1. Kapitel
Mitzi spähte über ihren Abschiedsstrauß aus üppigen Chrysanthemen hinweg und überlegte, ob ihr der Mord an Troy Haley zehn Jahre Gefängnis wert wäre.
Natürlich könnte sie es weder hier noch jetzt tun. Dieser Nachmittag in der Schalterhalle der Bank, umringt von Kollegen und Kunden mit Chardonnaygläsern in den Händen – ganz zu schweigen von den zweitklassigen Honoratioren und den Vertretern der Lokalpresse -, war sicher nicht der ideale Zeitpunkt, um zur Mörderin zu werden. Zwar eine würdevolle Mörderin gesetzten Alters, aber nichtsdestotrotz eine Mörderin, auch wenn sie der Finanzwelt damit bestimmt einen Gefallen täte.
Troy Haley, der mit seinem stachelig gegelten Haar und den Aknenarben aussah wie ein 18-Jähriger, stolzierte – zur unverhohlenen Freude aller Mitarbeiterinnen unter dreißig – wie ein Pfau unter den gewölbten Decken und Kronleuchtern der in einem Gebäude aus dem 19. Jahrhundert untergebrachten Bankfiliale in Winterbrook umher, als gehörte sie ihm, was zu Mitzis Verdruss ja nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt lag. Immerhin war er der neue Filialleiter.
Mitzi musterte ihn ungläubig – selbstsicher stand er da, lachte, machte Witze und schüttelte Hände. Troy Haley war einfach viel zu jung. Nicht dass sie etwas gegen junge Leute im Allgemeinen gehabt hätte, natürlich nicht! Sie war seit jeher stolz auf ihr jugendliches Aussehen und ihre modernen Ansichten gewesen und umgab sich gern mit jüngeren Leuten. Sie bewunderte deren Optimismus und bedauerte sie zugleich für ihr Pech, sich im momentan so unsicheren Klima den Weg ins Erwachsenenleben erkämpfen zu müssen.
Gegenüber der jungen Generation von heute hatte sich Mitzi immer als doppelt begünstigt und enorm im Vorteil gesehen. Auf ihre sichere und geborgene Kindheit in den 1950er-Jahren war die sagenhafte Freiheit eines Teenagers in den Sechzigern gefolgt. Heute war alles so streng und verbissen – irgendwie beängstigend für die jungen Leute. Ihr umfassendes Mitgefühl für die Jugend konnte sie allerdings nicht davon ablenken, dass Troy Haley auf jeden Fall viel zu unreif war, um irgendwo eine leitende Position zu bekleiden. Wahrscheinlich war er im gleichen Alter wie ihre Töchter.
Der Gedanke ließ Mitzi zusammenzucken. Ihre Töchter Lulu und Doll waren kaum imstande, ihr eigenes Leben zu regeln, geschweige denn die finanziellen Transaktionen einer stark frequentierten Bankfiliale. Und doch hatte jemand in seiner geballten Wirtschaftsweisheit diesem Grünschnabel Gelegenheit gegeben, mit den Leben und Konten Hunderter Kunden Gott zu spielen.
Natürlich wusste Mitzi nur zu gut, dass Troy Haley ein Aufsteiger auf der Überholspur war. Sie hatte den Ausdruck oft genug gehört, seit vor einem Monat aus heiterem Himmel seine Ernennung verkündet worden war – zusammen mit ihrer Frühpensionierung. Rasch hatte sie begriffen, dass es im Branchenjargon so etwas bedeutete wie »Betriebswirt mit massenhaft Qualifikationen, aber ohne jeden Schimmer von der Praxis«.
Musste sich denn heutzutage keiner mehr langsam die Karriereleiter emporarbeiten? Seinen Beruf Stufe für Stufe erlernen? Musste man sich eine Beförderung nicht mehr verdienen, ebenso wie das nötige Wissen, Würde und Respekt – und was war Troy überhaupt für ein Name für den Filialleiter einer Bank?
