7. Kapitel
So weit, so gut, dachte Mitzi, als sie ihre Tasche packte. Hatte sie alles, was sie für das erste Treffen der Fitten Fünfziger brauchte? Namensliste – ja; Liste mit den machbaren und nicht machbaren Dingen – ja; mehrere Schachteln Kekse als Beigabe zu dem bitteren Tee im Gemeindesaal – ja. Erlaubnis von Tarnia Snepps, heute Nachmittag den Gemeindesaal von Hazy Hassocks zu benutzen – nein; Selbstvertrauen – nein; schwerer Anfall von weichen Knien – ja, ja, ja.
Es war eine merkwürdige Woche gewesen. Sie hatte nicht erwartet, dass Nialls endgültiger Schlussstrich Lu dermaßen erschüttern würde, obwohl Lu natürlich darauf bestanden hatte, dass es eher verletzter Stolz als Liebeskummer war. Ebenso wenig hatte sie damit gerechnet, dass Doll und Brett auf einmal wie ein junger Liebestraum umherschweben würden. Dank den Nachbarn, ihren Freunden und den Fitten Fünfzigern sowie Granny Westwards Kochbuch hatte Mitzi sich jedoch keinen Moment lang einsam oder gelangweilt gefühlt. Ja, inzwischen fragte sie sich sogar, wie sie je die Zeit gefunden hatte, arbeiten zu gehen.
Es hatte aufgehört zu regnen, und das späte Oktoberwetter brachte eisigen Nordwind und kältestarre Morgenstunden mit sich, an denen einem fast die Nase abfror. Die Bäume verloren nach und nach all ihre Blätter, sodass Hazy Hassocks unter einem Teppich aus Gold, Braun und Rostrot verschwand. Noch verräterischer war allerdings, dass Richard und Judy vom Wäschekorb auf den zentralen Warmwasserspeicher umgezogen waren, ein sicheres Zeichen für bevorstehendes raues Wetter.
Mitzi summte fröhlich zur Musik von Radio Two, stellte zwei Kaffeebecher auf ein Tablett und machte ein neues Päckchen Schokoladenkekse auf. Gleich würde Flo kommen, zum Kaffeetrinken und Klatschen.
»Komm rein«, rief sie, als es an der Hintertür klopfte. »Das Wasser kocht schon, und – oh! Was willst du denn hier?«
Lance spähte leicht errötet zur Küchentür herein, strich sich das Haar glatt und grinste verlegen. »Nette Begrüßung. Danke, Liebes.«
»Nenn mich nicht Liebes.«
»Nein, okay, tut mir leid – das sind eben alte Gewohnheiten …« Lance zog sich einen Stuhl heran und setzte sich an den Küchentisch. »Es ist so gemütlich hier. Richtig heimelig im Vergleich zu unserer früheren Einrichtung in Weiß und Edelstahl. Manchmal sehne ich mich trotzdem nach den cremeweißen Wänden und den Polstermöbeln aus Dralon zurück. Und du siehst wirklich sagenhaft aus. Der Ruhestand bekommt dir.«
Mitzi schnalzte pikiert mit der Zunge. »Du weißt ganz genau, dass Cremeweiß und Dralon zusammen mit dir zur Tür hinausspaziert sind. Und deine Schmeicheleien kannst du dir auch sparen. Was ist denn los? Hattest du Streit mit der Zimtzicke? Hat sie dich wieder auf Fastenkur gesetzt? Du bist sicher nur auf eine Tasse starken Kaffee und einen Schokoladenkeks gekommen, oder?«
»Ja, also, nein, natürlich nicht nur auf einen Schokoladenkeks …« Lance schüttelte seinen schwarzen Wollmantel ab und machte es sich bequem. »Ich war gerade auf dem Rückweg von einer der Baustellen und dachte, ich schaue mal bei dir nach dem Rechten.«
»Mir geht’s gut, wie immer. Außerdem ist das nicht mehr dein Problem oder deine Verantwortung. Und du kannst selbstverständlich literweise koffeinhaltigen Kaffee und so viele Schokoladenkekse kriegen, wie du willst. Okay?«
»Super«, sagte er und grinste sie an.
Was für eine Erleichterung, dachte Mitzi, als sie sich umwandte, um frisches Wasser aufzusetzen, dass dieses Lächeln sie nicht mehr berührte. Den größten Teil ihres Erwachsenenlebens hatte Lance’ breites, lässiges Lächeln ihre Knie weich werden lassen. Sie hatte lange gebraucht, um sich von seiner Untreue zu erholen. Nie wieder würde sie ihm oder einem anderen Mann vollständig vertrauen.
