1. Kapitel
Mitzi spähte über ihren
Abschiedsstrauß aus üppigen Chrysanthemen hinweg und überlegte, ob
ihr der Mord an Troy Haley zehn Jahre Gefängnis wert wäre.
Natürlich könnte sie es weder hier noch jetzt tun.
Dieser Nachmittag in der Schalterhalle der Bank, umringt von
Kollegen und Kunden mit Chardonnaygläsern in den Händen – ganz zu
schweigen von den zweitklassigen Honoratioren und den Vertretern
der Lokalpresse -, war sicher nicht der ideale Zeitpunkt, um zur
Mörderin zu werden. Zwar eine würdevolle Mörderin gesetzten Alters,
aber nichtsdestotrotz eine Mörderin, auch wenn sie der Finanzwelt
damit bestimmt einen Gefallen täte.
Troy Haley, der mit seinem stachelig gegelten Haar
und den Aknenarben aussah wie ein 18-Jähriger, stolzierte – zur
unverhohlenen Freude aller Mitarbeiterinnen unter dreißig – wie ein
Pfau unter den gewölbten Decken und Kronleuchtern der in einem
Gebäude aus dem 19. Jahrhundert untergebrachten Bankfiliale in
Winterbrook umher, als gehörte sie ihm, was zu Mitzis Verdruss ja
nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt lag. Immerhin war er der
neue Filialleiter.
Mitzi musterte ihn ungläubig – selbstsicher stand
er da, lachte, machte Witze und schüttelte Hände. Troy Haley war
einfach viel zu jung. Nicht dass sie etwas gegen junge Leute
im Allgemeinen gehabt hätte, natürlich nicht! Sie war seit jeher
stolz auf ihr jugendliches Aussehen und ihre modernen Ansichten
gewesen und umgab sich gern mit jüngeren Leuten. Sie bewunderte
deren Optimismus und bedauerte sie zugleich für ihr Pech, sich im
momentan so unsicheren Klima den Weg ins Erwachsenenleben erkämpfen
zu müssen.
Gegenüber der jungen Generation von heute hatte
sich Mitzi immer als doppelt begünstigt und enorm im Vorteil
gesehen. Auf ihre sichere und geborgene Kindheit in den
1950er-Jahren war die sagenhafte Freiheit eines Teenagers in den
Sechzigern gefolgt. Heute war alles so streng und verbissen –
irgendwie beängstigend für die jungen Leute. Ihr umfassendes
Mitgefühl für die Jugend konnte sie allerdings nicht davon
ablenken, dass Troy Haley auf jeden Fall viel zu unreif war, um
irgendwo eine leitende Position zu bekleiden. Wahrscheinlich war er
im gleichen Alter wie ihre Töchter.
Der Gedanke ließ Mitzi zusammenzucken. Ihre Töchter
Lulu und Doll waren kaum imstande, ihr eigenes Leben zu regeln,
geschweige denn die finanziellen Transaktionen einer stark
frequentierten Bankfiliale. Und doch hatte jemand in seiner
geballten Wirtschaftsweisheit diesem Grünschnabel Gelegenheit
gegeben, mit den Leben und Konten Hunderter Kunden Gott zu
spielen.
Natürlich wusste Mitzi nur zu gut, dass Troy Haley
ein Aufsteiger auf der Überholspur war. Sie hatte den Ausdruck oft
genug gehört, seit vor einem Monat aus heiterem Himmel seine
Ernennung verkündet worden war – zusammen mit ihrer
Frühpensionierung. Rasch hatte sie begriffen, dass es im
Branchenjargon so etwas bedeutete wie »Betriebswirt mit massenhaft
Qualifikationen, aber ohne jeden Schimmer von der Praxis«.
Musste sich denn heutzutage keiner mehr langsam die
Karriereleiter emporarbeiten? Seinen Beruf Stufe für Stufe
erlernen? Musste man sich eine Beförderung nicht mehr verdienen,
ebenso wie das nötige Wissen, Würde und Respekt – und was war Troy
überhaupt für ein Name für den Filialleiter einer Bank?
