19. Kapitel
Und was ist dann
passiert?« Biff Pippin bestückte gerade das Schaufenster des
Wohlfahrtsladens mit glitzernden Abendkleidern in weihnachtlichen
Farbtönen und drapierte diese unbeholfen über kopflose
Magermodel-Schaufensterpuppen. »Hat Tarnia deine Mutter in der Luft
zerfetzt?«
»Nicht die Spur.« Lu posierte vor dem Drehspiegel
und bewunderte sich in einem Cocktailkleid im Stil der
Zwanzigerjahre, während sie von einigen älteren Leuten hin und her
geschubst wurde, die gerade nebenan im Postamt von Winterbrook ihre
Renten abgeholt hatten und nun nach warmen Winterpullovern mit
möglichst wenig Mottenlöchern stöberten. »Mum hatte panische Angst,
dass Tarnia ihr kurz und knapp erklären würde, dass die Fitten
Fünfziger den Saal jetzt nicht mehr nutzen dürften. Hat sie aber
nicht. Tarnia hat über den Trubel nur gelacht, und ihre Bonzentypen
fanden wohl alle, dass sie seit Jahrzehnten nicht mehr so viel Spaß
gehabt hätten. An die Nacktszene aus Hair
konnte sich scheinbar keiner von ihnen mehr erinnern.«
»Gott ist gnädig«, murmelte Biff mit dem Mund
voller Stecknadeln. »Ach, sieh dir den Nebel da draußen an. Wird
von Minute zu Minute dichter. Wie Erbsensuppe. Und, erzähl weiter –
hat die Nutzung des Gemeindesaals also nach wie vor Tarnias
Zustimmung?«
»Ja. Tarnia hat Mum doch nach dem Basar tatsächlich
angerufen und nach dem Rezept für die Grünen Gewänder gefragt, aber
natürlich ohne den Hautfärbe-Effekt, und auch ein paar von den
Bonzen wollen Mums Gebäck für ihre Partys ordern, ach, und Tarnia
hat Mum jede Menge Löcher über Joel in den Bauch gefragt und dann
die beiden zum Abendessen oder so eingeladen. Ich glaube, Mum hat
gesagt, das müsse alles bis nach Weihnachten warten.«
»Und wie lange waren sie denn dann noch – äh – so
liebestoll und grün?«
»Nach ein paar Stunden ist es allmählich
abgeklungen«, meinte Tarnia. Die Typen aus ihrer Clique fanden es
offenbar alle zum Totlachen. Du weißt ja, wie reiche Leute sind –
immer auf der Jagd nach neuen aufregenden Erlebnissen. Ich schätze,
Mum hat sich da eine wahre Goldgrube aufgetan.«
Hedley kam mit Tee und Keksen auf einem Tablett vom
Hinterzimmer des Ladens herbeigewuselt. Er hob es über den Kopf,
während er die Pullover suchenden Rentner umschiffte. »Der Nebel
wird immer dichter. Wie Erbsensuppe, wenn ihr mich fragt. Oh – das
Kleid steht dir aber gut, Lu. Willst du es bei der Hochzeit
anziehen?«
»Würde ich gerne. Nö – mein Brautjungfernkleid ist
ganz konventionell und mädchenhaft – im Grunde aber gar nicht so
übel. Eigentlich habe ich gerade überlegt, was ihr für das hier
wohl verlangen wollt. Shay geht heute Abend mit mir aus, und dafür
würde ich echt gerne was Neues anziehen – na ja, halbwegs
Neues.«
»Einen Fünfer«, sagte Hedley.