Mitzi biss sich auf die Unterlippe und hätte beinahe über sich selbst gelacht. Fast wäre sie ins Lager der Miesmacher übergelaufen, ausgerechnet sie, die so stolz auf ihre lockere Lebenseinstellung und ihre Gelassenheit war. Gelassenheit war schön und gut, wo sie hinpasste, doch wenn es ums eigene Überleben ging, sah die Sache völlig anders aus.
In den dunkler werdenden Fenstern der Bank erblickte sie ihr Spiegelbild, auf das die Glaselemente der Kronleuchter schmeichelhafte kleine Schatten warfen. Schick und gepflegt und mit ihrer in mehreren Schattierungen von Dunkelrot schimmernden modischen Fransenfrisur sah sie doch bestimmt nicht so alt aus wie jemand, der demnächst in den Ruhestand ging. Trugen Ruheständler nicht am liebsten Grau und Beige?
War es das dann also gewesen? Das Ende ihres bisherigen Lebens? Blieben ihr jetzt nur noch Nachmittagsfernsehen und Rentnerclubs?
»So ist es schön! Lächeln!« Ein junges Mädchen vom Winterbrook Advertiser drückte nur wenige Zentimeter neben Mitzis Gesicht auf den Auslöser ihrer Kamera. »Möchten Sie auch eines von Ihnen und Troy zusammen?«
»Eher nicht, vielen Dank.« Mitzi nahm die Chrysanthemen in den anderen Arm. »Schließlich höre ich ja hier auf. Ihre Leser interessieren sich bestimmt viel mehr für die junge Garde. Vielleicht wäre ein Bild von – äh – Troy und meinem Nachfolger passender.«
»Ja, stimmt. Danke.«
Ohne die Ironie zu registrieren, richtete die junge Frau ihre Kamera auf Troy und Tyler, dessen frisch ernannten, ebenso pickeligen und gegelten Assistenten, der angeblich Mitzis frei gewordene Stelle bei den Privatkunden mit übernehmen sollte, ohne jedoch – soweit Mitzi wusste – jemals ein Stenogramm aufgenommen, Kaffee gekocht oder eine Tagung organisiert zu haben.
Troy und Tyler! Das klang ja wie zwei Moderatoren einer Kindersendung im Fernsehen – und die ganzen jüngst von der Bank eingestellten Callcentermädchen mit ihren nasalen Stimmen hatten allesamt Namen wie Chantal-Leanne und Lauren-Storm … und … Mitzi nieste so heftig in ihren Blumenstrauß, dass das Seidenpapier raschelte.
»Alles in Ordnung, meine Liebe?« Mr Dickinson, der aus dem Amt scheidende Filialleiter, berührte sie sachte am Arm. »Geht es Ihnen auch nicht zu nahe?«
»Nein, das eigentlich nicht, aber ich bin ganz schön wütend.« Mitzi verlagerte erneut die Chrysanthemen und zupfte an deren Verpackung. »Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, das jämmerliche kleine Würstchen mit dieser schicken, neumodischen Bastkordel zu erwürgen. Sehen Sie sich das nur an. Nicht mal ein anständiges Band.«
»Wenigstens haben Sie keine blöde Uhr bekommen«, seufzte Mr Dickinson. »Warum schenken sie einem immer so eine dämliche Uhr, wenn man nicht die geringste Lust darauf hat, die Zeit verstreichen zu sehen?«
Sie sahen einander mitfühlend an.
