14. Kapitel
Sämtliche Pyromanen aus
Hazy Hassocks hatten der Feuerwerksnacht am fünften November voller
Vorfreude entgegengefiebert. Nun leuchteten am Abendhimmel über dem
Gemeindesaal von Hazy Hassocks unzählige bunte Farbfontänen auf,
während der Boden unter gewaltigen Detonationen erbebte.
Auch drinnen flogen die Funken.
Der Filzhutmann, noch sichtlich mitgenommen von
Halloween, zuckte unter dem Lärm der zahlreichen sich anbrüllenden
Leute zusammen, während er sich vorsichtig zwischen den lauten
Grüppchen hindurchwand, Zettel verteilte und besorgt nickte.
Lav und Lob Banding trotteten hinter ihm drein und
verkündeten lautstark, dass sie unerlässliche Mitglieder der
American Drama Group seien. Der Filzhutmann stimmte ihnen über die
Schulter hinweg zu, ja, sie hätten sich für American Drama ebenso
eingetragen wie für alles andere, doch der Charakter der ersten
geplanten Produktion spräche doch eher dafür, dass sie im
Zuschauerraum – und dort vorzugsweise ganz hinten – Platz nehmen
sollten.
Die Bandings, deren Fahrradhelme mittlerweile
Heiligenscheine aus schwarzem Plastik zierten, nachdem man die
Hexenhüte hatte herunterschneiden müssen, ließen sich
nicht davon abbringen, dass sie sich in der Tanzgruppe blendend
machen würden. Schließlich hatten sie als junge Mädchen in
Gilbert-and-Sullivan-Operetten mitgewirkt.
Mitzi verfolgte das Treiben von der Bühne aus,
inzwischen der festen Überzeugung, dass sie für die Fitten
Fünfziger nicht mehr wichtig war. Sie hatten jemanden gebraucht,
der sie zusammenbrachte und anregte, Kontakte zu knüpfen, doch
jetzt lief auch ohne sie alles wie am Schnürchen.
Der Gemeindesaal sollte jeden Mittwochabend für ein
allgemeines Treffen reserviert sein, während die speziellen
Aktivitäten auf einem ordentlich getippten Stundenplan aufgelistet
waren. Der Fitte-Fünfziger-Club hielt Tarnias vorläufige
Einwilligung für in Stein gemeißelt, doch Mitzi wusste es leider
besser.
Vielleicht würden die Unternehmungen des FFC auch
ohne sie weiter florieren, doch Tarnia würde ihnen den Gemeindesaal
nicht ewig überlassen. Also stand ein zweiter Besuch bei Tarnia an,
und zwar schon bald, wenn die Fitten Fünfziger von Hazy Hassocks
ihre Lebensader behalten wollten.
Sie sah auf die Uhr. Wenn sie jetzt aufbrach, würde
sie Tarnia doch bestimmt zu Hause antreffen, oder? Wahrscheinlich
flogen überall Raketen durch die Luft, und sie hatte auch keine
Überredungstörtchen in der Handtasche, mit denen sie ein weiteres
Mal alles in ihrem Sinne hätte beeinflussen können, doch am besten
brachte sie es rasch hinter sich.
Neben ihr plauderten June und Sally fröhlich,
flankiert von etlichen anderen Mitgliedern des FFC. Die
Halloween-Party hatte allen unheimlich gut gefallen – zumindest
soweit sie sich erinnern konnten. Es war alles so lustig gewesen,
das mussten sie unbedingt bald wiederholen – ach, und falls Mitzi
noch mehr traditionelle Landfrauenrezepte von ihrer
Großmutter hatte, würden sie sich von ihr gern Snacks für ihre
eigenen Partys liefern lassen, natürlich gegen Bezahlung und nur,
falls die spektakulären Wirkungen garantiert waren.
Wollte Mitzi nicht vielleicht eine Art Partyservice
mit Grannys Leckereien gründen?
Mit ungerührter Miene brummte Mitzi lediglich, das
sei eine nette Idee, sie freue sich, dass ihnen allen die Häppchen
so gut geschmeckt hätten, und sie wolle es sich überlegen. Doch
insgeheim sprudelte ein kleiner Quell der Euphorie in ihrem Kopf,
und ein Freudenschauer lief ihr über den Rücken. Nach Grannys
Rezepten Partyhäppchen für andere Leute zubereiten? Warum war sie
nicht schon früher darauf gekommen? Tja, wahrscheinlich deshalb,
weil Kochen nicht zu ihren Stärken gezählt hatte – bis jetzt.
