16. Kapitel
Als ich dich heute Abend
zum Essen einladen wollte«, flüsterte Joel in der frostigen
Finsternis des Gemeindesaals, »hatte ich mir das eigentlich ein
bisschen anders vorgestellt.«
»Ja, ich weiß. Ich auch. Tut mir wirklich leid«,
flüsterte Mitzi zurück und reichte ihm eins von Lavenders und
Lobelias speziellen Fischpaste-Sandwiches mit Sardinengeschmack.
»Aber das ist doch auch ein Spaß, oder nicht?«
»Und mal ganz was anderes«, sagte Joel mit
zustimmendem Nicken. »In solchen Dingen komme ich seit meinem
ersten Besuch in Hazy Hassocks immer mehr auf den Geschmack – im
Gegensatz zu den Sandwiches.«
Mitzi kicherte, und der Dansette-Plattenspieler
begann nun ächzend mit dem »Electric Blues« von Ragni, Rado und
MacDermot.
Die vergangene Woche, seit Dolls und Bretts
weltbewegender Bekanntmachung, war eine der merkwürdigsten ihres
Lebens gewesen. Die Erfahrung, Großmutter werden zu sollen und
genau zur gleichen Zeit so närrisch zu sein, sich zu verlieben,
hatte ihre Welt vollkommen auf den Kopf gestellt.
Am Guy-Fawkes-Abend im Faery Glen hatte Mitzi nicht
gewusst, ob sie lachen oder weinen sollte. Natürlich freute sie
sich riesig für Doll und Brett, aber – da sie sich doch Joel
gegenüber gerade so aufgekratzt fühlte wie ein Teenager – diese
Ankündigung hätte vom Zeitpunkt her nicht unpassender kommen
können.
Natürlich hatte sie auch da schon gewusst, dass sie
viel zu alt für ihn war. Eine Liebesbeziehung kam gar nicht
infrage. Jedem halbwegs vernünftigen Menschen musste das klar sein.
Auch hatte er keinerlei Interesse in dieser Richtung bekundet. Doch
nach ihrer Halloween-Party hatte sie sich eine kleine Träumerei
erlaubt – oder auch zwei oder drei -, wie es eventuell sein könnte,
wenn man sich über Konventionen hinwegsetzte und Wunder geschähen
und Wünsche wahr würden.
Dann war der Todesstoß gekommen.
Großmutter.
Okay, es war reichlich selbstsüchtig, aber das
klang doch einfach ganz schrecklich alt! Sosehr sie auch das Gefühl
haben mochte, im Geiste noch zweiundzwanzig zu sein und jugendlich
im Aussehen, ihrer Kleidung und, na ja, allem eben – so gab es doch
wohl kaum etwas Tödlicheres für eine aufkeimende Romanze mit einem
atemberaubenden jungen Mann, als »Oma« genannt zu werden!?
Als sie an jenem Abend bei Otto und Boris am
lodernden Kaminfeuer gesessen, Doll und Brett umarmt und versucht
hatte, das alles zu verdauen, war ihr klar geworden, dass sie sich
eben damit zufriedengeben musste, Joels Gesellschaft zu genießen.
Sie würde das Beste aus der Freundschaft mit ihm machen, aber sich
weitere alberne Ideen von beiderseitiger Liebe aus dem Kopf
schlagen müssen. Während sie kurz zuvor noch den ganzen Weg von der
Gemeindewiese bis zum Faery Glen wie auf Wolken gegangen war, war
sie nun mit lautem Plumps wieder auf dem Boden der Tatsachen
gelandet.
Nicht dass Mitzis Füße oder ihr Inneres sonderlich
lange am Boden geblieben wären. Als sich die Nachricht von dem Baby
und der Hochzeit am Heiligabend erst in und um Hazy Hassocks zu
verbreiten begann, kam es ihr vor, als würde sie von einem
Wirbelwind erfasst wie Dorothy in »Der Zauberer von Oz«.