»Hi.« Troy Haley hatte offenbar die Presse, die um ihn herumschwirrenden Kunden und seine Gang aus miniberockten Bewunderinnen abgeschüttelt. »Geht es Ihnen gut?«
»Darauf erwarten Sie doch nicht im Ernst eine Antwort, oder?« Mitzi funkelte ihn über die Blumen hinweg an. »Lassen Sie es mich anders ausdrücken. Was glauben Sie wohl, wie es uns geht, nachdem wir die letzten fünfunddreißig Jahre unseres Arbeitslebens dieser Bank gewidmet haben? Und jetzt aufs Abstellgleis geschoben werden, obwohl wir in den besten Jahren sind? In den Ruhestand geschickt werden, obwohl wir uns noch jahrelang nützlich machen könnten?«
Troy Haley zuckte die Achseln. »Krasse Frage. Klar, alles in allem gesehen weiß ich schon, wie Ihnen zumute sein muss, aber die Karten werden eben neu gemischt, verstehen Sie? Jugend heißt das Zauberwort. Technologie ist der neue Rock’n’ Roll. Die Zeiten ändern sich. Jetzt, wo es Callcenter und Onlinebanking und das alles gibt, will doch kein Mensch mehr Banken, wo man Auge in Auge von Angesicht zu Angesicht – äh – na ja, Sie verstehen schon, was ich meine.« Kumpelhaft schlug er Mr Dickinson auf die Schulter. »Jedenfalls, Nev, haben Sie ab sofort jede Menge Zeit, um in Ihrem Garten herumzuwerkeln und Golf zu spielen, stimmt’s?«
Nev? Nev? Mitzi hätte fast gewürgt. In all den Jahren, die sie Mr Dickinsons rechte Hand gewesen war, hatte sie ihn kein einziges Mal Neville genannt, geschweige denn Nev. Selbst als sie beide noch ganz jung gewesen waren und sie unter Mr Dickinson als direktem Vorgesetzten bei der Bank angefangen hatte, hatten sie einander stets als Mr Dickinson und Mrs Blessing angesprochen. Wie konnte dieser unverschämte, arrogante Flegel sich solche Freiheiten herausnehmen!
»Ich interessiere mich weder für Gartenarbeit noch für Golf«, erwiderte Mr Dickinson steif. »Wahrscheinlich werde ich in Zukunft mehr Zeit für das Kreuzworträtsel in der Times haben, doch selbst das erscheint mir lediglich als schwache Entschädigung dafür, zwangsweise in den Ruhestand geschickt zu werden.«
Troy Haley grinste. »Sehen Sie’s mal positiv, Nev. Im Endeffekt haben Sie doch Ihre Pension und Ihre Abfindung unter Dach und Fach, ehe alles den Bach runtergeht, und die Welt liegt Ihnen sozusagen zu Füßen. Also ich freue mich auf die Rente. Ich hoffe, ich kann das alles hinter mir lassen, ehe ich vierzig bin. Ich will nämlich auf keinen Fall am Schreibtisch sitzen, bis ich – äh -«
»Ich bin fünfundfünfzig, und Mr Dickinson ist auch nicht viel älter«, erklärte Mitzi mit bedrohlich ruhiger Stimme. »Wir sind vermutlich im gleichen Alter wie Ihre Eltern. Was glauben Sie wohl, wie die sich fühlen würden, wenn sie in unserem Alter ausgemustert würden?«
»Ehrlich gesagt sind meine Eltern jünger als Sie und arbeiten bereits darauf hin, dank ihrer gut gemanagten, steuerbegünstigten Fondsanlagen das Feld der Lohnsklaverei zu verlassen«, entgegnete Troy fröhlich. »Sie beide liegen altersmäßig eher bei meinen Großeltern – und die lassen es sich an der Costa Dorada gut gehen. Warum sehen Sie sich nicht nach einem Seniorenheim in einer wärmeren Gegend um, Mitzi? Im Prinzip müssen Sie jetzt ja nur noch an sich selbst denken, stimmt’s? Ist doch sinnlos, den Rest Ihres Lebens freiwillig in einem öden Kaff wie Winterbrook zu versauern, oder?«
Mitzi holte tief Luft. »Mr Haley, Sie wissen nichts über mich. Sie wissen nichts über meine Hoffnungen und Träume oder meine persönlichen Verhältnisse – weder über meine Familie noch über meine Verpflichtungen oder mein Privatleben. Sie wissen nichts. Punkt. Und wenn Sie Winterbrook so unattraktiv finden, warum sind Sie dann nach Berkshire gekommen, wenn ich fragen darf?«
Mr Dickinson gluckste in seine Uhr.