Warum eigentlich nicht? Sie würde ja nicht gleich
eine Firma aufmachen, oder? Es wäre kein richtiger Partyservice. So
etwas war garantiert mit massenhaft Papierkrieg und Vorschriften
verbunden. Wenn man in seiner eigenen Küche Speisen für den Verkauf
zubereitete, fielen die Brüsseler Bürokraten doch wie die Geier
über einen her, gefolgt von der britischen Gesundheitsbehörde und
vermutlich Millionen weiterer staatlicher Gängel-Inspektoren.
Aber wenn sie nur gelegentlich ein paar private
Aufträge annahm …
Hocherfreut lächelte sie in sich hinein. Granny
Westwards Rezepte könnten ihr Leben verändern. Das Geld wäre mehr
als willkommen, um ihre kleine Betriebsrente aufzubessern –
schließlich würde es noch Jahre und Aberjahre dauern, bis sie ihre
reguläre Altersrente bekam. Und sie hätte etwas zu tun. Vielleicht
war es ja der Beginn einer ganz neuen Laufbahn.
Mitzi verkniff sich ein allzu breites Grinsen und
versprach,
June, Sally und den anderen beim nächsten Treffen eine Liste mit
Grannys Spezialitäten und den jeweiligen Preisen mitzubringen,
damit sie wussten, was es alles gab. Außerdem nahm sie sich vor,
das heutige Treffen möglichst zügig zu Ende zu bringen, damit es
alle noch zu ihren Feuerwerkspartys schafften – und sie Tarnia
aufsuchen konnte.
»Heute Abend sind wir ziemlich gut vorangekommen,
was?«, sagte June und griff nach ihrem Mantel. »Dieser FFC war eine
tolle Idee von dir. Das gibt meinem Leben wieder Zweck und
Ziel.«
»Meinem auch«, stimmte Sally zu. »Es war toll, dass
du dich so engagiert hast. Von allein wären wir in einer Million
Jahren nicht darauf gekommen. Es hat schon eine Frau wie dich
gebraucht, die alles in die Hand nimmt und etwas auf die Beine
stellt. Aber du hast ja schon in der Schule gern andere
herumkommandiert.«
»Ja?« Mitzi runzelte die Stirn. »Ich dachte, ich
war still und fleißig und -«
»Das nennt man selektives Gedächtnis!«, lachte
June. »Du hattest ständig die tollsten Ideen und hast uns auf Trab
gehalten. Alle hingen an deinen Lippen. Wir dachten immer, du
würdest unsere erste weibliche Premierministerin werden. Kein
Wunder, dass Tarnia so eifersüchtig auf dich war.«
Mitzi zuckte zusammen, als Tarnias Name fiel. Sie
schüttelte den Kopf. »Tarnia war nicht eifersüchtig auf mich, du
lieber Gott! Sie war in der Schulzeit meine beste Freundin. Wir
haben förmlich aneinandergeklebt, wisst ihr noch? Ich habe sie
immer bewundert. Im Vergleich zu ihr kam ich mir – na ja –
unscheinbar und bieder vor. Eigentlich wollte ich sein wie sie. Ich
wollte trickreich und tollkühn sein wie sie.«
»Während sie«, erwiderte Sally, »tödlich
eifersüchtig war,
weil du so beliebt und so zuverlässig und zielstrebig warst. Du
hast nie aufgegeben. Weder bei Dingen noch bei Leuten. Und ja,
vielleicht war Tarnia viel durchtriebener als du, aber du hast
alles in Ruhe und irgendwie freundlich, aber doch unbeirrbar
durchgezogen. Alle haben dich gemocht, dir vertraut, sich auf dich
verlassen – und das ist auch heute noch so. Du hast deine Freunde
nie im Stich gelassen, während Tarnia überhaupt keine Freunde hatte
– außer dir.«
»Sie war das beliebteste Mädchen der ganzen
Schule«, protestierte Mitzi. »Alle wollten mit ihr befreundet
sein.«
»Ganz im Gegenteil!« June schüttelte den Kopf.
»Nicht zu fassen, Mitzi. Sag bloß, du hast nie begriffen, dass
schon damals alle Angst vor Tarnias scharfer Zunge und ihrer
sadistischen Ader hatten? Die anderen wollten in ihrer Bande sein,
damit sie ihnen nichts tat. Sie war schon damals eine absolut fiese
Schlange. Und Sally hat recht, sie hatte überhaupt keine richtigen
Freundinnen außer dir.«
Mann! Mitzi musste blinzeln. Nun waren sie schon
seit fast vierzig Jahren nicht mehr in der Schule, und sie hatte
nie geahnt … nie begriffen …
»Ach, hört doch auf! Wenn ihr so weitermacht, tut
sie mir noch leid – und Mitleid ist so ungefähr das Letzte, was
Tarnia verdient hat. Auf jeden Fall muss ich wegen unserer Pläne
noch mal mit ihr sprechen, also warum nicht gleich? Sollen wir dann
für heute Schluss machen?«
June und Sally nickten.
