6. Kapitel
Ich weiß, es ist ein Klischee, aber ich hasse Montage wirklich aus tiefster Seele«, schimpfte Lulu, während sie in dem vollgestopften Schrank herumwühlte, um ihren zweiten Stiefel zu finden. »Aber wenn die Montage zum Wochenende gehören würden, würde ich wohl stattdessen Dienstage hassen …« Sie seufzte schwer. »Eigentlich bräuchte ich ein Leben ganz ohne Arbeit.«
»Also ganz ähnlich wie das, das du jetzt führst«, lachte Mitzi.
»Du bist unfair.« Lulu unterbrach ihre Stiefelsuche und warf ihrer Mutter einen schiefen Blick zu. »Du klingst genau wie der fiese Niall. Ich habe vielleicht keinen konventionellen Beruf, aber ich schufte richtig hart im Laden und bei der Spendenbeschaffung und in der Öffentlichkeitsarbeit und – ach, übrigens, ehe ich es vergesse: Doll hat mich gebeten, dich zu fragen, ob du dich mit Dad treffen willst, während sich Jennifer aufhübschen lässt. Denn falls ja, sei dir hiermit offiziell gesagt, dass wir nicht begeistert davon sind. So gern wir ihn auch haben, man kann ihm nicht trauen. Wenn du dich wieder mit ihm zusammentust -«
»Natürlich nicht«, erklärte Mitzi. »Ich habe nicht mal vor, ihn zu treffen. Du weißt doch, wie dein Dad ist. Weil Jennifer nicht da war und ihn bemuttert hat, hat er sich eben einsam gefühlt. Und sie hat sich nur übers Wochenende verschönern lassen. Heute ist sie wieder da.«
»Dann ist ja alles in Ordnung.« Lulu hatte ihre Suche wieder aufgenommen und brach sie nun mit einem Triumphschrei ab, als sie den Stiefel entdeckte und sich auf den Boden setzte, um ihn anzuziehen. Richard und Judy halfen beim Zuschnüren. »Jedenfalls war es schon ein bisschen unheimlich. Da wünschst du dir jemanden, der dich liebt und braucht, und – simsalabim! – schon ruft Dad an und sagt dir genau das.«
»Reiner Zufall«, versicherte Mitzi. »Und du weißt doch, dass Dad regelmäßig sentimental wird, wenn man ihn länger als zwanzig Minuten allein lässt. Aber es war toll, oder? Vor allem für dich, nachdem der umwerfende Shay nebenan eingezogen ist.«
Lulu richtete sich auf und öffnete die Hintertür. »Ja, da habe ich es wesentlich besser getroffen als die arme alte Doll, die jetzt Bretts amouröse Avancen über sich ergehen lassen muss, das steht fest. Allerdings habe ich Shay seit Freitag nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich war er nur ein Konstrukt meiner überhitzten Fantasie.«
»Meinst du vielleicht Produkt?«
»Nach diesem Wünsch-dir-was-Auflauf weiß ich ganz genau, was ich meine.« Lulu grinste. »Okay, ich muss los. Ach, Mist, es regnet. Da werde ich ja patschnass an der Bushaltestelle.«
»Hmmm – über so was muss ich mir wenigstens nicht mehr den Kopf zerbrechen. Keine nassen Montagmorgen mehr, an denen ich klitschnass ins Büro komme und in der Mittagspause noch nasser werde. Ich glaube, ich verbringe den Tag ganz gemütlich am Kamin und organisiere mein erstes Fitte-Fünfziger-Treffen im Gemeindesaal – ach, und vielleicht plane ich auch meine nächste kulinarische Überraschung.«
»So was von gemein.« Lulu verzog das Gesicht, während sie in dem Durcheinander neben der Hintertür nach einem brauchbaren Regenschirm suchte.