»Gebongt. Äh – kannst du es bitte von meinem Lohn
abziehen? Allerdings nicht diese Woche, denn ich brauch all mein
Geld, um heute Abend die halbe Rechnung zu bezahlen und -«
»Wir spendieren dir das Kleid«, sagte Hedley
strahlend. »Du hast es wirklich verdient, nach dieser
Welpenfarmsache, und Biff und ich freuen uns sehr, dass du mit Shay
so glücklich bist.«
»Oh, vielen Dank!« Lu wirbelte in Pirouetten durch
den vollen Laden und küsste Hedley auf die Wange. »Du bist der
netteste Mann auf der Welt – nach Shay natürlich.«
»Natürlich. Soll das vielleicht heißen, dass deine
Mum in näherer Zukunft noch eine zweite Hochzeit ausrichten
muss?«
»Um Himmels willen – das will ich nicht hoffen!
Shay und ich sind noch ganz frisch verliebt in der
Herzchen-und-Blümchen-Phase. Das wollen wir uns doch nicht mit
Formalitäten verderben wie Bausparverträgen und Hochzeiten und – du
lieber Gott – Babys. Allerdings, was Mum betrifft, könnte die Sache
schon anders aussehen.«
»Deine Mutter? Wieder heiraten?« Hedley
verschluckte sich fast an seinem Keks. »Nein so was! Darüber hast
du dich bisher aber erfolgreich ausgeschwiegen.«
Lu lachte. »Sie auch! Sie ist sich darüber noch gar
nicht im Klaren, aber Doll und ich sind sehr optimistisch. Wir
glauben, Joel wäre genau der Richtige für sie, und die beiden sind
ganz verrückt nacheinander.«
»Dann wüsste ich nicht, wo das Problem läge.«
Hedley fischte seinen auf Abwege geratenen Keks mit größter
Kunstfertigkeit aus der Teetasse. »Was hält sie davon ab?«
»Ach, so Sachen wie, dass sie denkt, sie wäre zu
alt für ihn. Seine erste Frau wollte keine Kinder, und Mum meint,
dass er sich wahrscheinlich noch welche wünscht, aber sie kann ja
keine mehr kriegen und -«
»So ein Quatsch«, schnaubte Hedley. »Wer braucht
denn
Kinder, wenn man Haustiere haben kann? Biff und ich sind mit
unserer Menagerie immer mehr als glücklich gewesen, nicht wahr,
Schatz?«
Biff nickte bekräftigend. Stecknadeln flogen in
alle Richtungen, und zwei der kopflosen Mannequins purzelten um.
»Mitzi ist eine gutaussehende Frau. Außerdem klug und humorvoll und
– ähm – na ja, ein verdammt guter Fang für einen Mann. Von Big Ida
und Gwyneth und vielen anderen Leuten habe ich gehört, dass deine
Mum und der junge Zahnarzt beim Basar heftig geknutscht haben. Er
hat sie so richtig rangenommen, wenn du weißt, was ich
meine.«
»Igitt!« Lulu verzog das Gesicht. »Also
bitte!«
»Liebe und Sex sind nicht nur für Leute unter
dreißig, junge Dame«, sagte Hedley und sah Biff mit glänzenden
Augen an. »Wo Leben ist, da ist immer auch Hoffnung.«
»Also ich finde das unheimlich romantisch«, sagte
Tammy, die Ellbogen auf den Fenstertisch in Patsy’s Pantry
gestützt. »Joel ist ja wahnsinnig sexy – für einen Grufti, meine
ich. Ich wünschte, meine Mum würde einen wie ihn in die Finger
kriegen.«
»Deine Mum ist seit über fünfundzwanzig Jahren mit
deinem Dad glücklich verheiratet!«, schnappte Viv.
»Haargenau.« Tammy seufzte. »Lang-wei-lig.«
Doll, die noch immer keinen Tee oder Kaffee sehen
konnte, stimmte in das Gelächter mit ein und versuchte, sich für
ihre lauwarme Trinkschokolade zu begeistern. Insgesamt ging es ihr
bestens. Noch immer plagten sie weder Morgenübelkeit noch seltsame
Gelüste, aber bei Tee und Kaffee schauderte es sie irgendwie. Und
die Hitzewallungen waren ganz schön peinlich. Sie erntete immer
wieder reichlich befremdete
Blicke, insbesondere an kalten, feuchten, nebligen Tagen wie
heute, wenn sie plötzlich aus der Praxis auf die Hauptstraße rasen
und ihren Kittel aufknöpfen musste.