Neben den allgemeinen Aktivitäten hatten sie noch
einen Weihnachtsbasar für wohltätige Zwecke organisiert, eine
einmalige Dorf-Weihnachtsfeier mit Showeinlagen und ein
Weihnachtsessen für alle aus Hazy Hassocks und Umgebung, die an den
Feiertagen allein waren.
Fast ununterbrochen kamen neue Ideen auf, und das
Gemeinschaftsgefühl wurde immer intensiver, genau wie Mitzi es sich
gewünscht hatte.
Doch Tarnia konnte ihnen alles vermasseln.
Mitzi stand auf und klatschte in die Hände. Wie
immer nahm kein Mensch Notiz von ihr.
»Hier.« June wühlte unter dem Tisch herum, kam mit
gerötetem Kopf wieder nach oben und reichte ihr eine Pfeife. »Das
hilft. Hat meiner Ma gehört. Sie hat in der Grundschulkantine
gearbeitet, weißt du noch? Damit hat sie die kleinen Strolche zur
Räson gebracht. Ich hab sie zur Erinnerung behalten. Hab sie immer
in der Handtasche, falls mich mal einer vergewaltigen will.«
Mitzi verkniff sich jeglichen Kommentar. Sie setzte
die Pfeife an die Lippen und ließ einen langen, schrillen Pfiff
ertönen.
Bingo!
Das Stimmengewirr verstummte auf der Stelle. Wie
vom Donner gerührt starrten alle zur Bühne. »Äh – tut mir leid,
wenn euch das lebhaft an Pudding mit Klümpchen und kaltes
Kohlgemüse erinnert hat … Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit. Ich
glaube, wir haben heute Abend wirklich viel geschafft, aber
bestimmt haben wir alle auch zu Hause noch etwas zu tun. Ich maile
die Details an die Bücherei, damit sich jeder ein Exemplar
ausdrucken kann, und dann sehen wir uns nächsten Mittwoch wieder.
Viel Spaß beim Feuerwerk.«
Einige klatschten. Manche nickten. Lavender und
Lobelia winkten.
Mitzi verabschiedete sich, streifte ihre Handschuhe
über, stellte den Kragen hoch und wappnete sich gegen die heftigen
Explosionen vor der Tür.
In Gedanken noch bei den Enthüllungen über Tarnia,
fummelte Mitzi in der frostigen Finsternis am Türschloss ihres
Autos herum. Immer wieder erhellten Raketen in allen
Regenbogenfarben den Himmel und überzogen den Parkplatz mit einem
Kaleidoskop aus Lichtern und Lärm.
»Moment mal!« Laut schnaufend kam der Filzhutmann
hinter ihr aus dem Gemeindesaal gestapft. »Fährst du jetzt direkt
zu Lady Protz Snepps?«
Mitzi nickte.
»Ah, gut. Kannst du ihr gleich sagen, dass wir den
Saal von jetzt bis Weihnachten jeden Freitag und Samstag brauchen?
Und vielleicht noch an ein paar Abenden dazwischen? Die American
Drama Group hat sich etwas ganz Besonderes vorgenommen, und dafür
müssen wir sehr oft proben. Es ist nicht mehr viel Zeit, um es bis
zum großen Abend hinzukriegen …«
»Nein, das Jahr neigt sich rapide dem Ende
entgegen. Aber wenn ihr nur ein Konzert mit Weihnachtsliedern geben
oder eine Lesung mit Weihnachtsgeschichten veranstalten wollt,
müsst ihr ja nicht so viel auswendig lernen, oder? Die
Weihnachtsgeschichte und die althergebrachten Lieder kennt doch
jeder.«
Der Filzhutmann stöhnte. »Ach herrje, Mitzi. Die
Weihnachtslieder und die Lesung dieser ollen Kamelle mit dem Stern
übernimmt der Pfarrer, wie immer. Wir wollen ihm doch keine
Konkurrenz machen, oder? Nein, wir wollen zum festlichen Anlass
eine Revue mit Gesang und Tanz einstudieren. Den Leuten in Hazy
Hassocks zeigen, dass wir alten Hasen es immer noch draufhaben,
sozusagen.«
Mitzi runzelte die Stirn. Im Fitte-Fünfziger-Club
gab es eine Menge Möchtegern-Musiker, -Sänger und -Schauspieler.
Aber die Zeit reichte wohl kaum, um mit ihnen bis Weihnachten
etwas künstlerisch Anspruchsvolles auf die Beine zu stellen,
oder?