Mitzi biss sich auf die Unterlippe und hätte
beinahe über sich selbst gelacht. Fast wäre sie ins Lager der
Miesmacher übergelaufen, ausgerechnet sie, die so stolz auf ihre
lockere Lebenseinstellung und ihre Gelassenheit war. Gelassenheit
war schön und gut, wo sie hinpasste, doch wenn es ums eigene
Überleben ging, sah die Sache völlig anders aus.
In den dunkler werdenden Fenstern der Bank
erblickte sie ihr Spiegelbild, auf das die Glaselemente der
Kronleuchter schmeichelhafte kleine Schatten warfen. Schick und
gepflegt und mit ihrer in mehreren Schattierungen von Dunkelrot
schimmernden modischen Fransenfrisur sah sie doch bestimmt nicht so
alt aus wie jemand, der demnächst in den Ruhestand ging. Trugen
Ruheständler nicht am liebsten Grau und Beige?
War es das dann also gewesen? Das Ende ihres
bisherigen Lebens? Blieben ihr jetzt nur noch Nachmittagsfernsehen
und Rentnerclubs?
»So ist es schön! Lächeln!« Ein junges Mädchen vom
Winterbrook Advertiser drückte nur wenige
Zentimeter neben Mitzis Gesicht auf den Auslöser ihrer Kamera.
»Möchten Sie auch eines von Ihnen und Troy zusammen?«
»Eher nicht, vielen Dank.« Mitzi nahm die
Chrysanthemen in den anderen Arm. »Schließlich höre ich ja hier
auf. Ihre Leser interessieren sich bestimmt viel mehr für die junge
Garde. Vielleicht wäre ein Bild von – äh – Troy und meinem
Nachfolger passender.«
»Ja, stimmt. Danke.«
Ohne die Ironie zu registrieren, richtete die junge
Frau ihre Kamera auf Troy und Tyler, dessen frisch ernannten,
ebenso pickeligen und gegelten Assistenten, der angeblich Mitzis
frei gewordene Stelle bei den Privatkunden mit übernehmen sollte,
ohne jedoch – soweit Mitzi wusste – jemals ein Stenogramm
aufgenommen, Kaffee gekocht oder eine Tagung organisiert zu
haben.
Troy und Tyler! Das klang ja wie zwei Moderatoren
einer Kindersendung im Fernsehen – und die ganzen jüngst von der
Bank eingestellten Callcentermädchen mit ihren nasalen Stimmen
hatten allesamt Namen wie Chantal-Leanne und Lauren-Storm … und …
Mitzi nieste so heftig in ihren Blumenstrauß, dass das Seidenpapier
raschelte.
»Alles in Ordnung, meine Liebe?« Mr Dickinson, der
aus dem Amt scheidende Filialleiter, berührte sie sachte am Arm.
»Geht es Ihnen auch nicht zu nahe?«
»Nein, das eigentlich nicht, aber ich bin ganz
schön wütend.« Mitzi verlagerte erneut die Chrysanthemen und zupfte
an deren Verpackung. »Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, wie
es wohl wäre, das jämmerliche kleine Würstchen mit dieser schicken,
neumodischen Bastkordel zu erwürgen. Sehen Sie sich das nur an.
Nicht mal ein anständiges Band.«
»Wenigstens haben Sie keine blöde Uhr bekommen«,
seufzte Mr Dickinson. »Warum schenken sie einem immer so eine
dämliche Uhr, wenn man nicht die geringste Lust darauf hat, die
Zeit verstreichen zu sehen?«
Sie sahen einander mitfühlend an.
»Hi.« Troy Haley hatte offenbar die Presse, die um
ihn herumschwirrenden Kunden und seine Gang aus miniberockten
Bewunderinnen abgeschüttelt. »Geht es Ihnen gut?«
»Darauf erwarten Sie doch nicht im Ernst eine
Antwort, oder?« Mitzi funkelte ihn über die Blumen hinweg an.