Troy war ganz und gar nicht beleidigt, sondern strahlte sie an. »Hey, immer schön den Ball flach halten. Winterbrook ist nur ein Sprungbrett für größere und lohnendere Aufgaben. Man fängt in Berkshire in der Pampa an und steckt sich höhere Ziele. Zur neuen Strategie der Bank gehört ein rascher Personalwechsel. Höchstens achtzehn Monate in einer Filiale, dann weiter und höher hinauf … Sie werden weder Tyler noch mich hier im ewig gleichen Alltagstrott erwischen, wenn wir so alt sind wie Sie.«
»Nein, das wohl nicht«, sagte Mitzi gedehnt und lächelte. »Man muss eben auch für Kleinigkeiten dankbar sein.«
»Äh, ja …« Troy wirkte plötzlich verunsichert. »Aber jetzt muss ich weiter. Leute kennenlernen und ein bisschen networken.« Er streckte die Hand aus. »Ich wünsche Ihnen allen beiden eine lange und glückliche Rentenzeit.«
Mitzi bezwang den heftigen Wunsch, ihm den Blumenstrauß tief in den Schlund zu rammen, da so etwas ja wirklich nicht zu ihrem Image als Jüngerin von Love and Peace gepasst hätte, und sah Troy lediglich wutentbrannt nach, während sich seine bohnenstangendürre Gestalt im Nadelstreifenanzug langsam entfernte. Bestimmt trainierte er viel. Alle jungen Leute stopften sich doch mit Junkfood voll und rannten dann zum Ausgleich ins Fitnessstudio. Unter Troys Leitung würden sie wahrscheinlich gleich im Keller der Bank einen Trainingsraum einrichten. Und eine Saftbar und womöglich obendrein noch ein Internetcafé.
Mr Dickinson trottete bereits auf die Tür zu, die Uhr fest umklammert. Kein Mensch nahm von ihm Notiz. Kein Mensch sagte ihm auf Wiedersehen.
Mitzi sammelte den Stapel gnadenlos heiterer Karten und ihre anderen Abschiedsgeschenke ein – eine recht schöne Kristallvase und einen ziemlich dicken Scheck – und wollte auf einmal nur noch so weit weg wie möglich von dieser Veranstaltung. Es war zwecklos, länger zu bleiben. Sie gehörte nicht mehr dazu. Jetzt wollte sie nur noch nach Hause.
 
Zwanzig Minuten später hieß ihr Zuhause in Hazy Hassocks, dem Nachbarort von Winterbrook, sie erneut mit seiner heimeligen Gemütlichkeit willkommen. Wie jeden Tag, seit sie vor fünfunddreißig Jahren als Braut dort eingezogen war, schloss Mitzi die Tür zu dem Backsteinreihenhaus aus der Vorkriegszeit auf und trat in eine Welt aus prächtigen Farben und opulentem Glitzerschmuck aus Strass und Perlen.
In der mitternachtsblau und golden dekorierten Diele summte die Zentralheizung leise ihre Willkommensmelodie. Mitzi hob die Morgenpost von der flauschigen kobaltblauen Fußmatte auf, blätterte sie durch – Wurfsendungen, Werbung und eine Gratiszeitung – und warf alles sofort in den Papierkorb, ehe sie die Wohnzimmertür öffnete. Dort streifte sie auf dem brombeerfarbenen Kaminvorleger die Stretchstiefeletten ab und warf ihr Wolljackett über die Lehne des pflaumenblauen Samtsofas, während sie ihr Wohnzimmer mit ungetrübtem Wohlgefallen musterte.