Er war gut gealtert. Natürlich nicht ganz so gut wie sie, doch er war immer noch schlank, sportlich und attraktiv. Sein Haar war nach wie vor braun und seidig, und er erinnerte immer noch stark an David Bowie. Seine kleine Baufirma florierte weiterhin, im Gegensatz zu so vielen anderen, die unter der Rezession gelitten hatten. Gutaussehend, umgänglich, nett, humorvoll und wohlhabend. Kein Wunder, dass Jennifer die Zimtzicke ihn unwiderstehlich gefunden hatte.
Nein, sagte sie sich kopfschüttelnd, diesen Weg würde sie nicht einschlagen – nie wieder. Energisch zog sie das apricotfarbene Sweatshirt über ihre ausgebleichte Levi’s herunter und setzte ein unverbindliches Lächeln auf, während sie Lance einen Kaffeebecher reichte. »Zwei Stück Zucker. Oder nimmst du jetzt Süßstoff?«
»Nicht einmal Süßstoff. Nicht, solange wir entschlacken. Künstliche Lebensmittel sind verpönt. Zucker ist prima, vielen Dank. Und du siehst wirklich fantastisch aus.«
»Danke – ich genieße meine Freiheit in vollen Zügen, trotz meiner anfänglichen Befürchtungen. Hast du etwas von den Mädchen gehört?«
»Doll hat mich neulich angerufen, und Lu ist vor zwei Tagen im Büro vorbeigekommen. Es scheint ihnen gut zu gehen. Ich bin froh, dass Niall endlich von der Bildfläche verschwunden ist – der war in meinen Augen schon immer ein kompletter Blödmann. Und sie haben mir beide erzählt, dass dein Kochversuch erfolgreich war, was mich ein bisschen beunruhigt hat.«
Mitzi warf das Geschirrtuch nach ihm. Er hatte sich seit jeher über ihre mangelhaften Kochkünste lustig gemacht. Sie setzte sich ihm gegenüber, schob den Krimskrams beiseite und nahm ihren Kaffeebecher in beide Hände. Gemeinsam futterten sie Kekse und plauderten angeregt über das bevorstehende Treffen im Gemeindesaal. Als Freunde verstanden sie sich gut – das war schon immer so gewesen.
»Ist es das? Das Kochbuch, von dem sie erzählt haben?« Lance streckte die Hand nach dem von einem Gummiband zusammengehaltenen, zerfledderten Heft aus, das an der Vase auf dem Tisch lehnte. Vorsichtig schlug er es auf. »Guter Gott – das ist wirklich sagenhaft. Und diese Handschrift – fantastisch. Da stehen ja ein paar richtig altmodische Sachen drin … Guter Gott! Grießflammeris! Cremetorten! Aufläufe! Pasteten! Oh, ich glaube, ich habe gerade das Schlaraffenland entdeckt.«
Mitzi kicherte. »Man hört dir an, dass du dich schon viel zu lange von Naturreis und Algen und diesen schrecklichen abgepackten Mischsalaten ernährst, die angeblich alle so lieben. Aber hast du dir mal die Namen der Rezepte angesehen? Die sind wirklich merkwürdig. Das hier haben wir ausprobiert – den Wünsch-dir-was-Auflauf -, und er hat richtig gut geschmeckt. Viele der Speisen haben mit den traditionellen Feiertagen zu tun, siehst du? Ich habe mir überlegt, an Halloween einmal etwas Besonderes zuzubereiten. Da gibt es ein ganz interessantes Rezept – schau mal …«
Gemeinsam vertieften sie sich in das Buch.
»Allerheiligen-Baisers?« Lance zog die Brauen hoch. »Mmmm – die schmecken den Rackern bestimmt, die vor der Tür stehen und Süßigkeiten verlangen. Aber was ist Schabernackskuchen? Und Feuerwerksfieber? He, schau dir das mal an. Von denen machst du am besten gleich heute Nachmittag welche.«
»Überredungstörtchen?« Mitzi runzelte die Stirn. »Warum? Glaubst du, meine Fitten Fünfziger müssen mit allen Mitteln davon überzeugt werden, dass sie auch von sich aus in der Lage sind, ihr Leben zu ändern?«
»Mitzi, Liebes.« Lance tunkte den letzten Keks in seinen Kaffee. »Bestimmt könntest du sie zu allem überreden, was du willst. Nein, ich habe eher daran gedacht, Tarnia mit einer großen Dosis Überzeugungskraft zu betören.«
Sie mussten beide lachen, wie immer über Tarnia. Als Mitzi Kaffee nachschenkte, dachte sie bei sich, dass Lance durchaus nicht unrecht hatte. Wenn Tarnia von dem für diesen Nachmittag heimlich arrangierten Treffen erfuhr, könnte sie ziemlich ungehalten reagieren.