»Nur noch drei Wochen bis zur Hochzeit«, sagte
Tammy neiderfüllt. »Bist du schon aufgeregt?«
»Überhaupt nicht. Na ja, ein bisschen nervös
vielleicht schon – dass ich Bretts zweiten Vornamen vergessen
könnte oder beim Gang zum Altar von den Stöckelschuhen falle oder
so was. Aber nicht wegen dem Jawort.«
»Feiern wir denn deinen Junggesellinnenabschied?«
Viv besah sich ihr vielfach reflektiertes Ebenbild in den
Spiegelkacheln von Patsy’s Pantry und rückte eine vereinzelte, auf
Abwege geratene Haarsträhne zurecht.
»Ach du liebe Güte – vielleicht ein Umtrunk im
Faery Glen oder so. Da die Hochzeit nur im ganz kleinen Rahmen
gefeiert wird, seh ich nicht ein, dass wir da jetzt eine große
Party veranstalten.«
Tammy und Viv, die sich offenbar schon auf
ausgeflippte Kostüme, Reihen von Tequila-Gläsern, Männerstriptease
und Herumgespritze mit Babyöl gefreut hatten, zogen lange
Gesichter.
»Lunch!« Mrs Elkins kam zu ihrem Tisch gewieselt
und schob einen Teewagen voll süßer Leckerbissen vor sich her. Sie
funkelte Doll zornig an. »Es überrascht mich, dass du hier mein
Gebäck isst. Ich dachte, du wärst unterwegs, um für die sogenannte
Hausmacherkost deiner Mutter die Werbetrommel zu rühren.«
»Sie kommt ganz gut alleine zurecht«, antwortete
Doll vergnügt. »Und mehr als das ist es auch nicht, wissen Sie,
traditionelle Landfrauenküche. Es hat nichts mit Magie zu tun oder
mit Hexerei. Und manches, was da so passiert ist, kam
nur daher, dass sie noch Anfängerin ist und vielleicht diese oder
jene Kräuter falsch dosiert hat. Das ist alles.«
»Das sagst du«, knurrte Mrs Elkins. »Es gibt aber
viele andere in Hazy Hassocks, die meinen, deine Mutter wäre über
das Elixier für ewige Jugend und Glückspillen in einem gestolpert.
Man glaubt, sie könne mit ihrer Kocherei bestimmte Dinge bewirken,
indem sie – na ja – etwas dazutut. Die Leute sind ganz versessen
darauf, ihre Häppchen in die Finger zu kriegen. Sie ist auch nicht
besser als diese Drogendealer, die in der Siedlung an der Bath Road
herumhängen. Skrupellose Kriminelle, alle miteinander.«
Doll lachte hell auf. »Also kommen Sie! Die Kinder,
die an der Bath Road Haschisch verkaufen, gehen fast alle noch auf
die Public School in Winterbrook – und Schlimmeres passiert da
nicht. Meine Mum lungert nicht an Straßenecken herum und verlockt
Unschuldige zum Chemikalienrausch – und sie wird auch nie eine
Konkurrenz für Ihr Geschäft darstellen, glauben Sie mir. Ich habe
Mums Teilchen probiert. Die können doch mit Ihrem Gebäck gar nicht
mithalten.«
Mrs Elkins sah etwas besänftigt aus. »Nun, wie dem
auch sei – nett von dir, das zu sagen … also, wer bekommt die
doppelten Sahneschnittchen?«
»Ich bitte«, sagte Doll. »Ich esse so viel wie
möglich, solange ich noch kann.«
»Schleimerin!«, sagten Tammy und Viv einstimmig,
als Mrs Elkins und ihr Wägelchen davonrollten.
»Diplomatin, wenn ich bitten darf!« Doll streckte
den beiden die Zunge heraus.