Da sie nur sechs Wochen Zeit hatte, um die Hochzeit
zu organisieren – im ganz kleinen Rahmen, hatten Doll und Brett
betont, mit Empfang im Faery Glen -, wie auch die Festaktivitäten
der Fitten Fünfziger, ganz zu schweigen davon, dass sie mit Grannys
Leckereien das Catering übernehmen sollte, schwirrte Mitzi der Kopf
wie nie zuvor.
Jahrzehntelang hatte sie als Mr Dickinsons rechte
Hand in der Bank mühelos Besprechungen und Termine und Konferenzen
und Reisebuchungen und Urlaube und Seminare und unzählige andere
Dinge organisiert. Sie hatte anhand von Mr Dickinsons drei
Notizkalendern für einen reibungslosen Ablauf gesorgt. Nie hatte es
Überschneidungen oder versäumte Termine oder irgendein
Durcheinander gegeben. Alles hatte immer wie am Schnürchen
geklappt. Sie hatte effizient gearbeitet, war gelassen, besonnen
und tüchtig gewesen.
Was in aller Welt war geschehen? Ein paar Monate
später hatte sie nur noch ihr Privatleben zu organisieren und war
zu nichts mehr zu gebrauchen.
Ach ja, zurück in die Wirklichkeit, dachte sie –
was im Moment bedeutete, dass sie allein mit Joel im abgedunkelten
kalten und freudlosen Gemeindesaal von Hazy Hassocks saß, während
eine blecherne Version von »Aquarius« aus dem Mono-Lautsprecher
schepperte.
Ersteres war herrlich, Letzteres eher weniger
…
»Bitte entschuldige das hier«, sagte Mitzi leise.
»Ich hatte
mich wirklich darauf gefreut, heute Abend mit dir nach Winterbrook
zu fahren und bei Lorenzo zu essen. In letzter Zeit habe ich ein
Gedächtnis wie ein Sieb. Ich hatte das Vorsprechen des FFC völlig
vergessen – und es gab keine Möglichkeit, mich da
rauszuwinden.«
»Kein Problem«, sagte Joel. »Dann gehen wir eben
nächstes Mal zu Lorenzo. Und wir können uns später immer noch etwas
zum Mitnehmen holen. Ich weiß ja, dass du bis zum Hals in
Hochzeitsvorbereitungen steckst.«
Mitzi nickte. »Wie kommt Doll bei der Arbeit
zurecht?«
»Erstaunlich gut. Ich und Viv und Tammy und Mr
Johnson machen uns ihretwegen halb verrückt und versuchen sie dazu
zu bewegen, etwas langsamer zu treten und auch mal die Füße
hochzulegen. Aber sie lacht nur und meint, in diesem Stadium sei
sie noch lange nicht und sowohl die Hochzeit als auch die Geburt
wären doch keine große Geschichte.«
»Ich weiß, dass sie vorhat, so lange zu arbeiten,
bis die Wehen einsetzen«, zischte Mitzi. »Und das wird sie
wahrscheinlich auch.«
Der Plattenspieler war inzwischen zu »Ain’t Got No
Grass« weitergeruckelt.
Joel grinste. »Sie erklärt uns allen, wir sollen
ganz cool bleiben.«
»Sie war schon immer so«, sagte Mitzi, während sie
tapfer an einem Sandwich kaute. »Nüchtern, ruhig und gefasst. Gott
weiß, was los wäre, wenn Lu sich in dieser Lage befände. Der dritte
Weltkrieg mindestens. Und bitte nimm noch ein Sandwich. Komm schon,
Lav und Lob haben sie extra gemacht.«
»Na gut, wenn das so ist, sollte ich mich wohl
ermannen …« Joel bediente sich aus den Tiefen des Silberpapiers.
Der Filzhutmann stolzierte in den einzig
beleuchteten Bühnenbereich und blinzelte angesäuert zu ihnen herab.