»Klingt ehrgeizig. Äh – willst du das Ganze
organisieren?«
Der Filzhutmann nickte. »Klar, ich bin Autor,
Produzent und Regisseur. Ich bearbeite Sachen gern in meinem Stil,
weißt du? Hab ich früher oft gemacht, als ich noch bei den
Wasserwerken war. Hast du damals unsere Produktion von Oliver! gesehen? Die Leute hatten Tränen in den
Augen.«
Mitzi konnte sich den Filzhutmann nicht als
begnadeten Musical-Regisseur vorstellen, und so nickte sie nur.
»Nein, hab ich nicht gesehen, aber ich – äh – kann es mir
vorstellen. Das hast du also geplant – eine Aufführung von
Oliver!?«
»Mann! Nein!« Der Filzhutmann war pikiert. »Noch
viel besser. Natürlich hätte ich am liebsten meine Version von
Titanic – das Musical auf die Bühne
gebracht, aber ich sehe ein, dass eine Aufführung im Gemeindesaal
ein bisschen problematisch werden könnte …«
Mitzi biss die Zähne zusammen.
Der Filzhutmann strahlte sie an. »Deshalb haben wir
uns für Hair entschieden.«
Mitzi prustete vor Lachen. Als sie begriff, dass er
das ernst gemeint hatte, tarnte sie ihre Reaktion als Hustenanfall.
»Oh … ähm … wie schön … okay, jetzt muss ich aber los.«
Obwohl sie vor aufgestauter Lachlust fast platzte,
schaffte sie es irgendwie, die Autotür zu öffnen. Erst als sie
schon auf halbem Weg zu Tarnia war, ließ sie ihrem Lachen freien
Lauf.
Hair? Die Fitten Fünfziger
wollten Hair aufführen?
Oh Gott – auf diesen engen Sträßchen musste sie
vorsichtig sein, dabei konnte sie kaum etwas sehen, weil ihre
Augen voller Lachtränen standen. Vorsicht, dachte sie, vielleicht
solltest du ein bisschen langsamer fahren. Das Feuerwerk war
bombastisch. Es war, als führe man über einen Truppenübungsplatz,
auf dem mit bunter Munition geschossen wurde. Der Himmel war
überzogen von farbigen Kugeln, Leuchtstreifen und glitzernden
Lichtfontänen. Obwohl Mitzi alle Fenster geschlossen hatte und
»Beggar’s Banquet« laut aus der Stereoanlage dröhnte, war das
Geballer ohrenbetäubend.
Aber ausgerechnet Hair! Du
lieber Gott! Keiner der Beteiligten war unter fünfzig! Und auch
wenn sie noch so sehr dafür eintrat, dass die Kinder der
Nachkriegszeit das Recht hatten, sich nach Lust und Laune selbst zu
verwirklichen, zog sogar sie in Anbetracht der vielen grauen
Strähnen und faltigen Gesichter eine Grenze. Außerdem enthielt das
Stück doch akrobatische Elemente, oder? Noch dazu war die Heizung
im Gemeindesaal jämmerlich schlecht. Wahrscheinlich würde die
Hälfte von ihnen an Unterkühlung sterben. Und … guter Gott!
Was in aller Welt hatte sie da losgetreten?
In Mitzis Kopf drehte sich alles. Es war aber auch
ein bisschen viel Neues auf einmal: die Wahrheit über Tarnia, ein
geriatrisches Hippie-Musical und der Partyservice mit Grannys
Landfrauensnacks. Was an einem einzigen Abend nicht alles geschehen
konnte! Sie drehte Mick und seine Jungs lauter und sang mit.
Die kurze Strecke zu Tarnias Türmchenpalast wurde
immer schöner, je mehr Dorfbewohner ihre Raketen zündeten. Mitzi
hatte die Feuerwerksnacht seit jeher geliebt und wollte sich später
unbedingt noch mit dem Rest der Familie auf dem Dorfanger treffen,
wo alljährlich die Strohpuppe von
Guy Fawkes verbrannt wurde. Eigentlich hätte sie zu diesem Anlass
gern etwas zu essen vorbereitet, doch nach Halloween hielt sie es
für klüger, empfindlichen Mägen und sensiblen Gemütern eine kleine
Erholungspause zu gönnen.
Halloween – auch dieser Abend war eine Offenbarung
für sie gewesen.
Sie gestattete sich ein zufriedenes kleines
Schmunzeln. Alle hatten gesagt, es sei die beste Party gewesen, die
sie je erlebt hatten. Nach dem Mumpitz mit den Äpfeln hatte Lu bis
in die frühen Morgenstunden mit Shay getanzt – zugegebenermaßen mit
Carmel direkt daneben, doch sie schien trotzdem rundum zufrieden
gewesen zu sein -, während Doll und Brett bis zum nächsten Tag um
die Mittagszeit nicht aus Dolls altem Zimmer herausgekommen waren.