»Hast du Lust, ein bisschen zu backen?«
»Ich?« Lance sah drein, als hätte sie ihm ein schlüpfriges Angebot gemacht. »Was, hier? Jetzt?«
»Genau, hier und jetzt – es sei denn, du hast etwas Eiligeres und Wichtigeres zu tun …«
»Nein, gar nichts. Du meinst … du willst wirklich etwas aus dem Buch hier machen?« Lance stand auf und schob die Ärmel seines hellblauen Pullovers hoch. »Super. Nichts lieber als das. Gut – was brauchen wir?«
Neben den prosaischeren Zutaten wie Mehl, Eier und Butter brauchten sie laut Granny Westward Nelkenblütenblätter, Ebenholz, Enzian, Ingwer und Trauben.
»Mann, und was davon hast du in der Speisekammer?«
»Nichts«, sagte Mitzi trübsinnig. »Tja, es könnte noch etwas Ingwer da sein, aber die Nelkenblütenblätter sind mir glatt ausgegangen. Ich hab die letzten heute Morgen für die Sandwiches aufgebraucht.«
»Hol doch schon mal alles her, was du dahast, und verrühr die Grundzutaten zu einem lockeren Teig« – Lance griff nach seinem Autoschlüssel -, »dann fahre ich schnell zu Herbie’s Healthfoods und versuche, alles andere aufzutreiben. Ich beeile mich.«
Und das tat er. Auch diesmal waren die Zutaten nicht exakt die richtigen, aber doch beinahe. Sie lauschten der Musik aus dem Radio und arbeiteten – unterstützt von vielen Tassen Kaffee – fröhlich Seite an Seite am Tisch, wie sie es in all den Jahren ihrer Ehe nie getan hatten. Richard und Judy saßen oben auf dem Warmwasserboiler und verfolgten das Geschehen überaus misstrauisch.
»Du glaubst doch nicht wirklich an das alles, oder?«, fragte Lance, als das erste Blech Törtchen im Ofen war und die Küche aussah wie nach der Explosion einer Bäckerei. »Dass diese seltsame Kräutermischung tatsächlich – nun ja – etwas bewirkt
»Nein«, sagte Mitzi und wischte sich mit einer mehligen Hand über die geröteten Wangen. »Eigentlich nicht. Ich glaube nicht mehr an Zauberei als du, aber ich glaube, dass die ungewöhnliche Kombination von Zutaten vielleicht doch eine chemische Wirkung aufs Gehirn hat. Oder zumindest hatte sie die auf eine weitaus unschuldigere Generation als die unsere. Wie heutzutage große Mengen Alkohol oder Cannabis.«
»Mag sein – aber andererseits«, brummte Lance, während er mit den Zähnen das letzte Päckchen Kekse aufriss, »spielst du womöglich mit schwarzer Magie, ohne es zu wissen. Manche Zutaten in diesen Rezepten kommen mir ziemlich suspekt vor – außerdem hat mir Lu erzählt, was nach dem Wünsch-dir-was-Auflauf passiert ist.«
Mitzi runzelte die Stirn. Hoffentlich hatte Lulu Lance nicht zu viel erzählt – vor allem nicht, was sie selbst sich gewünscht hatte. »Alles reiner Zufall. Wahrscheinlich kriegt Tarnia von den Überredungstörtchen einfach nur heftiges Sodbrennen.«
»Dann waren sie wenigstens nicht umsonst«, lachte Lance. »Gut – sind wir bereit für die nächste Fuhre?«
Sie zogen gerade das erste Backblech aus dem Ofen, als Flo zur Hintertür hereingeschneit kam.