»Ich muss doch im Zuschauerbereich um Ruhe bitten! Du solltest für
mich Notizen machen und nicht schwätzen, Mitzi! Wir sind beim
Casting gerade an einem kritischen Punkt – und euer verdammtes
Foliengeknister und Schwätzen und Glucksen wie alberne Teenager
bringt uns ganz raus!«
Klar doch, dachte Mitzi übermütig, da hat der
Filzhutmann ausnahmsweise mal vollkommen recht. Sie kam sich noch
immer wie ein verliebter Teenager vor. Das war natürlich völlig
verrückt und würde niemals zu einem Happyend führen, aber herrlich
war es trotzdem.
Sie war so aufgekratzt gewesen wie lange nicht, als
Joel sie zum Abendessen bei Lorenzo eingeladen hatte. Und schlimmer
enttäuscht, als sie sich eingestehen mochte, als ihr klar wurde,
dass sich diese Verabredung mit dem Vorsprechen für die
Rollenbesetzung in Hair überschnitt.
Nicht dass es da wirklich einen Wettbewerb gegeben
hätte.
Sie versuchte nicht zur Bühne zu schauen, als die
Hair-Schallplatte zum Song Sodomy vorrückte.
Immerhin hatte Joel sich willig bereiterklärt, sie
zum Gemeindesaal zu begleiten. Er hatte gesagt, er freue sich
darauf, den Abend mit ihr zu verbringen, und auch wenn es bei
Lorenzo vielleicht netter gewesen wäre, sei ihm der Gemeindesaal
ebenso recht.
Das war so eine Aussage, auf die hin sie sich
gleich noch mehr in ihn verliebte, verflixt noch mal.
Anstelle von Lorenzos
Knoblauch-Kräuter-Rotwein-Atmosphäre bei Kerzenlicht saß sie also
hier in dem feuchtkalten Saal auf einem Plastikstuhl mit einem
DIN-A4-Notizblock, ihrem Laptop, unzähligen vollgekritzelten
Merkzetteln
und natürlich Joel und versuchte alles unter einen Hut zu
bringen.
»Gib mir doch mal die Futtersachen rüber«, zischte
Joel mit halbem Blick zur Bühne und dem Filzhutmann mit einer
Auswahl der Fitten Fünfziger, die als Hippies für The Tribe gecastet wurden. »Nein, nicht noch mehr
von diesen schrecklichen Sandwiches – wer in aller Welt mischt denn
Sardinenpaste mit Piccalilli? Nein, ich meine die Liste mit den
Rezepten deiner Großmutter samt den Preisangaben. Danke. Okay –
dann tippe ich den Kram mal in den Laptop, während du die
Hochzeitsangelegenheiten organisierst und für Herrn Hitler-mit-Hut
da oben Notizen machst.«
»Ruhe!«, brüllte der Filzhutmann sie an, während
einige der weniger begabten Fitten Fünfziger und der
Dansette-Plattenspieler durch »Hare Krishna« eierten. »Hier sind
Künstler bei der Arbeit!«
Mitzi starrte mit aller Kraft auf den
Fußboden.
»Deine Schultern beben«, flüsterte Joel. »Er wird
es merken.«
Mitzi biss sich fest auf die Lippen und schniefte
die Lachtränen hoch. Es fiel schwer, mit anzusehen, wie ein Dutzend
Rentner mit Hüten und Schals, in Reißverschluss-Stiefeln und eng
zugeknöpften Mänteln auf jugendliche Freigeister machten. Und es
konnte nur noch schlimmer kommen.
Lav und Lob hatten sich bunte Tücher um ihre
Fahrradhelme gebunden und machten einen solchen Aufstand, weil sie
übergangen worden waren, dass sie noch als Zusatz-Hippies für
The Tribe ernannt wurden, unter der
Bedingung, dass sie bei den Liedern mit unanständigen Wörtern aber
nicht mitsingen müssten.
»Bestens! Bestens!« Der Filzhutmann klatschte.
»Damit
wäre The Tribe besetzt. Mitzi – hast du
alle Namen aufgeschrieben?«
Mitzi nickte.