»Ach, ich glaube, die Fitten Fünfziger freuen sich sogar auf das erste Treffen, und meine Kochkünste waren auch nicht so übel.«
»Ich meine weder deine Kochkünste noch die Fitten Fünfziger.« Lulu blickte entnervt auf das Sammelsurium von Regenschirmen mit Rissen im Stoff und verbogenen Speichen. »Es geht mehr um das gemütliche Zuhausesitzen am Kamin … Ach, was soll’s – ich laufe schnell zur Zahnarztpraxis und frage Doll, ob sie mich nach Winterbrook fahren kann. Das geht viel schneller als mit dem Bus oder wenn ich darauf warte, bis du angezogen bist und dich erbietest.« Sie grinste. »Außerdem erfahre ich so endlich, was in der Liebesnacht passiert ist. Tschüss!«
Doll war es seit Jahren gewohnt, dass Lulu bei schlechtem Wetter Fahrdienste bei ihr herauszuschinden versuchte, was regelmäßig zu schwesterlichen Auseinandersetzungen darüber führte, dass Lulu endlich den Führerschein machen solle. Lulu war siebenmal durchgefallen und hätte sich, selbst wenn sie einen Führerschein gehabt hätte, kein Auto leisten können. Außerdem war sie ja fast eine Art Umweltschützerin und wollte eigentlich nicht zur Luftverschmutzung beitragen, obwohl sie das Gefühl hatte, dass das oft als Argument gegen sie verwendet wurde.
Der Regen war unangenehm fein und dicht. Bis sie an der Praxis ankam, hatte Lulu nasse Füße, der Saum ihres langen Rocks war durchweicht, ihr Afghanenmantel verströmte einen noch strengeren Geruch als sonst, und von den Enden ihrer perlengeschmückten Zöpfe fielen unaufhörlich die Tropfen.
»Nasse-Ratten-Alarm!«, rief Viv, die Empfangsdame, fröhlich, ohne vom Bildschirm aufzusehen. »Mensch, Lu, dein Mantel stinkt ja echt zum Himmel! Wenn du dich zu den anderen Pennern vor Patsy’s Pantry stellst, verdienst du ein Vermögen.«
»Ah, sehr witzig.«
Lulu patschte auf die Reihe graugesichtiger Patienten zu, die sich in der entferntesten Ecke zusammengedrängt hatten und denen deutlich anzusehen war, wie wenig ihnen die Aussicht auf eine Zahnbehandlung an einem düsteren, grauen Oktobermorgen behagte. Nass, wie sie war, klemmte sich Lu auf die Kante eines unbequemen Stuhls und fragte sich, warum Zahnärzte eigentlich immer schreckliche Möbel, grelle Neonleuchten und Empfangsdamen wie Viv hatten. Wollten sie den Leuten damit suggerieren, dass alles nur besser werden konnte?
Sie nahm sich ein Exemplar von My Weekly und schüttelte sich die durchweichten Zöpfe aus dem Gesicht. »Ist Doll schon da?«
Viv sah nicht von ihrem Bildschirm auf. »Schon ewig. Sie und Dr. J haben in aller Frühe mit einem Weisheitszahn angefangen. Danach hat sie Zeit, bis gegen zehn der neue Zahnarzt kommt. Ich sage ihr Bescheid, dass du hier bist.«
»Danke.« Lulu vertiefte sich wieder in die Zeitschrift. Sie las auch stets Mitzis Hefte, wenn sie eines in die Finger bekam. Es stand immer eine Menge Retrozeug über die Sechzigerjahre drin, und Lulu wäre nur zu gern ein echter Hippie gewesen.
Die Tür zum Behandlungsraum ging auf, und das Häuflein Patienten drängte sich noch enger zusammen. Doll ignorierte sie mitsamt ihrem gemeinsamen Seufzer der Erleichterung und grinste ihre Schwester an. »So kommst du mir nicht in mein Auto. Dein Mantel stinkt ja zum Himmel. Warum investierst du nicht mal in einen Regenmantel?«
»Ich schaue nach, was da ist, wenn ich im Laden bin«, sagte Lulu und musterte Doll rasch von Kopf bis Fuß. Zu ihrer Enttäuschung fand sie keinerlei Spuren eines leidenschaftlichen Wochenendes. Doll sah nicht einmal ansatzweise mitgenommen aus, sondern wie immer adrett, sauber und ein bisschen zu gepflegt.