Und Joel Earnshaw war geblieben und hatte ihr beim Aufräumen
geholfen.
Nicht, dass sie sich in der Richtung irgendetwas
einbildete, doch es war einfach wunderbar
gewesen, mit einem gutaussehenden Mann zusammen zu sein, der nicht
ihr Exmann war. Und das Sichkennenlernen war immer so herrlich.
Dank der Kürbisküsse und Clydes alkoholischer Mixturen waren alle
Hemmungen bereits früh am Abend geschwunden, sodass sich ein Flirt
wie von selbst ergab. Und am Ende hatten alle Beteiligten das
Gefühl, sich schon ewig zu kennen.
Joel hatte gesagt, er werde vielleicht zum
Dorf-Feuerwerk kommen, also brauchte sie sich nicht mit der Frage
zu quälen, wann oder ob sie ihn wiedersehen würde, was sie
allerdings inständig hoffte. Natürlich konnte sie jederzeit die
Praxis aufsuchen, doch ihre nächste zahnärztliche Untersuchung
stand erst in drei Monaten an, und sie war Patientin von Dr.
Johnson. Außerdem – was noch wichtiger war –
wollte sie auf gar keinen Fall, dass Joel sie in seiner
Eigenschaft als Zahnarzt sah, mit angsterfüllten Augen hilflos auf
dem Stuhl liegend, spuckend und gurgelnd und den Mund voller
Amalgam.
Aber sie würde sich natürlich ohnehin nicht mit ihm
verabreden , weder in beruflichem noch in
privatem Rahmen, ermahnte sie sich selbst, während sie vor Tarnias
filigranem schmiedeeisernem Tor anhielt. Nein, bis Joel wieder
nüchtern war, hatte er die Halloween-Party sicher komplett
vergessen.
Egal, ihre Überlegungen in Bezug auf Joel,
Hair und die Gründung eines Partyservice
mit dubiosen Kräuterrezepten konnten erst einmal warten. Zuerst
musste sie – ihren Fitten Fünfzigern zuliebe – unbedingt Tarnia
gnädig stimmen. Sie stieg aus dem Wagen und huschte schaudernd vor
Kälte auf die Sprechanlage zu.
Ehe sie dort anlangte, trat eine kleine, gedrungene
Gestalt aus dem Dunkeln.
»Haben Sie eine Einladung?«
Mitzi äugte nach unten in die Finsternis. Hatte
Tarnia sich dem Herrn der Ringe
angeschlossen und begonnen, Trolle als Dienstboten
einzustellen?
Das massige Bündel wiegte sich auf den Fersen. »Die
Sprechanlage ist abgeschaltet. Heute Abend haben nur geladene Gäste
Zutritt. Zur Feuerwerksparty. Wenn Sie keine Einladung haben,
kommen Sie nicht rein. Ach, hallo, Mitzi.«
Ein Troll mit übersinnlichen Fähigkeiten?
Typisch Tarnia, nur die absolute Elite des
verfügbaren Troll-Personals einzustellen.
»Äh – hallo?«
»Ich bin’s, Mitzi. Gwyneth. Eine Freundin von Lu.
Und
von Hedley und Biff Pippin natürlich. Du erinnerst dich doch an
mich, oder?«
Über ihnen explodierte ein Sperrfeuer aus
grellweißem Licht, was Mitzi gerade genug Zeit ließ, um das Gesicht
der achtzigjährigen Gwyneth Wilkins auszumachen, einer der
Informantinnen der Pippins aus dem Nachbardorf Fiddlesticks, die in
Sachen Tierschutz spionierten. Gwyneth und ihre Freundin Big Ida
Tomms waren berüchtigt dafür, mit wesentlich mehr Einsatzfreude als
Treffsicherheit zu glänzen. Offenbar waren sie allein für die
Fehlinformation verantwortlich gewesen, die zu Lulus jüngstem
Zusammenstoß mit dem Gesetz geführt hatte.
»Ach, hallo, Gwyneth«, überschrie Mitzi eine
Big-Booma-Bazooka-Rakete. »Schön, dich zu sehen. Ich wusste nicht,
dass du für Tarnia arbeitest.«
»Na ja – tu ich normalerweise auch nicht«, plärrte
Gwyneth zurück. »Aber sie hat unserer ›Rettet die Wühlmäuse‹-Gruppe
eine dicke Spende gemacht, also konnte ich nicht gut Nein sagen,
als sie Freiwillige gebraucht hat, die ihr Tor bewachen,
oder?«
Mitzi fand, dass sie das nicht nur gekonnt hätte,
sondern unbedingt hätte tun sollen, verkniff sich aber eine
entsprechende Bemerkung und zuckte nur beiläufig die Achseln.