»Lassen Sie es mich anders ausdrücken. Was glauben Sie wohl, wie es
uns geht, nachdem wir die letzten fünfunddreißig Jahre unseres
Arbeitslebens dieser Bank gewidmet haben? Und jetzt aufs
Abstellgleis geschoben werden, obwohl wir in den besten Jahren
sind? In den Ruhestand geschickt werden, obwohl wir uns noch
jahrelang nützlich machen könnten?«
Troy Haley zuckte die Achseln. »Krasse Frage. Klar,
alles in allem gesehen weiß ich schon, wie Ihnen zumute sein muss,
aber die Karten werden eben neu gemischt, verstehen Sie? Jugend
heißt das Zauberwort. Technologie ist der neue Rock’n’ Roll. Die
Zeiten ändern sich. Jetzt, wo es Callcenter und Onlinebanking und
das alles gibt, will doch kein Mensch mehr Banken, wo man Auge in
Auge von Angesicht zu Angesicht – äh – na ja, Sie verstehen schon,
was ich meine.« Kumpelhaft schlug er Mr Dickinson auf die Schulter.
»Jedenfalls, Nev, haben Sie ab sofort jede Menge Zeit, um in Ihrem
Garten herumzuwerkeln und Golf zu spielen, stimmt’s?«
Nev? Nev? Mitzi hätte fast
gewürgt. In all den Jahren, die sie Mr Dickinsons rechte Hand
gewesen war, hatte sie ihn kein einziges Mal Neville genannt,
geschweige denn Nev. Selbst als sie beide noch ganz jung gewesen
waren und sie unter Mr Dickinson als direktem Vorgesetzten bei der
Bank angefangen hatte, hatten sie einander stets als Mr Dickinson
und Mrs Blessing angesprochen. Wie konnte dieser unverschämte,
arrogante Flegel sich solche Freiheiten herausnehmen!
»Ich interessiere mich weder für Gartenarbeit noch
für Golf«, erwiderte Mr Dickinson steif. »Wahrscheinlich werde ich
in Zukunft mehr Zeit für das Kreuzworträtsel in der Times haben, doch selbst das erscheint mir lediglich
als
schwache Entschädigung dafür, zwangsweise in den Ruhestand
geschickt zu werden.«
Troy Haley grinste. »Sehen Sie’s mal positiv, Nev.
Im Endeffekt haben Sie doch Ihre Pension und Ihre Abfindung unter
Dach und Fach, ehe alles den Bach runtergeht, und die Welt liegt
Ihnen sozusagen zu Füßen. Also ich freue mich auf die Rente. Ich
hoffe, ich kann das alles hinter mir lassen, ehe ich vierzig bin.
Ich will nämlich auf keinen Fall am Schreibtisch sitzen, bis ich –
äh -«
»Ich bin fünfundfünfzig, und Mr Dickinson ist auch
nicht viel älter«, erklärte Mitzi mit bedrohlich ruhiger Stimme.
»Wir sind vermutlich im gleichen Alter wie Ihre Eltern. Was glauben
Sie wohl, wie die sich fühlen würden, wenn sie in unserem Alter
ausgemustert würden?«
»Ehrlich gesagt sind meine Eltern jünger als Sie
und arbeiten bereits darauf hin, dank ihrer gut gemanagten,
steuerbegünstigten Fondsanlagen das Feld der Lohnsklaverei zu
verlassen«, entgegnete Troy fröhlich. »Sie beide liegen altersmäßig
eher bei meinen Großeltern – und die lassen es sich an der Costa
Dorada gut gehen. Warum sehen Sie sich nicht nach einem
Seniorenheim in einer wärmeren Gegend um, Mitzi? Im Prinzip müssen
Sie jetzt ja nur noch an sich selbst denken, stimmt’s? Ist doch
sinnlos, den Rest Ihres Lebens freiwillig in einem öden Kaff wie
Winterbrook zu versauern, oder?«
Mitzi holte tief Luft. »Mr Haley, Sie wissen nichts
über mich. Sie wissen nichts über meine Hoffnungen und Träume oder
meine persönlichen Verhältnisse – weder über meine Familie noch
über meine Verpflichtungen oder mein Privatleben. Sie wissen
nichts. Punkt. Und wenn Sie Winterbrook so unattraktiv finden,
warum sind Sie dann nach Berkshire gekommen, wenn ich fragen
darf?«
Mr Dickinson gluckste in seine Uhr.