Doll zuckte die Achseln. »Du bist ein solcher Schmutzfink! Kannst du mal kurz warten? Ich muss noch ein paar Sachen wegräumen, ehe Tammy meinen Behandlungsraum übernimmt.«
Das Wort »Behandlungsraum« erschütterte die Patienten noch heftiger. In ihrem makellosen hellblauen Schwesternkittel und den bequemen flachen Schuhen verschwand Doll im Handumdrehen wieder im innersten Heiligtum, aus dem jedoch ein Schwall desinfektionsmittelgeschwängerter Luft ins Wartezimmer entwich. Zwei der Patienten erhoben sich wie von der Tarantel gestochen und begaben sich eiligen Fußes zur Tür.
Ihre Flucht wurde durch einen sehr großen, sehr nassen Mann vereitelt, der seinerseits in die Praxis hineinwollte. Lulu, die mittlerweile in My Weekly ausgiebig studiert hatte, wie man mit schwarzem Eyeliner und weißem Lippenstift dem Look von Dusty Springfield am nächsten kam, sah interessiert zu.
Der Neuankömmling war allemal einen Blick wert.
Mit seinem kurzen Haar, der feuchten Lederjacke, einem Diamantohrstecker und dem attraktiven, verwegen-markanten Gesicht, das an Hugh Laurie alias Dr. House erinnerte, überragte er sämtliche Zahnarztpatienten aus Hazy Hassocks in jeder Hinsicht um Längen. Einen Moment lang wäre Lulu beinahe Johnny Depp untreu geworden.
Viv war immer noch in ihren Computer vertieft und kümmerte sich nicht um den Mann, der mit ratloser Miene auf den cremefarbenen Linoleumfliesen stand.
Lulu lächelte ihn aufmunternd an. »Hi«, sagte sie und schüttelte sich die feuchten Zöpfe aus dem Gesicht, eine Geste, von der sie hoffte, dass sie möglichst anziehend wirkte. »Setzen Sie sich lieber und warten Sie, bis sie fertig ist. Hier herrschen reichlich merkwürdige Gepflogenheiten. Die Empfangsdame spricht erst mit den Patienten, wenn sie ihre Patience fertig hat.«
Der Mann lachte verhalten über das Wortspiel, was Lulu sofort für ihn einnahm. Und er setzte sich neben sie, was wegen des Afghanenmantels regelrecht Seltenheitswert hatte – vor allem in öffentlichen Räumen.
Viv beendete ihr Computerkartenspiel mit einer triumphierenden Fanfare und funkelte den Neuankömmling an. »Ja? Wie heißen Sie? Sie können nicht einfach hier reinschleichen und sich hinsetzen, wissen Sie. Sie müssen mir schon sagen, dass Sie da sind und wie Sie heißen.«
»Okay«, sagte er nickend. »Klingt einleuchtend. Ich bin da, und ich heiße Joel Earnshaw.«
Erneut musterte Lulu ihn verstohlen durch ihre dick getuschten Wimpern. Joel – ein schöner Name. Und er hatte eine schöne Stimme. Tief und mit nordenglischem Akzent. Da sie sich mit Dialekten nicht auskannte, vermochte sie allerdings nicht zu sagen, ob er nun aus Lancashire, Yorkshire oder gar aus der Gegend von Newcastle stammte.
»Sie haben keinen Termin!«, fauchte Viv, nachdem sie die entsprechende Seite hinuntergescrollt hatte. »Sind Sie ein Notfall?«
Joel schüttelte den Kopf. »Ich bin ein bisschen zu früh dran. Eigentlich werde ich erst um zehn erwartet.«
Viv kniff die schmalen schwarzen Brauen zusammen. »Also, ich kann Sie hier trotzdem nicht finden. Sie stehen nicht auf meiner Liste. Sie sind doch nicht vom staatlichen Gesundheitsdienst geschickt worden, oder? Wurden Sie von einer anderen Praxis an uns überwiesen? Oder sind Sie etwa ein Sozialfall?«
»Nein«, erwiderte Joel fest. »Aber jetzt, wo Sie es erwähnen, muss ich sagen, dass meiner Meinung nach Zahnbehandlungen wieder für alle und jeden zugänglich sein müssten. Ich finde nicht, dass gute Zähne allein den Begüterten vorbehalten sein sollten.«
Das Häufchen verschreckter Patienten nickte im Gleichtakt.