»Gut. Also. Das wäre das. Und jetzt die Hauptrollen
– schreib alles schön mit … Ronnie spielt Berger, Christopher ist
Woof, und Sid und Philip teilen sich die Rolle von Claude, weil das
ein sehr anstrengender Part ist. Beryl ist Crissy, Doreen ist
Dionne, und Bernard kann Sheila spielen, mit seiner hohen Stimme
und einer Perücke. Ach, und hoffentlich geht es klar mit Frank als
Hud, sobald er wegen seinem Blutdruck grünes Licht bekommt, weil er
ja im ersten Akt kopfunter an dieser Stange hängt …«
Der Filzhutmann brabbelte weiter. Der
Plattenspieler blieb hängen bei »Ain’t Got No …«. Mitzi kritzelte.
Es zeichnete sich immer deutlicher ab, dass dies auf eine
Katastrophe biblischen Ausmaßes zusteuerte.
Joel tippte eifrig mit zwei Fingern auf dem Laptop
und bemühte sich sehr, nicht zu lachen. »Ich glaube, ich bin mit
deiner Liste fast fertig – allerdings musst du wohl bei manchen
Sachen noch mal die Schreibweise überprüfen. Was in aller Welt sind
Grüne Gewänder? Und Schäumende Träume? Und wer will Drachenblut in
seinem Pudding?«
»Das wissen die Götter.« Mitzi begann, ihren
Papierkram einzusammeln. »Aber irgendwer bestimmt – Granny Westward
zufolge soll das ein Liebestrank sein, drum hab ich es auch mit
aufgenommen … Danke für deine Hilfe. Wenn ich nach Hause komme,
werde ich mehrere Exemplare ausdrucken, und dann sehen wir mal, wie
es läuft … Schön – jetzt brauch ich aber dringend einen Drink.« Sie
stöhnte auf, als der Plattenspieler zu »Good Morning Sunshine«
überging. »Lass uns von hier verschwinden, bevor der Filzhutmann
anfängt, sie durch die Sing-und-Tanz-Nummern zu scheuchen, und ich
mich total blamiere. Du kommst doch mit auf ein Bier im Faery Glen,
oder? Gut, wer zuletzt draußen ist, zahlt die erste Runde.«
Joel war um einen Sekundenbruchteil schneller an
der Tür.
»Natürlich freue ich mich, Liebling.« Quer über
den blank gescheuerten Kieferntisch in seiner Maisonette-Wohnung
hatte Lance Dolls Hände ergriffen. »Größer könnte die Freude kaum
sein. Großvater! Ich kann’s noch gar nicht fassen … Und du fühlst
dich gut? Ich weiß noch, wie es Mitzi bei dir und Lulu immer übel
war.«
»Hoffen wir mal, dass ich die Morgenübelkeit nicht
von ihr geerbt habe. Nein ehrlich, mir geht’s prima.« Doll
lächelte. »Es ist zwar noch sehr früh, aber du kennst mich ja –
unverwüstlich wie das sprichwörtliche Unkraut.«
»Möge es so bleiben, Liebes. Wünscht ihr euch denn
einen Jungen oder ein Mädchen, Brett und du? Habt ihr schon über
Namen nachgedacht? Und bei der Hochzeit – ich werde dich doch zum
Traualtar führen, oder?«
Doll schmunzelte. »Aber natürlich. Es wird
allerdings nur eine ganz kleine Feier. Kirchliche Trauung um vier
Uhr nachmittags vor Heiligabend und dann direkt ins Faery Glen. Uns
ist es ganz egal, ob das Baby ein Junge oder ein Mädchen wird –
aber eins steht fest, es wird einen ganz normalen Namen haben. Jane
oder Ann oder Susan oder John oder James – es soll nicht so leiden
wie ich!« Sie sah sich in der blitzsauberen Küche um. »Wo ist
Jennifer? Hast du ihr schon erzählt, dass sie Stief-Großmutter
wird, im zarten Alter von zweiunddreißig Jahren?«
»Sie hat es nicht allzu gut aufgenommen. Musste
danach
gleich ins Nagelstudio für eine Verschönerungskur. Sie wird es
bedauern, dich heute Abend verpasst zu haben – sie ist gerade in
ihrem Fortbildungskurs.«
»Jennifer? Liebe Güte, nimmt sie etwa Nachhilfe in
englischer Konversation?«
»Du kleines Biest …« Lance versuchte einen strengen