Troy war ganz und gar nicht beleidigt, sondern
strahlte sie an. »Hey, immer schön den Ball flach halten.
Winterbrook ist nur ein Sprungbrett für größere und lohnendere
Aufgaben. Man fängt in Berkshire in der Pampa an und steckt sich
höhere Ziele. Zur neuen Strategie der Bank gehört ein rascher
Personalwechsel. Höchstens achtzehn Monate in einer Filiale, dann
weiter und höher hinauf … Sie werden weder Tyler noch mich hier im
ewig gleichen Alltagstrott erwischen, wenn wir so alt sind wie
Sie.«
»Nein, das wohl nicht«, sagte Mitzi gedehnt und
lächelte. »Man muss eben auch für Kleinigkeiten dankbar
sein.«
»Äh, ja …« Troy wirkte plötzlich verunsichert.
»Aber jetzt muss ich weiter. Leute kennenlernen und ein bisschen
networken.« Er streckte die Hand aus. »Ich wünsche Ihnen allen
beiden eine lange und glückliche Rentenzeit.«
Mitzi bezwang den heftigen Wunsch, ihm den
Blumenstrauß tief in den Schlund zu rammen, da so etwas ja wirklich
nicht zu ihrem Image als Jüngerin von Love and
Peace gepasst hätte, und sah Troy lediglich wutentbrannt nach,
während sich seine bohnenstangendürre Gestalt im Nadelstreifenanzug
langsam entfernte. Bestimmt trainierte er viel. Alle jungen Leute
stopften sich doch mit Junkfood voll und rannten dann zum Ausgleich
ins Fitnessstudio. Unter Troys Leitung würden sie wahrscheinlich
gleich im Keller der Bank einen Trainingsraum einrichten. Und eine
Saftbar und womöglich obendrein noch ein Internetcafé.
Mr Dickinson trottete bereits auf die Tür zu, die
Uhr fest umklammert. Kein Mensch nahm von ihm Notiz. Kein Mensch
sagte ihm auf Wiedersehen.
Mitzi sammelte den Stapel gnadenlos heiterer Karten
und
ihre anderen Abschiedsgeschenke ein – eine recht schöne
Kristallvase und einen ziemlich dicken Scheck – und wollte auf
einmal nur noch so weit weg wie möglich von dieser Veranstaltung.
Es war zwecklos, länger zu bleiben. Sie gehörte nicht mehr dazu.
Jetzt wollte sie nur noch nach Hause.
Zwanzig Minuten später hieß ihr Zuhause in Hazy
Hassocks, dem Nachbarort von Winterbrook, sie erneut mit seiner
heimeligen Gemütlichkeit willkommen. Wie jeden Tag, seit sie vor
fünfunddreißig Jahren als Braut dort eingezogen war, schloss Mitzi
die Tür zu dem Backsteinreihenhaus aus der Vorkriegszeit auf und
trat in eine Welt aus prächtigen Farben und opulentem
Glitzerschmuck aus Strass und Perlen.
In der mitternachtsblau und golden dekorierten
Diele summte die Zentralheizung leise ihre Willkommensmelodie.
Mitzi hob die Morgenpost von der flauschigen kobaltblauen Fußmatte
auf, blätterte sie durch – Wurfsendungen, Werbung und eine
Gratiszeitung – und warf alles sofort in den Papierkorb, ehe sie
die Wohnzimmertür öffnete. Dort streifte sie auf dem
brombeerfarbenen Kaminvorleger die Stretchstiefeletten ab und warf
ihr Wolljackett über die Lehne des pflaumenblauen Samtsofas,
während sie ihr Wohnzimmer mit ungetrübtem Wohlgefallen
musterte.