»Das ist wahrscheinlich das einzig Gute am
Kinderkriegen«, sagte Tammy unmanierlich mit einem Mund voller
Schoko-Eclair. »Man darf Unmengen essen. Schwanger zu
sein ist bestimmt echt krass. Was passiert eigentlich mit deinem
Bauchnabel?«
»Er wölbt sich mehr nach außen«, sagte Viv, bei der
gerade die Marmelade aus dem Doughnut spritzte. »So war es
zumindest bei mir. Warum fragst du?«
Tammy lüpfte das Oberteil ihres Kittels. In ihrem
Nabel glitzerten mehrere Ringe und zwei Diamanten.
»Au Backe! Ich an deiner Stelle würde die Beine
schön verschränken, bis die Wechseljahre vorbei sind«, empfahl Viv
düster. »Weiß Gott, was bei einer Schwangerschaft damit passiert.
Wahrscheinlich explodierst du und tötest die Hebamme mit
Splittergeschossen.«
Die Tür öffnete sich schwungvoll, und Joel, der sie
mit der Schulter aufgedrückt hatte, kam aus den mittäglichen
Nebelschwaden herein. All die Twinsets und Halstücher wandten die
Köpfe und verschlangen ihn mit gierigen, blass bewimperten
Blicken.
Er grinste zu Dolls Tisch hinüber. »Ah,
hervorragend. Der gesamte Mitarbeiterstab unserer Praxis liefert
den Patienten ein glänzendes Vorbild. Wie viel Zucker ist denn in
diesem Zeug da? Bestimmt genug, um den Zahnschmelz aller Einwohner
von Hazy Hassocks zu zerfressen, und noch mehr.«
»Ja, genau.« Doll zog einen weiteren Stuhl herbei.
»Setz dich und sei still. Was möchtest du? Das Übliche?«
»Einen großen Milchkaffee, zwei Krapfen, einen
Doughnut mit Vanillecreme und ein Baiser, bitte. Und ich wette, mit
meinem Vorgänger hast du nie so respektlos gesprochen.«
»Dein Vorgänger«, informierte ihn Doll, nachdem sie
bei der nun lächelnden Mrs Elkins die Bestellung aufgegeben hatte,
»war immer dermaßen high vom Novocain, dass Gespräche selten auf
der Tagesordnung standen.«
»Während Sie hingegen«, sagte Viv und zeigte bei
ihrem strahlenden Lächeln perfekt gepflegte Backenzähne, »Ihre
gesamte Freizeit damit verbringen, sich an Mitzi Blessing zu
berauschen. Ach, ich meine natürlich an ihren kleinen Keksen
…«
Joel lachte. »Ja, natürlich. Und um Doll nicht in
Verlegenheit zu bringen, werde ich mich jetzt nicht weiter über die
Show im Gemeindesaal auslassen.«
»Wie schade!«, kommentierte Doll vergnügt. »Aber
egal. Mum hat mir ja das meiste erzählt. Das mit dem Knutschen war
ein echter Geistesblitz.«
»Wie bitte?« Joel runzelte die Stirn. »Sag jetzt
bloß nicht, deine Mutter glaubt immer noch, dass ich wirklich nur
ein Ablenkungsmanöver veranstalten wollte, um für ihre Fitten
Fünfziger den Gemeindesaal zu retten? Dass alles nur Theater für
Tarnia war? Ist ihr denn nicht klar, dass das Knutschen, wie du es
nennst, echt war?«
»Nein.« Doll tupfte mit dem Zeigefinger die Krümel
ihrer Cremeschnitte auf. »Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass
ihr das klar ist. Selbst wenn ansonsten ganz Hazy Hassocks die
Botschaft in großen Leuchtbuchstaben am Himmel lesen kann, Mum
kann’s nicht.« Sie sah zu Tammy und Viv hinüber, die das Gespräch
so hingerissen verfolgten wie die neueste Staffel ihrer
Lieblingsserie. »Und eigentlich finde ich es schon ein bisschen
schräg, hier das Liebesleben meiner Mutter zu diskutieren. Aber ich
bin keineswegs so egoistisch, dass ich der Meinung wäre, sie hätte
keines verdient.«
»Mit mir?« Joel schuf Platz auf dem Tisch, als Mrs
Elkins mit seiner Bestellung kam.