Blick aufzusetzen, was ihm aber nicht gelang. »Sie macht einen
zehnwöchigen Kurs in Sachen Hautpolitur und noch so was, um auf der
Karriereleiter in Sachen Schönheitsbehandlung aufzusteigen. Könnte
es Darmspülung gewesen sein?«
»Schon möglich. Wahrscheinlich. Ganz
bestimmt.«
Sie lächelten einander an. Doll hätte sich wirklich
gewünscht, die Familie wäre nicht auseinandergebrochen. Dass ihre
Eltern sich über diese wunderbare Neuigkeit gemeinsam freuen
könnten. Aber es war immerhin schon viel wert, dass Mitzi und Lance
nun ein so freundschaftliches Verhältnis hatten. Sie würde
wahrscheinlich keinen von beiden je wissen lassen, dass ihre
Scheidung der Grund war, warum sie so lange gezweifelt hatte, ob es
ein kluger Schritt sei, Brett zu heiraten. Wenn Lance und Mitzi
zusammengeblieben wären, hätte sie sich wahrscheinlich schon Jahre
früher fest gebunden – Baby hin oder her.
Lance brach das Schweigen. »Und was ist mit deiner
Mutter? Wie trägt sie die Oma-Nachricht?«
»Freut sich wie eine Schneekönigin, natürlich. Sie
droht sogar damit, stricken zu lernen.«
»Irgendwie kann ich mir Mitzi mit Wollknäueln und
spitzen Nadeln gar nicht vorstellen. Sie würde bestimmt irgendwem
ein Auge ausstechen. Sie war noch nie sonderlich praktisch
begabt.«
»Sie ist auf dem besten Weg«, verteidigte Doll ihre
Mutter.
»Sie hat viel gelernt, seit du nicht mehr da bist. Du hast ja
gesehen, wie gut es ihr gelungen ist, das ganze Haus neu
einzurichten. Außerdem macht sie die Gartenarbeit und kann
Steckdosen reparieren und Sicherungen auswechseln und -«
»Schon gut, schon gut. Ein Punkt für dich. Ist sie
heute Abend zu Hause? Vielleicht geh ich rüber und teile mein Leid
mit ihr. Immerhin – Großeltern – wir! Wir sind noch viel zu jung
dafür. Nein, Schatz, ich mach nur Spaß – aber ich würde sie gerne
besuchen, zusammen mit Lulu, und ein oder zwei Gläser auf dein Wohl
trinken.«
Doll fuhr mit dem Zeigefinger über den Rand ihres
Glases mit Orangensaft. »Heute Abend wäre das reine
Zeitverschwendung. Es ist niemand daheim. Lu ist bei einem ihrer
Tierrettungseinsätze, und – äh – Mum ist … na ja, also eigentlich
hat sie eine Verabredung. Im Gemeindesaal. Sie organisieren die
Weihnachtsshow.«
Lance verging das Grinsen. »Oh – aha. Du meinst –
eine Verabredung? Mit einem Mann ausgegangen? Kenne ich ihn?«
Doll zuckte die Schultern. »Weiß ich nicht. Es ist
Joel Earnshaw. Unser neuer Zahnarzt. Sie – äh – also die beiden –
äh – haben sich kürzlich kennengelernt und, tja …«
Lance schenkte sich Wein nach. »Aha, verstehe. Nun
ja, es geht mich natürlich nichts an, wenn sie sich mit einem
anderen treffen möchte.«
Sosehr Doll ihren Vater auch liebte, spürte sie nun
aber doch heißen Zorn in sich aufsteigen. »Nein, verdammt noch mal,
ganz sicher nicht! Du hast sie vor zehn Jahren verlassen! Du hast
sie betrogen und dich mit Jennifer aus dem Staub gemacht – einer
Frau, die kaum älter ist als Lu und ich – und hast dich von Mum
scheiden lassen, um sie zu heiraten. Verflixt noch mal, Dad! Es war
deine Entscheidung! Wag es bloß
nicht, Mum dafür zu kritisieren, wenn sie nach all der langen Zeit
jemand anderes gefunden hat!«
»Tu ich ja gar nicht … Aber ist es denn so? Hat sie
einen anderen? Ist es was Ernstes mit diesem Joe?«
»Joel – und ja, was ihn betrifft, wohl schon.« Doll
sah ihren Vater herausfordernd an. »Er spricht bei der Arbeit über
nichts anderes mehr als über sie. Und die beiden haben viel
gemeinsam – einschließlich der Erfahrung, von jemandem, dem sie