Die üppige, sinnliche Behaglichkeit ihres Hauses
bereitete Mitzi jeden Tag aufs Neue tiefe Freude, doch das war
nicht immer so gewesen. Als sie und Lance geheiratet hatten, hatte
das Haus nicht anders ausgesehen als andere Häuser: brave,
cremeweiße Wände, eine graubraune Couchgarnitur mit Dralonbezügen,
ein mit Cotswoldstein verkleideter Kamin, beigefarbene Teppiche und
geschmackvoll arrangierte Porzellanfigürchen.
Erst seit der Scheidung vor zehn Jahren hatte sie
begonnen, das gemeinsame Haus zu ihrem ureigenen Heim
umzugestalten.
Der Oktobernachmittag neigte sich und ließ eine
kalte Nacht erahnen. Mitzi machte zuerst eine Reihe rot beschirmter
Lampen an, bevor sie das fast wie ein echter Kamin wirkende
Gasfeuer mit seinen flackernden Flammen einschaltete. Deren
Lichtschein spiegelte sich sofort in den zahlreichen glitzernden
Glasornamenten und Kerzen, die alle Flächen zierten, und
erleuchtete die vielen Bücherreihen in den wandhohen Regalen ebenso
wie die in allen Regenbogenfarben schimmernden exotischen Blüten
der zahlreichen Potpourris aus getrockneten Blumen.
Mitzi seufzte zufrieden, wie immer, wenn sie in ihr
Wohnzimmer kam, und zog die dunkelvioletten Samtvorhänge zu, um die
Abenddämmerung auszusperren. Der Herbst war seit jeher ihre
Lieblingsjahreszeit gewesen, und die Farbenfülle vor dem Fenster
spiegelte sich in ihrem gesamten Haus wider. Doch würde sie ihn
jetzt noch genauso lieben? Wenn sie jeden Tag von früh bis spät
hier allein war und die unvermeidlichen dunklen, kurzen Wintertage
nur noch wenige Wochen auf sich warten ließen?
»Reiß dich zusammen, Herrgott noch mal«, herrschte
sie sich selbst an. »Du hast schon öfter extreme Veränderungen in
deinem Leben verkraften müssen. Du schaffst es auch noch einmal.
Außerdem hast du ohnehin keine Wahl. Und eine Frau, die damit
fertig wird, dass sie auf der eigenen Silberhochzeit von der
Geliebten ihres Mannes erfährt, wird doch wohl eine kleine
Frühpensionierung überstehen, also bitte!«
Direkt nach der Scheidung hatte sie sich verlassen
gefühlt
und Angst vor einer Zukunft ohne Lance gehabt, doch natürlich
hatten damals Lulu und Doll noch bei ihr gewohnt, und sie hatte die
Arbeit in der Bank gehabt – Konstanten in einer Welt, die durch
Lance’ Untreue erschüttert worden war. Ihre Töchter, die Bank, ihre
Freunde und ihr verlässlicher Alltagstrott hatten ihr Sinn und
Stabilität gegeben, und so hatte sie im Lauf der nächsten zehn
Jahre ihr Leben allmählich neu aufgebaut, ihre Freiheit genossen
und das Alleinleben schließlich durchaus zu schätzen gelernt.
Von heute an würde jedoch alles ganz anders sein.
Die Mädchen lebten mittlerweile mit ihren Partnern zusammen, und
ohne die Bank, ohne Arbeit, ohne einen triftigen Grund, jeden
Morgen aufzustehen, war sie sich selbst überlassen. Was in aller
Welt sollte sie tun, um die Stunden zu füllen? Sie versuchte, nicht
an den krassen Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit zu
denken, da sie fürchtete, dass ihr der ohnehin nur allzu bald
bewusst werden würde.
Mitzi quittierte ihr Selbstmitleid mit einem
Schnauben und tappte mit ihrer neuen Kristallvase und den
Chrysanthemen in die Küche. Die Blumen würden sich gut hier machen,
sinnierte sie, während sie Wasser in die Vase laufen ließ und die
holzigen Stiele kappte, die dabei ihren kalten, bitteren Duft
freisetzten. Die goldenen, bronzenen und rotbraunen
Farbschattierungen der dicht gedrängten Blütenblätter passten
perfekt zu ihrer Küche. Sie stellte die Vase unsanft mitten auf den
Küchentisch, der eigentlich wie in jeder anständigen Landhausküche
aus weiß geschrubbter alter Kiefer hätte sein sollen, jedoch von
IKEA stammte und von einem leuchtend gelben Tischtuch bedeckt
war.