Die üppige, sinnliche Behaglichkeit ihres Hauses bereitete Mitzi jeden Tag aufs Neue tiefe Freude, doch das war nicht immer so gewesen. Als sie und Lance geheiratet hatten, hatte das Haus nicht anders ausgesehen als andere Häuser: brave, cremeweiße Wände, eine graubraune Couchgarnitur mit Dralonbezügen, ein mit Cotswoldstein verkleideter Kamin, beigefarbene Teppiche und geschmackvoll arrangierte Porzellanfigürchen.
Erst seit der Scheidung vor zehn Jahren hatte sie begonnen, das gemeinsame Haus zu ihrem ureigenen Heim umzugestalten.
Der Oktobernachmittag neigte sich und ließ eine kalte Nacht erahnen. Mitzi machte zuerst eine Reihe rot beschirmter Lampen an, bevor sie das fast wie ein echter Kamin wirkende Gasfeuer mit seinen flackernden Flammen einschaltete. Deren Lichtschein spiegelte sich sofort in den zahlreichen glitzernden Glasornamenten und Kerzen, die alle Flächen zierten, und erleuchtete die vielen Bücherreihen in den wandhohen Regalen ebenso wie die in allen Regenbogenfarben schimmernden exotischen Blüten der zahlreichen Potpourris aus getrockneten Blumen.
Mitzi seufzte zufrieden, wie immer, wenn sie in ihr Wohnzimmer kam, und zog die dunkelvioletten Samtvorhänge zu, um die Abenddämmerung auszusperren. Der Herbst war seit jeher ihre Lieblingsjahreszeit gewesen, und die Farbenfülle vor dem Fenster spiegelte sich in ihrem gesamten Haus wider. Doch würde sie ihn jetzt noch genauso lieben? Wenn sie jeden Tag von früh bis spät hier allein war und die unvermeidlichen dunklen, kurzen Wintertage nur noch wenige Wochen auf sich warten ließen?
»Reiß dich zusammen, Herrgott noch mal«, herrschte sie sich selbst an. »Du hast schon öfter extreme Veränderungen in deinem Leben verkraften müssen. Du schaffst es auch noch einmal. Außerdem hast du ohnehin keine Wahl. Und eine Frau, die damit fertig wird, dass sie auf der eigenen Silberhochzeit von der Geliebten ihres Mannes erfährt, wird doch wohl eine kleine Frühpensionierung überstehen, also bitte!«
Direkt nach der Scheidung hatte sie sich verlassen gefühlt und Angst vor einer Zukunft ohne Lance gehabt, doch natürlich hatten damals Lulu und Doll noch bei ihr gewohnt, und sie hatte die Arbeit in der Bank gehabt – Konstanten in einer Welt, die durch Lance’ Untreue erschüttert worden war. Ihre Töchter, die Bank, ihre Freunde und ihr verlässlicher Alltagstrott hatten ihr Sinn und Stabilität gegeben, und so hatte sie im Lauf der nächsten zehn Jahre ihr Leben allmählich neu aufgebaut, ihre Freiheit genossen und das Alleinleben schließlich durchaus zu schätzen gelernt.
Von heute an würde jedoch alles ganz anders sein. Die Mädchen lebten mittlerweile mit ihren Partnern zusammen, und ohne die Bank, ohne Arbeit, ohne einen triftigen Grund, jeden Morgen aufzustehen, war sie sich selbst überlassen. Was in aller Welt sollte sie tun, um die Stunden zu füllen? Sie versuchte, nicht an den krassen Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit zu denken, da sie fürchtete, dass ihr der ohnehin nur allzu bald bewusst werden würde.
Mitzi quittierte ihr Selbstmitleid mit einem Schnauben und tappte mit ihrer neuen Kristallvase und den Chrysanthemen in die Küche. Die Blumen würden sich gut hier machen, sinnierte sie, während sie Wasser in die Vase laufen ließ und die holzigen Stiele kappte, die dabei ihren kalten, bitteren Duft freisetzten. Die goldenen, bronzenen und rotbraunen Farbschattierungen der dicht gedrängten Blütenblätter passten perfekt zu ihrer Küche. Sie stellte die Vase unsanft mitten auf den Küchentisch, der eigentlich wie in jeder anständigen Landhausküche aus weiß geschrubbter alter Kiefer hätte sein sollen, jedoch von IKEA stammte und von einem leuchtend gelben Tischtuch bedeckt war.