Lulu klatschte in die Hände. »Hey, gut gebrüllt, Löwe! Das sag ich schon seit Urzeiten, aber auf mich hört ja niemand.«
»Halt die Klappe«, zischte Viv sie an. »Und Sie« – sie funkelte Joel Earnshaw aus zusammengekniffenen Augen an – »können sich in unserer Praxis Ihre linken Sprüche sparen! Wir leisten gute, verlässliche Arbeit, die ihr Geld wert ist.«
»Freut mich zu hören«, sagte Joel Earnshaw grinsend. »Und bevor wir uns hier noch tiefer in Missverständnisse verstricken, sollte ich mich vielleicht outen – ich bin nicht als Patient hier. Ich bin Zahnarzt. Der neue Zahnarzt. Dr. Earnshaw.«
»Oh!« Viv lief tiefrot an. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Sie sehen gar nicht aus wie ein Zahnarzt. Und ich dachte, Sie – er – hießen Joe. Unsere Kollegin Tammy hat gesagt, Sie heißen Joe.«
»Das hat sie wahrscheinlich falsch verstanden«, sagte Joel gelassen, stand auf und trat an den Empfangstresen. »Mein Akzent macht südlich von Manchester manchmal Probleme. Nachdem wir das geklärt hätten, könnten wir ja vielleicht noch mal von vorn anfangen, oder?«
Viv lächelte geziert und reckte die Brust. Lulu musste schmunzeln, als Joel Earnshaw seinen Charme spielen ließ. Doll hatte vielleicht ein Glück, dass sie mit so einem Mann zusammenarbeiten durfte. Selbst die wartenden Patienten – nun ja, zumindest die weiblichen – machten auf einmal einen deutlich muntereren Eindruck.
»Endlich fertig.« Doll kam auf leisen Sohlen in den Wartebereich zurückgetappt, schlüpfte in einen praktischen dunkelblauen Regenmantel und zog ihre ordentlich frisierten blonden Haare aus dem Kragen. »Wir müssten es gerade noch schaffen, dich rechtzeitig zur Arbeit zu bringen, ehe Mr und Mrs Pippin sich nach einem Ersatz für dich umsehen.«
»Das würden sie nie tun«, sagte Lulu und erhob sich. »Sie haben immer gesagt, ich sei absolut unersetzlich. Und dass sie nie wieder jemanden wie mich finden würden – was eigentlich das Gleiche heißt, oder? Aber Doll – schau doch … jetzt schau doch mal!«
»Was ruckst du denn so mit dem Kopf?« Doll runzelte die Stirn. »Und warum schneidest du solche Grimassen? Und warum -«
»Doll«, säuselte Viv mit honigsüßer Sahnestimme. »Ich möchte dir Dr. Earnshaw vorstellen. Joel Earnshaw. Unseren neuen Zahnarzt. Doll« – sie klimperte Joel mit den Wimpern zu – »ist unsere leitende Dentalassistentin. Sie steht Ihnen zur Seite, bis Sie eingearbeitet sind. Dann bekommen Sie Tammy.«
Doll lächelte und hielt ihm die Hand hin. »Schön, Sie kennenzulernen. Schade, dass ich nicht da war, als Sie zum Vorstellungsgespräch hier waren – und schade, dass ich Sie gleich wieder allein lassen muss. Ich brauche nicht lange – nur eine Gefälligkeitsfahrt nach Winterbrook. Ich bin auf jeden Fall rechtzeitig für eine kurze Besprechung zurück, ehe unser erster Patient kommt.«
Joel schüttelte ihr die Hand, erwiderte ihr Lächeln und murmelte irgendeine Höflichkeitsfloskel.
Lulu war baff. Warum bekam Doll keine glänzenden Augen und Atemnot? Warum blieb sie einfach so nüchtern und freundlich wie immer? Warum war sie nicht wenigstens ein bisschen rot geworden?
»Na dann komm, du alte Gammlerin«, sagte Doll und ging in Richtung Ausgang. »Bringen wir dich mal zur Arbeit.«
Immer noch ganz durcheinander, warf Lulu Joel Earnshaw ein letztes strahlendes Lächeln zu und tappte schließlich hinter Doll her.