»Natürlich mit dir. Es mag verrückt klingen, aber
du weißt ja, dass ihr meiner Ansicht nach wie füreinander
geschaffen
seid, auch wenn Mum das nicht erkennen kann.« Doll schob mit einem
Seufzer ihren Teller von sich. »Hör mal, wenn Knutschen und
öffentliche Bekanntmachungen nichts nützen, wirst du eben einen
anderen Weg finden müssen, um sie zu überzeugen.«
Mitzi parkte den Wagen hinter der Bank und
angelte ihre Handtasche vom Rücksitz. Die kurze Fahrt von Hazy
Hassocks nach Winterbrook war in dem immer dichter werdenden Nebel
ganz schön unheimlich gewesen. Sie hoffte wirklich, dass es an
Heiligabend bei der Hochzeit nicht auch so neblig wäre. Sie hatte
sich Dolls großen Tag immer als klar, kalt und sonnig mit blauem
Himmel vorgestellt. Nebel würde allen die Haare kräuseln und
sämtliche Fotos ruinieren.
Die Heirat war einer der Hauptgründe, warum sie
hier in Winterbrook war. In den wenigen Tagen seit dem unverhofften
Erfolg der Grünen Gewänder im Gemeindesaal hatte sie das Menü für
die Hochzeitsfeier fertiggestellt. Von den etwas exotischeren
Speisen im Angebot gab es nun eine gemäßigte Version der Grünen
Gewänder – weniger Safran und sehr viel weniger Chlorophyll -, um
für ein gewisses Prickeln zu sorgen, ohne dass gleich eine Orgie
ausbrach, und auf diese Weise müsste auch jedermann seine
natürliche Hautfarbe behalten. Die Schäumenden Träume waren
stromlinienförmig schlank gelungen, nur die Mistelzweig-Meringen
befanden sich, na ja, okay, noch im Prototyp-Stadium. Die
restlichen Speisen waren anhand von Grannys eher einfachen Rezepten
leicht zubereitet, und Otto und Boris vom Faery Glen hatten auch
noch einen richtigen Hochzeitskuchen als Geschenk für das
glückliche Brautpaar gestiftet.
Nach Tarnias unerwarteter Belobigung ihrer
Kochkünste
war es ihr außerdem gelungen, einige ganz hübsche kleine
Speisekarten und Preislisten für »Großmütters Genüsse« auf ihrem
Laptop zu erstellen. Nachdem sie die Faltblätter überall in Hazy
Hassocks verteilt hatte, plante sie nun, sie in Winterbrook an
öffentlichen Orten auszulegen. Mal sehen, was dann passierte. Doch
vorher hatte sie noch eine ganz persönliche Mission zu
erledigen.
Die Bank, spukschlossartig wie immer, ragte aus dem
gelblichen Nebel wie eine Burg in Transsilvanien. Die Lichter waren
kaum sichtbar. Mitzi schauderte und eilte hinein.
Sie sah sich im Foyer um, stuckverzierte Wände,
geschnitztes Holz und Kronleuchter. Was für Neuerungen Troy und
Tyler im Verwaltungssystem der Bank auch immer eingeführt haben
mochten, äußerlich hatte sich nichts verändert. Als sie sich in die
Warteschlange für einen freien Platz am Schalter einreihte, war
Mitzi ziemlich unbehaglich zumute. Es hatte ihr sehr widerstrebt,
die Bank zu verlassen, aber jetzt … ihr Leben hatte sich in so
vieler Hinsicht verändert. Sie fühlte sich befreit, erfüllt und
glücklicher als je zuvor. Troy Haley hatte ihr, ohne es zu ahnen,
einen riesigen Gefallen getan.
