab. »Ich wünschte, ich würde in Hazy Hassocks wohnen – in Winterbrook gibt es so was Gemütliches nicht. Dort sind die Pubs alle mehr für die Jugend, jede Menge Lärm und Musik und Spielautomaten und Bildschirme …«
»Und dafür bist du zu alt?«
»Leider ja. Scheußlich, nicht wahr? Ach, nicht dass mir die Musik und der Lärm und der Trubel nicht gefielen. Aber auch wenn ich gern glauben möchte, dass ich noch wie achtzehn aussehe, fällt mir doch immer auf, wie die echten Teenager mich mitleidig anstarren, wenn ich mitzusingen versuche, etwa bei Tokio Hotel oder was sonst so in der Musikbox läuft.«
Mitzi lachte. »Ich steh auf die Rolling Stones und Jimi Hendrix und Mott the Hoople und Dave Edmunds – wahrscheinlich alles lange vor deiner Zeit.«
»Wird da auf den Busch geklopft?« Joel grinste. »Ich bin einundvierzig.«
»Fünfundfünfzig«, sagte Mitzi und war froh, dass sie zumindest nicht ganz so alt war, dass sie seine Mutter hätte sein können. »Da haben wir uns doch gut gehalten.«
»Haben wir.« Joel prostete ihr zu. »Und zwar sensationell. Auf die besten Jahre. Mögen wir nie erwachsen werden.«
Danach ergab sich die weitere Unterhaltung mit ihm ganz wie von selbst. Mehrere Drinks später, während der Pub sich in Windeseile füllte, hatten sie einander noch immer viel zu erzählen, über ihre jeweilige Vergangenheit, Gegenwart und ihre Hoffnungen für die Zukunft. Es war einfach herrlich, dachte Mitzi, die ein klein bisschen zu viel Wein getrunken hatte, wenn man sich mit jemandem so unbefangen fühlte.
»Hallo, Mum!« Plötzlich beugte sich Lulu über den Tisch. »Hallo, Joel. Können wir uns dazusetzen?«
Noch ehe sich einer von ihnen dazu äußern konnte, hatte sie einen Stuhl herangezogen. Sie stopfte den müffelnden Afghanen unter den Tisch und strahlte die beiden an. »Shay holt gerade die Getränke. Habt ihr euch gut amüsiert?«
»Großartig«, antworteten sie wie aus einem Mund und lachten.
Lulu nickte. »Haben wir natürlich alles Großmutters Apfel-Liebeszauber zu verdanken … geiles Zeug. Ach schau – ein Familientreffen!«
Mitzi reckte den Hals und erspähte Dolls adretten Blondschopf, der sich mit Brett im Gefolge auf und ab hüpfend durch die Menge auf sie zubewegte. Es war nett, die beiden zu sehen, dachte sie. Wegen seiner Frühaufsteherei gingen sie abends nur selten aus, und Mitzi hätte nicht erwartet, dass sie nach dem Feuerwerk noch in den Pub kämen. Es ging wohl aufwärts mit den beiden.
»Hi!« Dolls Augen funkelten mehr als jedes Feuerwerk. »Ich bin froh, dass ihr hier alle versammelt seid. Dann muss ich es nur einmal bekanntgeben.«
Brett lächelte ihr zu und küsste sie auf den Scheitel.
»Oh, bitte!« Lu zog eine Grimasse. »Doch nicht in aller Öffentlichkeit!«
Doll streckte ihr die Zunge raus und drehte ihr Strahlen noch heller auf. »Mum, du wirst Großmutter. Lu, du wirst Tante. Joel, du wirst auf eine Assistentin verzichten müssen. Ach, und ihr seid alle zur Hochzeit eingeladen – an Heiligabend …«