»Was ist nur los mit dir?«, platzte sie heraus, als der Polo durch die Pfützen von Hazy Hassocks zur Hauptstraße nach Winterbrook rumpelte.
»Nichts.« Doll wandte den Blick nicht von der Straße ab. Sie fuhr so konzentriert, wie sie auch ihre Arbeit verrichtete. »Mir geht’s gut. Warum?«
»Aber er …« Lu streifte sich zum x-ten Mal die Zöpfe aus den Augen. »Joel. Euer neuer Zahnarzt. Der Mann, mit dem du in nicht einmal einer Stunde zusammenarbeiten wirst!«
»Was ist mit ihm?«
»Dolores Blessing! Du bist wirklich hoffnungslos!«
»Nenn mich nicht Dolores, Tallulah.«
Sie grinsten sich an. Ihre wirklichen Namen – die peinlichen Hollywood-Fantasien ihrer Eltern – waren ein dunkles Geheimnis zwischen ihnen, ihren engsten Freundinnen und ihren Geburtsurkunden.
»Er ist soooo cool!«
Doll schaltete in einen höheren Gang. »Er ist okay. Natürlich eine enorme Verbesserung gegenüber Dr. Wiseman und recht nett – und auf jeden Fall nicht so alt, wie Tammy behauptet hat. Was schätzt du? Ende dreißig? Aber er ist nicht mein Typ.«
Lulu schnaubte angewidert. »Nein, natürlich nicht. Nicht, wenn dir der langweilige alte Briefträger Brett weiche Knie macht.«
Doll kicherte.
»Meine Güte, Doll – sag bloß nicht, du hast es allen Ernstes genossen, von jemandem in billigem schwarzem Leder verführt zu werden? Jemandem, den du besser kennst als dich selbst? Jemandem, der sich vor dir die Fußnägel schneidet und sich zwischen den Zähnen herumpult und vermutlich unter der Bettdecke eklige Sachen macht und -«
»Ja, schon gut«, fauchte Doll. »Ich habe verstanden. Und ja, wenn du es unbedingt wissen willst, ich habe es genossen. Jede Minute davon. Brett und ich hatten eines der besten Wochenenden, seit ich denken kann.«
»Was? Du meinst, du und Brett … Das ganze Wochenende lang?«
»Mmmm …« Doll lächelte verträumt. »Es war herrlich … Wir haben das Schlafzimmer nur verlassen, um uns die nächste und die übernächste Flasche Wein zu holen. Wir haben sogar im Bett Windbeutel mit Sahne gegessen. Es ist erstaunlich, was man mit einem Windbeutel alles anfangen kann.«
»Igittigitt – so genau wollte ich es gar nicht wissen!« Lulu verzog angewidert das Gesicht.
Doll bremste vor dem Wohlfahrtsladen, doch wie immer gab es keinen Parkplatz. Sie setzte erneut ein wehmütiges Lächeln auf. »Brett und ich konnten uns heute Morgen kaum trennen – es war, als wären wir wieder sechzehn. All unsere alten Gefühle sind wieder aufgeflammt. Und wenn ich nach diesem Wochenende nicht schwanger bin, dann gibt es einfach keine Gerechtigkeit.«
Mann! Lulu fehlten die Worte. Vielleicht steckte doch mehr in dem Wünsch-dir-was-Auflauf, als sie gedacht hatten.
In Gedanken immer noch bei der schauerlichen Vorstellung, dass der kulinarische Versuch ihrer Mutter für Bretts und Dolls erotische Eskapaden verantwortlich war, betrat sie den Laden.
Der düstere, höhlenartige Raum, in dem es nach Alter, Moder und Verfall roch und wo schockfarbenes Keramikgeschirr aus den Siebzigern, Plastiknippes aus den Sechzigern, eine Milliarde Taschenbücher und raue Mengen von untragbaren Kleidungsstücken miteinander um Platz in den Regalen wetteiferten, war nun schon seit fünf Jahren Lulus Arbeitsplatz und Zufluchtsort.