Sie hoffte, dass sie ihm diesen Gefallen vergelten
könnte.
Als sie endlich zum Schalter kam, saß eine
wildfremde Mitarbeiterin hinter dem Sicherheitsglas, die zudem kaum
älter als zwölfeinhalb Jahre alt aussah. Ihrem Namensschild zufolge
nannte sie sich Kelly-Jo.
»Ich möchte meine Konten auflösen«, sagte Mitzi
vergnügt. »Beide. Girokonto und Sparbuch. Ich wechsle zur
Bausparkasse in Hazy Hassocks, weil die jetzt auch
Bankdienstleistungen anbieten.«
»Null problemo«, antwortete Kelly-Jo fröhlich.
»Aber Sie
hätten dafür nicht extra herkommen müssen. Die Bausparkasse könnte
das online abwickeln. Läuft sowieso alles übers Internet
heutzutage.«
»Das ist mir schon klar. Ich bin ja nicht senil«,
antwortete Mitzi gereizt. »Mir ging es nur um die Befriedigung,
meine Konten persönlich zu kündigen, um meine letzten Bande zu
diesem Ort zu kappen.«
»Was wollten Sie bitte?«
»Ich habe hier gearbeitet«, sagte Mitzi. »Mein
ganzes Berufsleben lang habe ich hier gearbeitet. Ganz plötzlich
hat man beschlossen, dass ich nicht länger gebraucht würde. Nun bin
ich in der glücklichen Lage, dass auch ich diese Bank nicht länger
brauche. Könnten Sie also bitte veranlassen, dass diese Guthaben
auf meine neuen Konten überwiesen werden?«
»Ja, logo.« Kelly-Jo tippte verschiedene Zahlen in
ihren Computer. »Ich bin erst seit zwei Wochen da. Ist ganz okay.
Wie lange waren Sie hier?«
»Fünfunddreißig Jahre.«
»Heilige Scheiße!« Kelly-Jo vergaß ihr ganzes
Kundenservice-Training. »Das ist ja echt’ne Ewigkeit!«
»So kommt es mir jetzt auch vor, ja …«
Mitzi lächelte versonnen. Im Grunde kam es ihr vor,
als sei ein völlig anderer Mensch jeden Morgen hier hereingeeilt,
in gepflegter Erscheinung, hätte acht Stunden am Tag gewissenhaft
gearbeitet und sei dann nach Hause gefahren – in den ersten Jahren
zu Lance und den Mädchen, als sie noch Kinder waren, später in ein
leeres Haus. Aber diese erwachsene, geordnete Mitzi mit ihrer
Routine und ihren Verpflichtungen und ihren Sorgen war inzwischen
von der heutigen Mitzi Welten entfernt: in Jeans und Stiefeln und
dickem Pullover,
mit leuchtend rotem Haar, einer Art Kräuterküche in den
Kinderschuhen, Organisationstalent der Dorfgemeinschaft und
wahnsinnig verliebt in einen viel zu jungen, aber hinreißend
attraktiven Zahnarzt.
»Ich wette, Sie hatten damals nicht mal Computer«,
sagte Kelly-Jo atemlos, während ihre Finger über die Tastatur
tanzten. »Oder wie?«
»Nein, wir hatten Kontenbücher und Tabellen und
haben mit Füllern geschrieben und Schreibmaschinen benutzt und mit
Matrizen kopiert, haben Summen im Kopf addiert und manchmal mit
Comptometern -«
»Kommt wer?« Kelly-Jo sah verwirrt drein. »Mann –
das muss ja wie im Mittelalter gewesen sein.«
»Oh ja, das kann man sagen«, pflichtete Mitzi
munter bei. »Alles erledigt? Sehr schön. Vielen Dank – dann
unterschreibe ich mal. Okay. Und jetzt würde ich gerne mit Mr Haley
sprechen, wenn es möglich ist.«
»Troy? Ja klar. Setzen Sie sich, dann klingle ich
ihn an.«
Mitzi setzte sich und wartete.