»Im Wohnzimmer ist schon geheizt«, sagte sie zum
Wäschekorb.
Der Wäschekorb antwortete nicht.
»Und wenn ich mich umgezogen habe, mache ich gleich
Abendessen. Okay?«
Der Wäschekorb sagte wieder nichts.
Mitzi sah genauer hin. »Ja, ich weiß, es ist ein
bisschen neu für euch, dass ich so früh nach Hause komme, aber
daran werdet ihr euch gewöhnen müssen. Von jetzt an bin ich immer
hier.«
Im Wäschekorb raschelte es leise. Zwei flauschige
graue Katzenköpfe lugten heraus, und vier blassgrüne Augen
blinzelten sie an. Richard und Judy, zwei nicht ganz echte
Perserkatzen, die Mitzi als winzige, zaundürre und halb verhungerte
Kätzchen aus der Garage neben der Bank gerettet hatte, streckten
sich, ließen sich geschmeidig aus dem Korb gleiten und rieben sich
hingebungsvoll an ihr.
Mitzi streichelte sie beide. Sie liebte ihr weiches
Fell, das sich glatt wie flüssige Seide unter den Fingern anfühlte.
Das Schnurren steigerte sich zu einem lautstarken Wettstreit.
»Okay, es stimmt nicht, dass ich allein bin«, sagte
sie und küsste sie alle beide auf die Stirn. »Ich habe ja euch …
und wer weiß, vielleicht lerne ich noch kochen oder finde einen
anderen Job – oder womöglich sogar einen neuen Mann zum
Zeitvertreib.«
Richard und Judy machten schmale Augen dazu und
hörten auf zu schnurren.
Mitzi zuckte die Achseln. »Stimmt, wahrscheinlich
ist es nicht, aber man wird ja wohl noch träumen dürfen, oder? Und
jetzt gebt mir ein paar Minuten, damit ich mir bequeme Klamotten
anziehen kann, und dann suchen wir etwas Geeignetes für ein
einsames Festessen zusammen.«
Nach einer knappen halben Stunde hatte Mitzi
geduscht
und war in Jeans und einen bunten Pullover geschlüpft. Sie ließ
den Blick durch ihr in strahlenden Goldtönen dekoriertes
Einpersonenboudoir schweifen, das zu Lance’ Zeiten ebenso farblos
gewesen war wie der Rest des Hauses, nun jedoch mit satten Apricot-
und Honigtönen und gedämpftem Licht sowie mehreren Schichten von
üppigen, mit Perlen und Pailletten bestickten Stoffen aufwartete
und verruchten Haremsluxus bot, und nahm sich vor, demnächst ihre
Garderobe gründlich auszumisten. Sie würde ihre ganzen Bürosachen
dem Wohlfahrtsladen stiften, zudem würde eine größere Entrümpelung
ihres bisherigen Lebens sie immerhin eine Zeit lang beschäftigen.
Und warum sollte sie sich eigentlich aufs Schlafzimmer beschränken?
Warum nicht das ganze Haus in Angriff nehmen? Warum nicht gleich
ihr gesamtes Leben einem richtigen Großreinemachen
unterziehen?
Schon etwas froher gestimmt, da sie nun zumindest
wusste, wie sie die nächsten Tage ausfüllen konnte, tappte sie nach
unten und gab Richard und Judy Futter und Wasser, ehe sie den
Stapel mit Fertiggerichten in ihrem Gefrierschrank durchsah.
Gerade als sie sich für Fiesta-Hühnchen mit einem
Glas trockenem Wein entschieden hatte, klingelte das Telefon.
»Hi, Mum«, klang Dolls Stimme fröhlich durch die
Leitung. »Wie war’s? Nein, sag nichts. Ich komme nachher bei dir
vorbei, sowie ich mit der Arbeit fertig bin. Soll ich Fish and
Chips mitbringen?«
Mitzi schmunzelte. »Fish and Chips wären herrlich.