»Im Wohnzimmer ist schon geheizt«, sagte sie zum Wäschekorb.
Der Wäschekorb antwortete nicht.
»Und wenn ich mich umgezogen habe, mache ich gleich Abendessen. Okay?«
Der Wäschekorb sagte wieder nichts.
Mitzi sah genauer hin. »Ja, ich weiß, es ist ein bisschen neu für euch, dass ich so früh nach Hause komme, aber daran werdet ihr euch gewöhnen müssen. Von jetzt an bin ich immer hier.«
Im Wäschekorb raschelte es leise. Zwei flauschige graue Katzenköpfe lugten heraus, und vier blassgrüne Augen blinzelten sie an. Richard und Judy, zwei nicht ganz echte Perserkatzen, die Mitzi als winzige, zaundürre und halb verhungerte Kätzchen aus der Garage neben der Bank gerettet hatte, streckten sich, ließen sich geschmeidig aus dem Korb gleiten und rieben sich hingebungsvoll an ihr.
Mitzi streichelte sie beide. Sie liebte ihr weiches Fell, das sich glatt wie flüssige Seide unter den Fingern anfühlte. Das Schnurren steigerte sich zu einem lautstarken Wettstreit.
»Okay, es stimmt nicht, dass ich allein bin«, sagte sie und küsste sie alle beide auf die Stirn. »Ich habe ja euch … und wer weiß, vielleicht lerne ich noch kochen oder finde einen anderen Job – oder womöglich sogar einen neuen Mann zum Zeitvertreib.«
Richard und Judy machten schmale Augen dazu und hörten auf zu schnurren.
Mitzi zuckte die Achseln. »Stimmt, wahrscheinlich ist es nicht, aber man wird ja wohl noch träumen dürfen, oder? Und jetzt gebt mir ein paar Minuten, damit ich mir bequeme Klamotten anziehen kann, und dann suchen wir etwas Geeignetes für ein einsames Festessen zusammen.«
Nach einer knappen halben Stunde hatte Mitzi geduscht und war in Jeans und einen bunten Pullover geschlüpft. Sie ließ den Blick durch ihr in strahlenden Goldtönen dekoriertes Einpersonenboudoir schweifen, das zu Lance’ Zeiten ebenso farblos gewesen war wie der Rest des Hauses, nun jedoch mit satten Apricot- und Honigtönen und gedämpftem Licht sowie mehreren Schichten von üppigen, mit Perlen und Pailletten bestickten Stoffen aufwartete und verruchten Haremsluxus bot, und nahm sich vor, demnächst ihre Garderobe gründlich auszumisten. Sie würde ihre ganzen Bürosachen dem Wohlfahrtsladen stiften, zudem würde eine größere Entrümpelung ihres bisherigen Lebens sie immerhin eine Zeit lang beschäftigen. Und warum sollte sie sich eigentlich aufs Schlafzimmer beschränken? Warum nicht das ganze Haus in Angriff nehmen? Warum nicht gleich ihr gesamtes Leben einem richtigen Großreinemachen unterziehen?
Schon etwas froher gestimmt, da sie nun zumindest wusste, wie sie die nächsten Tage ausfüllen konnte, tappte sie nach unten und gab Richard und Judy Futter und Wasser, ehe sie den Stapel mit Fertiggerichten in ihrem Gefrierschrank durchsah.
Gerade als sie sich für Fiesta-Hühnchen mit einem Glas trockenem Wein entschieden hatte, klingelte das Telefon.