»Tut mir leid, dass ich zu spät komme, Mitzi, aber ich musste Clyde mit seinen Glasballons helfen. Er hat achtzig Liter Zucchini-Hagebutte am Gären, und wir wären von dem verflixten Zeug überschwemmt worden, wenn ich nicht eingegriffen und ihm geholfen hätte, und – na so was!« Sie musterte die häusliche Szenerie um den Küchentisch. »Was will der denn hier? Du bist doch nicht so dumm gewesen und hast ihn wieder aufgenommen, oder?«
Lance schloss die Ofentür vor der zweiten Fuhre und verzog das Gesicht. »Ja, ich mag dich auch, Flo. Schaff dir Platz und setz dich.«
Lachend pustete Mitzi das Mehl vom Wasserkessel und holte einen dritten Becher. »Du darfst das erste von unseren Plätzchen probieren – nachdem Lance sämtliche Kekse verputzt hat.«
Flo sah immer noch verständnislos drein. »Aber du backst doch sonst nie, Mitzi. Und schon gar nicht mit ihm. Außerdem – »sie musterte die dampfenden Häufchen auf dem Backblech – »sind das keine Plätzchen, sondern zu dunkel geratene kleine Kuchen.«
Stimmt, dachte Mitzi, sie sahen eher aus wie kleine, glänzende braune Kuchen. Sie hatte sich eher goldgelbe, lockere Häufchen vorgestellt. Trotzdem sahen sie recht appetitlich aus und rochen – nun ja – akzeptabel. Doch auf keinen Fall würde sie Flo verraten, dass sie Zauberkräfte besitzen sollten. Zum Glück war Granny Westwards Kochbuch unter dem ganzen Krimskrams auf dem Tisch gut verborgen.
»Die sind für heute Nachmittag – meine erste Versammlung im Gemeindesaal«, erklärte sie geistesgegenwärtig und reichte Flo einen Becher Kaffee. »Du weißt doch, wie knauserig sie dort immer mit Erfrischungen sind. Und Lance war gerade da und hat mit angepackt.«
»Hmmm …« Flo war immer noch skeptisch, streckte aber tapfer die Hand zum Backblech aus.
Mitzi und Lance wechselten Blicke.
Flo biss einmal ab, stieß einen kleinen Schrei aus und wedelte sich hektisch vor dem Mund herum. »H-h-heiß! Furchtbar heiß!«
Mitzi verdrehte die Augen und hielt die Luft an. Ob die Überredungstörtchen tatsächlich wirkten oder nicht, war zweitrangig. Sie hätte sich schon gefreut, wenn sie schlicht und einfach genießbar waren. Außerdem konnte es nicht schaden, ein bisschen zu experimentieren. Da Flo von all ihren Freundinnen Lance’ Untreue am schärfsten verurteilt und ihm die letzten zehn Jahre konsequent die kalte Schulter gezeigt hatte, war es immerhin einen Versuch wert.
Während sie Flo zusah, wie sie mannhaft den kleinen braunen Kuchen verdrückte, beschwor Mitzi sie innerlich, nett zu Lance zu sein. Nur ein klein wenig freundlich. Nicht ganz so giftig. Irgendetwas in der Art.
»So«, fragte Lance beflissen, als Flo fertig gekaut hatte, »das war doch gar nicht so übel, oder?«
Flo schluckte und sah reichlich verdutzt drein, ehe sich ein seliges Lächeln über ihr kantiges Gesicht breitete. Ihre Augen strahlten, und ihre Lippen zuckten verschmitzt. »Wirklich gar nicht übel. Eigentlich sogar ziemlich lecker. Kann ich noch eines haben?«
»Aber sicher.« Lance streifte die Topfhandschuhe über und hielt ihr das Backblech hin.
»Danke.« Flo zwinkerte und versetzte ihm einen koketten Klaps auf den Arm. »Wunderbar zubereitet und perfekt serviert. Noch dazu von einem so gutaussehenden Kellner.«
Mein Gott! Mitzi klammerte sich am Tisch fest. Flo flirtete mit ihm!
»Äh -« Mitzi riss Lance das Backblech aus den Händen. »Ich glaube, das genügt – sonst reichen sie nicht für heute Nachmittag.«
Flo packte Lance’ Hand und klimperte ihm mit ihren spärlichen Wimpern zu. »Ach, komm schon, Lancie – nur noch eines. Sei nicht so gemein.«
Lance warf Mitzi einen entsetzten Blick zu, worauf diese kaum wahrnehmbar den Kopf schüttelte. Noch mehr Überredungstörtchen, und Flo würde zum männermordenden Vamp mutieren – es war nicht auszudenken.
»Tut mir leid«, sagte sie ungerührt, »die kommen jetzt in die Dose. Lance …«
Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung kippte Lance die restlichen Törtchen in die Dose.
»Was ist denn hier los?«, zischte er Mitzi zu. »Was in aller Welt hast du mit ihr gemacht?«
»Gar nichts …«, murmelte Mitzi erschüttert. »Das waren die Törtchen … Tarnia Snepps, ich komme!«