vertraut haben, hintergangen worden zu sein. Er ist ein toller Typ,
und sie hat es wirklich verdient, glücklich zu sein. Also funk du
bloß nicht dazwischen, verstanden?!«
Lance leerte sein Weinglas in einem Zug und
schenkte sich neu ein. »Tja, ich schätze, das musste eines Tages
wohl passieren. Bloß, ich – na ja – du weißt schon …«
»Ja, nur zu gut. Du hättest dich mit Jennifer nie
einlassen sollen. Mum nie verlassen sollen. Aber du hast es getan,
und wie sehr du Mum inzwischen auch vermissen magst, du wirst jetzt
damit leben müssen.«
In der makellosen Küche hörte man das Ticken der
Uhr. Doll hoffte inständig, ihr Vater würde jetzt nicht anfangen zu
weinen. Sie war am Boden zerstört gewesen, als die beiden sich
scheiden ließen, aber nun sah selbst sie ein, dass es keine Chance
auf eine Wiedervereinigung gab – und Joel wäre genau der Richtige
für Mitzi, wenn sie das nur auch selbst erkennen könnte!
Sie trank ihren Orangensaft aus. Zeit, das Thema zu
wechseln.
»Übrigens, Mum wird sich um das Essen für die
Hochzeitsfeier kümmern.«
»Lieber Himmel!« Lance machte ein entsetztes
Gesicht. »Das kann sie nicht! Das ist ja noch schlimmer als
Stricken!
Da kannst du über ihre neu erworbenen Fähigkeiten sagen, was du
willst, aber nie im Leben kriegt sie so kniffelige Festtagshäppchen
hin wie Vol-au-vents oder Petit Fours und so Zeugs auf
Spießchen.«
»Sie sagt, sie kocht ein traditionelles Festessen
nach Granny Westwards Rezeptbuch.« Doll biss sich auf die Lippe.
»Eine Kombination aus einem klassischen Weihnachts- und
Hochzeitsmahl.«
»Au weia.« Lance zwinkerte. »Dann werden wir
wahrscheinlich alle spätestens um sechs Uhr abends nackt und
singend um die Tische hüpfen und irgendwelche heidnischen
Wintergötter beschwören. Am besten bittest du Otto und Boris, als
Notfallreserve ein paar Sandwiches herzurichten.«
Doll zog eine Grimasse. »Du bist genauso schlimm
wie Lu! Sie glaubt, alles in diesem Rezeptbuch wäre Magie. Sie
meint, irgendein keltischer Apfelzauber hätte Mum und Joel
zusammengebracht – ganz zu schweigen von ihr und Shay. Ach, und
natürlich ist einzig und allein der Wünsch-dir-was-Auflauf für
meine Schwangerschaft und meine Hochzeit verantwortlich. Völliger
Blödsinn. Wie oft muss ich das denn noch erklären -«
»Sag, was du willst«, erwiderte Lance mit
gerunzelter Stirn. »Ich weiß, was mit Flo Spraggs und diesen
Überredungstörtchen gelaufen ist. Etwas Unheimlicheres hab ich noch
nie erlebt! Nein, du solltest deine Mutter schön von jeglichem
Zauberkochkram abhalten, wenn Brett und du eine ruhige
Hochzeitsfeier haben wollt.«
»Wann hätte es in Hazy Hassocks denn je eine ruhige
Hochzeitsfeier gegeben?«
»Also ich finde das schauderhaft!«, schnaubte
Lulu in frostiger Finsternis in die Falten ihres farbenfrohen
langen Schals. »So was Übles ist mir noch nie vorgekommen!«
»Psstt!« Biff Pippin, von der zwischen der
heruntergezogenen schwarzen Pudelmütze und dem hochgeklappten
Kragen des schwarzen Regenmantels nur die Gläser ihrer
Gleitsichtbrille zu sehen waren, funkelte sie durch das vereiste
Unterholz streng an. »Nicht so laut. Wir wollen doch das Objekt
nicht aufschrecken! Und was ist so schlimm daran, dass Doll und
Brett heiraten? Sie sind schließlich schon länger zusammen als die
meisten Ehepaare.«
»Es geht nicht darum, dass sie heiraten -«
»Na, aber es ist doch sicher auch nicht, weil sie
ein Baby bekommen? Liebe Güte, Lulu – ich dachte, du wärst ein
freigeistiger Hippie, so nach dem Motto: Leben und leben lassen?