»Entschuldigt bitte meine Verspätung – wegen dem Regen musste ich warten, bis Doll mich gefahren hat.« Sie warf den Afghanenmantel in eine Ecke und grinste ihre Arbeitgeber an. »Soll ich Wasser aufsetzen?«
Hinter dem Verkaufstresen nickten Hedley und Biff Pippin im gleichen Rhythmus. Sie wirkten mehr wie Geschwister als wie ein Ehepaar, beide klein und rundlich mit Gleitsichtbrillen. Ja, sie kleideten sich sogar identisch in Cordhosen und karierte Hemden. Angeblich war Biff ein ziemlich großer Name im inoffiziellen Damen-Wrestling gewesen, als Hedley sie in den Sechzigerjahren auf einer Demonstration für Tierrechte kennengelernt hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie waren lässige Arbeitgeber, die ihrer Sache verpflichtet waren, und Lulu liebte sie innig.
Bei mehreren Tassen Tee sortierten sie die gespendeten Kleidungsstücke und Geschirrteile, die jedes Wochenende in schwarzen Mülltüten vor den Laden gestellt wurden, und Lulu erzählte ihnen vom Wünsch-dir-was-Auflauf und dessen Wirkung, wobei sie allerdings die Details von Bretts und Dolls Liebesmarathon übersprang, da dies die beiden womöglich ebenso schockiert hätte wie sie selbst.
»Vielleicht könnte uns deine Mutter auch etwas für die nächste Tierrechte-Demo kochen«, sinnierte Biff, während sie ein durchsichtiges Nachthemd aus violettem Nylon in die Höhe hielt. »Wir wünschen uns doch alle, dass sich die Opposition schlagartig in Luft auflöst.«
»Äh – ja …« Lulu, die soeben einen faltbaren beigen Regenmantel anprobierte, hielt inne. »Ich weiß nicht, ob Granny Westwards Rezeptbuch auch so etwas enthält.«
»Ach, bestimmt.« Hedley zog an seiner Pfeife, die sogar noch schlimmer stank als Lulus Mantel. »Diese alten Landfrauen konnten doch zu jeder Gelegenheit irgendwas zusammenrühren. Was glaubt ihr wohl, warum sie alle auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden sind? Und wo kommen denn die Grundbestandteile für moderne Drogen her? Von Pflanzen, genau. Nehmt nur mal den Mohn – eine so herrliche Blüte -, und doch ist er für eines der schlimmsten Probleme der Welt verantwortlich und -«
»Äh – ja.« Lulu zog den Regenmantel wieder aus und unterbrach Hedleys Wortschwall. Er hatte die unangenehme Angewohnheit, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zum Volksredner zu mutieren. »Aber ich glaube nicht, dass meine Mutter sich auf etwas einlassen wird, das eine Drogenrazzia zur Folge hat. Außerdem ist das sowieso alles Humbug.«
Biff schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Hedley hat recht. Es ist gut dokumentiert, dass Dorfbewohner alles Greifbare benutzt haben, um Krankheiten zu heilen, das Bewusstsein zu erweitern und sich zu amüsieren. Vielleicht ist Mitzi ja auf etwas ganz Wundervolles gestoßen, wer weiß.«
Lu faltete einen Stapel neonfarbene Strickjacken ordentlich für die Auslage zusammen. »Glaubst du wirklich? Du meinst nicht, dass all diese Dinge ohnehin passiert wären – auch ohne den Wünsch-dir-was-Auflauf?«
»Wer weiß?« Biff schüttelte den grau melierten Schädel. »Das erfährst du nur, wenn du deine Mutter bittest, noch andere Rezepte auszuprobieren. Bereitet noch ein paar weitere Gerichte aus dem Kochbuch eurer Urgroßmutter zu und wartet ab, was geschieht. Wenn nichts passiert, war es wahrscheinlich nur Zufall – aber das findet man nur durch Probieren heraus …« Draußen vor der Tür war im strömenden Regen ein dunkler Schatten aufgetaucht. Biff wurde auf der Stelle geschäftsmäßig. »Oh, super, ein Kunde, noch dazu beladen mit Taschen. Hedley, du sorgst dafür, dass er auch etwas kauft und nicht nur Sachen abgibt.«
Lu überließ den Kunden Hedleys unschlagbaren Verkaufstechniken und tauchte im hinteren Teil des Ladens unter, um die Mülltüten zusammenzulegen, die Kartons ordentlich zu stapeln und noch einmal frisches Wasser aufzusetzen. Die Vorstellung, dass Mitzi mit ihren Rezepten tatsächlich etwas bewirken konnte, war im Grunde lachhaft. Andererseits – da war die Sache mit Doll und Brett. Keine Frau im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte würde sich ein 48-stündiges Love-in mit Brett wünschen, wenn sie nicht unter dem Einfluss irgendeiner Droge stand, oder?