Aber wartet Brett nicht zu Hause auf dich?«
»Der schläft bestimmt, wie meistens«, sagte Doll in
unverändert heiterem Tonfall. »Er merkt gar nicht, ob ich da bin
oder nicht. Jedenfalls will ich nicht, dass du allein bist – nicht
heute Abend. Soll ich ein paar Fläschchen mitbringen, damit wir
auf deine neue Freiheit anstoßen können?«
Voller Zuneigung lächelte Mitzi ins Telefon. Ihre
ältere Tochter war eine unerschütterliche Optimistin. »Das wäre
auch schön. Danke, Schätzchen. Ich wärme schon mal die Teller,
kühle die Gläser und freue mich auf dich.«
Als sie das Fiesta-Hühnchen in den Gefrierschrank
zurückschob, klingelte erneut das Telefon.
»Wir haben hier einen riesengroßen Würstcheneintopf
am Köcheln«, plärrte ihr Flo Spraggs von nebenan ins Ohr. »Ich weiß
doch, dass du nie kochst. Clyde und ich dachten, du hast vielleicht
Lust rüberzukommen – schließlich ist heute ja ein etwas trauriger
Tag für dich. Clyde macht extra aus diesem Anlass eine Flasche von
seinem Holunder-Rhabarber-Wein auf. Du willst doch heute Abend
nicht allein sein, Mitzi, oder?«
»Oh, Flo, das ist echt lieb von dir, aber Doll
kommt vorbei, sowie die Praxis schließt, und bringt Fish and Chips
mit. Kannst du mir meine Portion Eintopf bis morgen
aufheben?«
»Muss ich wohl«, erwiderte Flo ungerührt. »Wir
kochen sowieso immer zu viel. Kein Problem, Mitzi, Hauptsache, du
bist nicht allein. Komm doch einfach morgen gegen elf zu einem
zweiten Frühstück vorbei. Was hältst du davon?«
»Wunderbar.« Mitzi lächelte. »Ich bringe Kekse mit.
Danke, Flo.«
»Keine Ursache, Mitzi. Wir wollten nur nicht, dass
du heute Abend allein bist.«
»Ja gut, es ist natürlich ein bisschen
gewöhnungsbedürftig, aber – oh, da ist jemand an der Tür … Dann bis
morgen – und vielen, vielen Dank.«
Das Telefon noch in der Hand, öffnete Mitzi die
Haustür.
Ihre Nachbarinnen von gegenüber, die spindeldürren
altjüngferlichen Schwestern Lavender und Lobelia Banding, standen
mit kleinen, von Alufolie bedeckten Tellerchen in den Händen im
abendlichen Dämmerlicht vor der Tür.
»Wir wollten nur sicher sein, dass es dir auch gut
geht«, erklärte Lavender. »Nicht wahr, Lobelia?«
»Genau«, bestätigte Lobelia. »Wir wissen, was es
heißt, ausgemustert zu werden, und wollten verhindern, dass du
etwas Dummes anstellst, nicht wahr, Lavender?«
»Du bist in einem komischen Alter, junge Frau«,
fuhr Lavender fort. »Die Hormone lassen nach und weiß Gott was. Das
kann einen völlig aus der Bahn werfen. Jetzt bist du damals schon
von diesem Schürzenjäger verlassen worden, den du geheiratet hast,
da dachten wir, dass du womöglich völlig verzweifelst, wenn du auch
noch deinen Job verlierst. Viele Leute begehen in deinem Alter
Selbstmord, weißt du, vor allem wenn sie sich überflüssig
fühlen.«
»Deshalb sind wir gekommen, um dich aufzumuntern«,
sagte Lobelia mit strahlendem Lächeln. »Und um auf dich aufzupassen
– ach, und wir haben dir ein paar schöne Sandwiches gemacht. Mit
Fischpaste.«
Mitzi biss auf die Innenseiten ihrer Wangen, um
sich das Lachen zu verkneifen. »Vielen Dank … oh, das ist wirklich
nett von euch, aber mir geht es gut. Doll ist schon unterwegs mit
Fish and Chips, also bin ich gar nicht allein. Und ich habe auch
keine Selbstmordgedanken, ehrlich nicht. Ein bisschen geknickt bin
ich natürlich, aber ich komme schon klar.«
»Das ist der Schock«, sagte Lavender nickend,
während sie die Alufolie wegzog und herzhaft in ein
Fischpasten-Sandwich biss. »Jetzt bist du noch vollgepumpt mit
Adrenalin, aber warte nur, bis dich die schonungslose Wirklichkeit
überfällt.«
»Ähm – ja, ich werd’s mir merken. Aber wollt ihr
denn nicht reinkommen? Es ist ganz schön kalt draußen, und -«
Die Bandings brauchten keine zweite Aufforderung.