Gwyneth duckte sich, als der nächste Flugkörper
über sie hinwegzischte. »Oh Mann! Das war knapp. Was hab ich gerade
gesagt? Ach ja, wegen der Arbeit für Tarnia … Big Ida und ich haben
schon bei ihrer Halloween-Party mitgeholfen, zu der übrigens auch
dein Lance mit seiner Zicke erschienen ist. Und wir sind bereits
für ihre nächste Party in zwei Wochen und für ihre Weihnachtsfeier
gebucht. Sie kann sehr überzeugend sein, die junge Tarnia …«
Mitzi nickte. Sie kannte Tarnias Methoden nur zu
gut. Sie nutzte die Dorfbewohner aus und verbrämte das Ganze so
geschickt, dass es aussah, als täte sie den Leuten einen
Riesengefallen. In der Schule war es genauso gewesen. Vielleicht
hatten June und Sally recht gehabt. Voller Unbehagen erinnerte sich
Mitzi, wie Tarnia einem die Stifte abgebrochen und sich dann
erboten hatte, einem einen von ihren zu leihen – gegen Gebühr. Oder
sie riss einem Seiten aus dem Lehrbuch und knöpfte einem
anschließend das Essensgeld für die ganze Woche ab, damit man mit
in ihr Buch schauen durfte. Oder sie kippte einem Milch über die
Hausaufgaben und ließ einen blechen, wenn man ihre abschreiben
wollte. Oder … ach, es gab wirklich unzählige Beispiele.
»Ich habe keine Einladung.« Mitzi bückte sich, um
Gwyneths Ohren näher zu sein. Allerdings wusste sie nicht, ob es
etwas nützte, da Gwyneth unter einer Männermütze mit wedelnden
Ohrklappen noch ein wollenes Kopftuch trug. »Aber ich wollte nur
kurz mit Tarnia sprechen. Wegen Dorfangelegenheiten. Ich will gar
nicht zur Party.«
Gwyneth sah etwas verlegen drein. »Also, ich weiß
nicht …«
»Du schuldest mir noch einen Gefallen, Gwyneth. Du
hast unserer Lu mit dieser Falschinformation über Jeffrey’s
Sport-und-Trekking-Store und die Hermeline eine Menge Ärger
beschert.«
»Ah … stimmt … Na gut, dann komm, Mitzi. Tarnia ist
noch drinnen und macht sich zurecht. Die Party beginnt erst um zehn
Uhr auf der großen Wiese. Bis dahin sind die zu früh Gekommenen in
den Stallungen und trinken was.«
»Was für Stallungen? Tarnia hat doch in ihrem
ganzen Leben noch auf keinem Pferd gesessen, oder? Haben sie jetzt
tatsächlich Pferde?«
»Frag mich nicht.« Gwyneth zuckte in ihrem
Monstermantel die Achseln. Der Mantel regte sich nicht. »Glaub ich
aber kaum. Sie haben auch eine Orangerie ohne Orangen und eine
Laube ohne jede Spur von Laub. Also würd’s mich wundern, wenn sie
Pferde hätten. Hör mal, Mitzi, wenn du ins Haus willst, dann geh
lieber gleich. Da kommt schon das nächste Auto … mach schnell –
spring rein.«
Mitzi ließ den Mini vor dem Tor stehen, um für eine
schnelle Flucht gerüstet zu sein, und sprang.
Auf der großen Wiese hinter Tarnias Palast des
schlechten Geschmacks loderte ein Funkenfeuer von den Ausmaßen
eines Wohnblocks. Dunkle Gestalten schlichen herum und stellten die
Rohre für das Feuerwerk auf, während andere sich an einem riesigen
Grill zu schaffen machten. Die geplante Veranstaltung auf dem
Dorfanger von Hazy Hassocks nahm sich im Vergleich dazu geradezu
amateurhaft aus.
Tarnia öffnete die Tür und machte keinen Hehl
daraus, dass sie Mitzi nicht gern sah.
»Du bist nicht eingeladen.«
»Ich weiß«, brüllte Mitzi, während über ihr die
Massenvernichtungswaffen der Jugendlichen aus der Bath Road
explodierten. »Ich bin auch gleich wieder weg. Es geht nur um den
Gemeindesaal und die Grünanlagen …«
Tarnia seufzte. »Ach du lieber Gott. Ich habe keine
Zeit, mir das alles noch mal anzuhören. Habe ich nicht erlaubt,
dass ihr euch dort trefft – sogar gegen meine innerste Überzeugung?