Niemand schert sich doch heutzutage mehr um so etwas. Oder bist du
auf einmal zu den Moralaposteln übergelaufen?«
Lu schniefte. Vor Kälte lief ihr die Nase. Und in
das dunkle, mit Zweigen bedeckte Versteck gekauert, taten ihre
Beine weh. Außerdem klapperten ihre Zähne. »Nein, es geht auch
nicht darum, dass sie schwanger ist – obwohl es mir ein Rätsel ist,
warum sie sich mit dem langweiligen Brett vermehren will … nein,
ich spreche davon, dass ich ihre Brautjungfer sein soll.«
Biff kicherte leise. »Ganz schön mutig von ihr,
wenn du mich fragst. Und du willst nicht?«
»Was – ich? In einem mädchenhaften rosa
Rüschenkleid? Kommt nicht in die Tüte, verdammt noch mal! Und –
und« – Lu platzte fast vor Zorn – »und sie erwartet, dass ich mir
die Haare frisieren lasse. Frisieren! Du weißt schon – wie … na ja
… frisieren!«
Biff gluckste. »Wetten, du machst es trotzdem? Ich
wette, du gehst mit ihr zum Traualtar und siehst aus wie eine
richtige junge Dame. Egal, wie alt du bist, deine Mutter wird schon
dafür sorgen, dass du am großen Tag hübsch herausgeputzt bist. Auch
wenn Doll sich einen etwas unglücklichen Termin ausgesucht hat,
wenn du mich fragst. Nach der Party werden alle für ihre
Weihnachtsfeiern viel zu erschöpft sein.«
Lulu hatte in etwa dasselbe gedacht. Nur ein so
schrecklich durchorganisierter Mensch wie Doll konnte überhaupt
davon ausgehen, dass eine Hochzeit am Heiligabend nicht für jede
Menge zusätzlichen Festtagsstress sorgte.
»Mum meint, sie wird am ersten Weihnachtstag im
Gemeindesaal mit den Fitten Fünfzigern ein Abendessen für die Armen
und Einsamen organisieren, sodass sie dieses Jahr nicht so feiert
wie sonst. Und Doll und Brett werden in den Flitterwochen sein. Es
sieht also so aus, als säße ich dann völlig verkatert mit Richard
und Judy bei einem Nussbraten allein zu Haus und schau mir im
Fernsehen ›Gesprengte Ketten‹ an.«
»Ach, ich liebe ›Gesprengte Ketten‹ und ›The Sound
of Music‹ und ›Der Zauberer von Oz‹.«
»Herr im Himmel, Biff!«, fauchte Hedley. »Jetzt ist
nicht der geeignete Zeitpunkt, das ganze weihnachtliche
Fernsehprogramm aufzusagen! Schnell! Objekt nähert sich! Elf
Uhr!«
Lulu sah mit zusammengekniffenen Augen auf ihre
Armbanduhr und schüttelte den Kopf. »Nö. Es mag einem vielleicht
vorkommen wie elf, aber es ist erst halb zehn. Bei der Kälte könnte
man aber auch leicht meinen, es wäre schon Mitternacht.«
»Das war eine Richtungsangabe«, fauchte Hedley
entrüstet. »So wie bei der Air Force im Krieg.«
Biff und Lu sahen einander im Dunkeln mit
hochgezogenen Augenbrauen an.