In einem Wirbel aus mausgrauen langen Röcken und verwaschenen
Strickjacken huschten sie an Mitzi vorüber und stellten sich vor
den Kaminofen.
»Lass die Tür offen, Mitzi«, ertönte Flos Stimme
über den Zaun. »Ich hab den Eintopf warm gestellt. Clyde und ich
dachten, du möchtest vielleicht einen Schluck
Holunder-Rhabarber-Wein zu Dolls Fish and Chips.«
Leicht perplex wartete Mitzi, bis Flo und deren
Mann den Gartenweg entlanggeeilt waren.
»Offen gestanden haben wir Lav und Lob kommen
sehen«, erklärte Clyde schroff und drückte ihr mit seinem kratzigen
Schnurrbart einen Kuss auf die Wange, wobei die Weinflaschen in
seinen Armen klirrend aneinanderschlugen. »Wir dachten, du kannst
vielleicht jemanden brauchen, der dich auf andere Gedanken bringt,
als dir die Pulsadern aufzuschneiden.«
»Schön warm hier bei dir, Mitzi«, zwitscherten die
Banding-Schwestern beglückt, als die Spraggs ins Wohnzimmer
marschierten. »Aber pass bloß auf, du wirst jeden Penny umdrehen
müssen, jetzt, wo du keine Arbeit mehr hast. Lange kannst du nicht
mehr so kräftig einheizen. Wir wissen, wie es ist, wenn man sich im
Haus dick einmummeln muss und die Heizung erst nach Coronation Street anmachen kann …
»Ooooh, Mr Spraggs! Ihr hausgemachter Fruchtwein!
Herrlich!«
»Ich hole Gläser«, sagte Mitzi matt. »Und
vielleicht rufe ich in der Praxis an und bitte Doll, mehr Fish and
Chips mitzubringen, nachdem das hier allmählich zu einer Art Party
ausartet.«
»Das wäre mal ein seltener Genuss«, sagte Lavender
und stopfte sich das letzte Sandwich in den Mund, als Lobelia
gerade danach greifen wollte. »Wir essen nie auswärts. Können wir
uns von unseren Renten gar nicht leisten. Wie du auch noch
feststellen wirst, liebe Mitzi. Du musst das Beste daraus
machen.«
In der Küche grinste Mitzi Richard und Judy an, die
sich in den Wäschekorb zurückgezogen hatten und sie mit
riesengroßen Augen musterten. »Ja, ich weiß. Ich weiß. Und da habe
ich befürchtet, ich würde einsam sein … Guter Gott, was ist denn
das jetzt?«
Krachend war die Haustür aufgeflogen. Das Geplapper
aus dem Wohnzimmer verstummte.
Mitzi trat in die Diele und schaute verdutzt auf
den Haufen Plastiktüten, der nun den Eingang komplett blockierte,
und anschließend auf ihre jüngere Tochter in ihrem Afghanenmantel,
die mit roten Augen am Türrahmen lehnte.
»Hallo, Mum«, schniefte Lulu verheult durch einen
Wust aus blonden Zöpfen. »Ich habe Niall verlassen. Diesmal ist er
zu weit gegangen – ich kehre nie, nie mehr zu ihm zurück. Niemals!
Ich hoffe, du hast nichts dagegen, aber ich ziehe wieder zu
dir.«