Was wollt ihr denn noch?«
»Etwas Schriftliches – einen Mietvertrag für ein
Jahr oder so. Weißt du, wir haben vieles geplant, vor allem für
Weihnachten« – Mitzi beschloss blitzschnell, die Sache mit
Hair streng geheim zu halten -, »und alle
freuen sich schon unheimlich
darauf. Ich will nicht, dass du es dir noch mal anders überlegst.«
Sie schloss die Augen, als die nächste Rakete über ihr explodierte.
»Kann ich kurz reinkommen?«
»Nein. Ich habe viel zu viel um die Ohren. Heute
Abend kommt der ganze Rotary Club, dazu noch der Stadtrat und
einige Herrschaften mit Titeln vor dem Namen, ganz zu schweigen von
den Soames-Hartleys und den Pugh-Padgetts und -«
»Duncan Didsbury und ein Becher
Erdbeerjogurt?«
Tarnia erblasste unter ihrem orangefarbenen Teint.
»Ich hätte dieses verfluchte Polaroid-Foto verbrennen sollen. Okay
– aber nur ganz kurz. Und nur bis in den Flur.«
Der Flur und Tarnia passten an diesem Abend perfekt
zusammen.
In ihrer engen pinkfarbenen Lederhose, den goldenen
High Heels und einer weiß glänzenden Bomberjacke hätte man Tarnia
auf einen Sockel stellen können, und sie wäre niemandem
aufgefallen. Es wäre genau wie in einer Glitzerversion der
Wimmelbilderbücher gewesen, die Lu und Doll als Kinder so geliebt
hatten.
»Wie bitte?« Mitzi lächelte Tarnia an. »Das hab ich
jetzt nicht mitgekriegt.«
»Ich habe gesagt, ja, ich lasse von unseren
Anwälten einen Mietvertrag aufsetzen – aber nur, wenn ich mir
vorher ansehen kann, was ihr dort treibt, und wenn eure
schrecklichen Dorfgeschichten nicht meine Pläne
durchkreuzen.«
Wahnsinn! Hatten die Überredungstörtchen etwa doch
eine dauerhafte Wirkung? War Tarnias Gehirn nachhaltig umgepolt
worden?
Als sie merkte, dass ihr der Mund offen stand,
schloss Mitzi schnell die Lippen. »Oh, gut. Ja, das wäre super.
Vielen
Dank. Dann will ich dich nicht länger aufhalten. Ruf mich an, wenn
du mit deinem Anwalt gesprochen hast, dann treffen wir uns und
leisten die nötigen Unterschriften. Aber – ähm – woher der
Sinneswandel?«
Tarnia rechte sich mit goldglitzernden Krallen
durch das stachlige schwarze Haar und lächelte selbstzufrieden.
»Von wegen Sinneswandel, Herzchen. Freiwillig würde ich den Pöbel
nicht im Umkreis von tausend Meilen um mein Zuhause dulden. Als du
das erste Mal gekommen bist und mich darum gebeten hast – damals,
als du mir diese leckeren Törtchen mitgebracht hast -, war ich
total dagegen. Aber später, nachdem du mich überredet hattest und
ich Marquis alles gestehen musste, hat mich der kluge Junge darauf
hingewiesen, dass sich das auf unserer Liste der guten Taten sehr
gut machen würde.«
»Gute Taten?«
Tarnia verzog die Miene. »Ach, mein Gott – du weißt
schon. Wohltätigkeit. Großherzig sein. Spenden verteilen. Dienst an
der Gemeinschaft tun. Soziales Engagement zeigen.«
»Du? Du und Schnösel-Mark?
Gute Taten?«
»Marquis!« Tarnias Augen
wurden schmal. »Und, ja, was soll daran so seltsam sein? Hör mal,
jahrelang hat man bescheuerten Fußballspielern, Popstars und
Leuten, die für dämliche Wohltätigkeitsorganisationen in die
Kameras grinsen, Orden und Titel nachgeworfen – und wo bleiben wir?
Wir geben großartige Partys und haben im Alleingang das Flair der
ganzen Gegend angehoben – und was passiert regelmäßig, wenn die
neue Liste rauskommt? Nichts, überhaupt nichts!«
Mitzi konzentrierte sich mit aller Kraft auf die
pinkfarbenen
Fliesen unter ihren Stiefeln. Wenn sie jetzt laut herauslachte,
war womöglich alles verloren.