Fröhlich nickte sie vor sich hin. Vielleicht würde es Spaß machen, eines der anderen Rezepte auszuprobieren. Womöglich gab es ja sogar einen richtigen Liebestrank, und sie konnten Shay einladen. Bei dem Gedanken überlief sie ein wollüstiger Schauer.
»Lulu, komm mal her und sieh dir das an!« Hedleys Stimme bereitete ihrem genüsslichen Tagtraum ein brutales Ende. »Ich weiß, wir sagen immer, wir lehnen nichts ab, aber – ehrlich!«
Biff kniete in Bergen von Lumpen, die aus den Mülltüten auf dem Boden quollen. »Das meiste davon kann man nicht mal mehr zur Altkleidersammlung geben! Guter Gott, die Sachen fallen schon teilweise auseinander und riechen furchtbar. Welcher Mensch von klarem Verstand soll denn in Gottes Namen so etwas tragen?«
Lulu musterte das halb auseinandergefallene schmuddelige und ausgefranste Kleid. »Äh – ich, offen gestanden. Das gehört mir – genau wie das! Und das!«
Sie sank auf die Knie und wühlte die Tüten durch. Alles darin gehörte ihr. Es war ihr gesamter Besitz. Alles, was sie noch nicht aus Nialls Loft zu Mitzi gebracht hatte.
»Wer hat das abgegeben?«
»Ein ziemlich großer, kräftiger Mann«, antwortete Hedley. »Eher jung. Schicker Anzug. Schickes Auto. Schicke junge Frau auf dem Beifahrersitz. Irgendwie kam er mir sogar bekannt vor. Aber er wollte um keinen Preis etwas kaufen.«
Lulu rappelte sich auf und lief zur Tür. Nialls sportliches Astra-Coupé fädelte sich gerade in den fließenden Verkehr ein. Neben dem Fahrer saß eine perfekt zurechtgemachte Rothaarige in einem modischen schwarzen Kostüm. Auf dem makellosen Schoß hatte sie eine Designerhandtasche und eine dazu passende nagelneue schwarze Aktentasche liegen. Niall lehnte sich aus dem Fenster und winkte Lulu spöttisch zu.
»Bye, Tallulah!« Seine Stimme übertönte den unablässig strömenden Regen und das Rauschen des Verkehrs. »Dee-Dee und ich wollten dir den Aufwand ersparen, deinen restlichen Schrott abzuholen. Hier ist der richtige Platz dafür – und für dich. Ich hoffe, wir sehen uns nie wieder. Leb wohl, Süße!«
Lu starrte dem davonbrausenden Wagen nach. Dieser verdammte Niall! Er hatte ja nicht lange gebraucht, um Ersatz zu finden! Überhaupt nicht lange, wenn man bedachte, dass er ihr erst kürzlich geschworen hatte, sie für immer zu lieben. Männer! Was waren sie doch allesamt für unberechenbare, erbärmliche Lügner! Lu schniefte. Und die Frau neben ihm im Auto war genau das gewesen, was Niall aus ihr hatte machen wollen, wenn auch vergeblich … Und – war sie nun am Boden zerstört? Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie war etwas mitgenommen, und ihr Stolz war verletzt, doch das ließ sich alles heilen … Und außerdem gab es immer noch Shay, der bestimmt weder launisch noch unehrlich und überhaupt bestimmt zehntausendmal besser war als Niall. Vielleicht, so überlegte sie, als sie wieder in den Laden ging, war dies genau der richtige Zeitpunkt, um zu testen, ob Mitzis magische Rezepte tatsächlich funktionierten …