»Da!« Hedley zeigte aufgeregt auf einen Range
Rover, der mit einem Anhänger über die vereisten Fahrrinnen des
Bauernhofes ratterte und auf dem Feldweg entschwand. »Da fahren
sie! Jetzt – wir lassen ihnen ein paar Minuten Vorsprung, bis sie
außer Sichtweite sind, dann gehen wir rein! Okay?«
Biff und Lulu nickten.
Lu, die wusste, dass der Hinweis für diesen
nächtlichen Einsatz wieder einmal von Gwyneth Wilkins und Big Ida
Tomms stammte, war fest entschlossen, nicht als Erste reinzugehen.
Dieses Mal nicht.
Die Überwachung des heutigen Abends fand unweit von
Hazy Hassocks bei einem abgelegenen und baufälligen Bauernhof an
der Straße nach Fiddlesticks statt. Gwyneth und Big Ida zufolge
wurde eines der Farmgebäude zur illegalen Hundezucht benutzt. Lulu
wusste aber: Wenn sich diese schreckliche Behauptung wie durch ein
Wunder als wahr erweisen sollte, dann war das um viele Nummern zu
groß für sie. Dann müsste unverzüglich der Tierschutzbund
eingeschaltet werden.
Und vorher müssten die Pippins diesmal alle Fakten
hundertfünfzigprozentig geprüft haben.
»Gut«, sagte Hedley, zog sich die Kappe über die
Ohren und kam ächzend auf die Beine. »Dann wollen wir mal sehen,
mit was für Mistkerlen wir es hier zu tun haben …«
Mit Hedley an der Spitze stolperten sie im
Gänsemarsch über den hartgefrorenen Boden, wobei ihr Atem in der
schneidend kalten Nachtluft kleine Nebelwölkchen bildete.
Das Bauernhaus war, wie beschrieben, dunkel,
heruntergekommen und verlassen. Ganz sicher, dachte Lu schaudernd,
wohnte hier keiner. Die Fensterscheiben waren zersplittert, die
Türen hingen schräg in den Angeln, und Kletterpflanzen bedeckten
die zerbröckelnden Mauern. Vielleicht lagen Gwyneth und Big Ida
dieses Mal ja richtig.
»Kommt mir unwahrscheinlich vor«, murmelte Biff,
»dass Leute mit Range Rovers in so einer Bruchbude hausen.«
»Da drüben sind noch ein paar Nebengebäude.« Lu
spähte durch die Dunkelheit. »Vielleicht sollten wir uns erst mal
dort umsehen.«
Sie hatte so eine ganz üble Ahnung, dass ihnen
nicht gefallen würde, was sie dort fänden.
Hedley ging knirschend zu der ersten der
baufälligen Scheunen und schaltete seine Taschenlampe auf volle
Leuchtkraft. Der gelbe Lichtschein wanderte nach oben, nach unten
und ringsherum. »Hier ist nichts. Überhaupt nichts. Leer. Also –
weiter zur nächsten.«
Lu folgte im Windschatten der Pippins. Sie hätte
sich wirklich sehr gewünscht, dass Shay bei ihr wäre.
Wieder beleuchtete Hedley das Innere der Scheune in
einem allumfassenden Rundumschwenk mit seiner Taschenlampe.
»Heilige Hölle!«
»Was?« Biff zog fragend die Augenbrauen hoch. »Was
ist da drin denn los?«
»Ruf den Tierschutzbund an«, sagte Hedley barsch.
»Sofort. Sag ihnen, es ist ein Notfall. Und du, Lu, gehst mit mir
rein …«