Tarnias Stimme wurde noch schriller. »Deshalb
arbeiten wir an unserem Profil. Euer billiger Tingeltangel im
Gemeindesaal wirkt sich garantiert enorm zu unseren Gunsten aus –
solange du das Gesindel fernhältst, wenn wir wichtige Leute hier zu
Gast haben, verstanden?«
Mitzi hatte verstanden. Tarnia und Schnösel-Mark
wollten die B-Promis von Hazy Hassocks werden. Einst geschmäht,
arbeiteten sie nun sorgfältig an ihrem Image, und wenn sie auch
nicht gerade die Heiligsprechung anstrebten, so hofften sie doch
zumindest auf handfeste öffentliche Ehrungen.
Wäre es nicht so traurig gewesen, hätte sie
gelacht.
»Das verstehe ich voll und ganz. Ich war schon
immer der Meinung, dass der Zweck die Mittel heiligt. Danke … Ach,
und wir planen einiges für Weihnachten, daher brauchen wir den Saal
in den nächsten zwei Monaten praktisch rund um die Uhr. Bist du
damit einverstanden? Tarnia? Tarnia?«
»Was? Ja, oh ja – wie du meinst …« Tarnia
schmachtete mit unverhohlener Wonne einen groß gewachsenen
schwarzhaarigen Mann mit sehr blauen Augen an, der soeben in der
Tür erschienen war und von dem vielen Pink und Gold regelrecht
geblendet zu sein schien.
Mitzi zog die Brauen hoch. Tarnias Lustknabe?
Bestimmt nicht – er war viel, viel zu gut für die Botox-Queen.
Natürlich nicht so umwerfend wie Joel Earnshaw, aber doch enorm
attraktiv.
Tarnia war bereits zu ihm hinübergeschlendert und
klammerte sich nun verspielt wie eine junge Raubkatze mit ihren
goldenen Krallenfingern in den Ärmel seiner Lederjacke.
»Fertig?« Sie schlug die Augen zu ihm auf und löste
dabei
mit ihren falschen Wimpern einen kleinen Wirbelsturm aus. »Keine
Probleme?«
»Überhaupt keine.« Er sah sie eher verängstigt als
verliebt an. »Es ist alles fertig. Wir können loslegen, sobald Ihre
Gäste da sind, Mrs Snepps.«
Also war er doch kein Liebhaber, es sei denn, sie
spielten Lady Chatterley.
Tarnia klimperte weiter mit den Wimpern, ehe ihr
wieder einfiel, dass sie nicht allein waren.
»Ah, Mitzi«, sagte sie, während sie den schönen
Mann praktisch quer durch den Flur zerrte. »Darf ich dir meinen
ganz persönlichen Pyrotechniker vorstellen? Das ist Guy Devlin von
The Gunpowder Plot. Er hat das Feuerwerk für meine heutige Party
entworfen: ein einstündiges Event – mit aufeinander abgestimmten
Farben, einer ausgeklügelten Choreographie und Begleitmusik. Es
wird eines der größten Feuerwerke der ganzen Gegend, nicht wahr,
Guy?«
Guy Devlin lächelte Mitzi verständnisvoll zu und
nickte.
The Gunpowder Plot. Natürlich. Tarnia musste
selbstverständlich den größten Raketenhersteller und
Feuerwerksplaner ganz Südenglands engagieren, oder? Die heutige
Show kostete Tarnia und Schnösel-Mark garantiert Tausende und
Abertausende Pfund. Bestimmt hatten sie auch einen Partyservice für
den Grill engagiert. Und Kellner, die den Jahrgangssekt
ausschenkten. Und eine Menge handverlesener Gäste, die einander
nicht kannten und gelangweilt partyübliche Höflichkeitsfloskeln
austauschten.
Umso anziehender und heimeliger erschien ihr nun
die bevorstehende Feier der Dorfbewohner von Hazy Hassocks, die
ihre Böller und Raketen in den letzten Wochen nach und nach in
Molly Coddle’s Stargazer Shop in Bagley-cum-Russett
gekauft hatten. Es war ein schlichtes Vergnügen, bei dem man in
der Glut des Funkenfeuers Kartoffeln garte und ein paar Becher von
Clydes selbstgemachtem Wein leerte.
Mitzi ging zur Tür. »War nett, Sie kennenzulernen,
Mr Devlin. Tarnia, ich melde mich dann demnächst in Sachen
Gemeindesaal – aber vielen Dank schon mal für deine Erlaubnis. Sag
mir Bescheid, wenn die Papiere fertig sind. Ach, und viel Spaß auf
deiner Party.«
»Ja, ja … und dir auch.«
Oh, ich habe sicher Spaß, dachte Mitzi, als sie
sich in ihren Mantel schmiegte und die Einfahrt hinuntereilte.
Glaub mir, ich werde mich amüsieren. Und ich kann es gar nicht
erwarten, was der Abend noch alles an Überraschungen für mich
bereithält.