»Hi, Mum«, klang Dolls Stimme fröhlich durch die Leitung. »Wie war’s? Nein, sag nichts. Ich komme nachher bei dir vorbei, sowie ich mit der Arbeit fertig bin. Soll ich Fish and Chips mitbringen?«
Mitzi schmunzelte. »Fish and Chips wären herrlich. Aber wartet Brett nicht zu Hause auf dich?«
»Der schläft bestimmt, wie meistens«, sagte Doll in unverändert heiterem Tonfall. »Er merkt gar nicht, ob ich da bin oder nicht. Jedenfalls will ich nicht, dass du allein bist – nicht heute Abend. Soll ich ein paar Fläschchen mitbringen, damit wir auf deine neue Freiheit anstoßen können?«
Voller Zuneigung lächelte Mitzi ins Telefon. Ihre ältere Tochter war eine unerschütterliche Optimistin. »Das wäre auch schön. Danke, Schätzchen. Ich wärme schon mal die Teller, kühle die Gläser und freue mich auf dich.«
Als sie das Fiesta-Hühnchen in den Gefrierschrank zurückschob, klingelte erneut das Telefon.
»Wir haben hier einen riesengroßen Würstcheneintopf am Köcheln«, plärrte ihr Flo Spraggs von nebenan ins Ohr. »Ich weiß doch, dass du nie kochst. Clyde und ich dachten, du hast vielleicht Lust rüberzukommen – schließlich ist heute ja ein etwas trauriger Tag für dich. Clyde macht extra aus diesem Anlass eine Flasche von seinem Holunder-Rhabarber-Wein auf. Du willst doch heute Abend nicht allein sein, Mitzi, oder?«
»Oh, Flo, das ist echt lieb von dir, aber Doll kommt vorbei, sowie die Praxis schließt, und bringt Fish and Chips mit. Kannst du mir meine Portion Eintopf bis morgen aufheben?«
»Muss ich wohl«, erwiderte Flo ungerührt. »Wir kochen sowieso immer zu viel. Kein Problem, Mitzi, Hauptsache, du bist nicht allein. Komm doch einfach morgen gegen elf zu einem zweiten Frühstück vorbei. Was hältst du davon?«
»Wunderbar.« Mitzi lächelte. »Ich bringe Kekse mit. Danke, Flo.«
»Keine Ursache, Mitzi. Wir wollten nur nicht, dass du heute Abend allein bist.«
»Ja gut, es ist natürlich ein bisschen gewöhnungsbedürftig, aber – oh, da ist jemand an der Tür … Dann bis morgen – und vielen, vielen Dank.«
Das Telefon noch in der Hand, öffnete Mitzi die Haustür. Ihre Nachbarinnen von gegenüber, die spindeldürren altjüngferlichen Schwestern Lavender und Lobelia Banding, standen mit kleinen, von Alufolie bedeckten Tellerchen in den Händen im abendlichen Dämmerlicht vor der Tür.
»Wir wollten nur sicher sein, dass es dir auch gut geht«, erklärte Lavender. »Nicht wahr, Lobelia?«
»Genau«, bestätigte Lobelia. »Wir wissen, was es heißt, ausgemustert zu werden, und wollten verhindern, dass du etwas Dummes anstellst, nicht wahr, Lavender?«
»Du bist in einem komischen Alter, junge Frau«, fuhr Lavender fort. »Die Hormone lassen nach und weiß Gott was. Das kann einen völlig aus der Bahn werfen. Jetzt bist du damals schon von diesem Schürzenjäger verlassen worden, den du geheiratet hast, da dachten wir, dass du womöglich völlig verzweifelst, wenn du auch noch deinen Job verlierst. Viele Leute begehen in deinem Alter Selbstmord, weißt du, vor allem wenn sie sich überflüssig fühlen.«
»Deshalb sind wir gekommen, um dich aufzumuntern«, sagte Lobelia mit strahlendem Lächeln. »Und um auf dich aufzupassen – ach, und wir haben dir ein paar schöne Sandwiches gemacht. Mit Fischpaste.«
Mitzi biss auf die Innenseiten ihrer Wangen, um sich das Lachen zu verkneifen. »Vielen Dank … oh, das ist wirklich nett von euch, aber mir geht es gut. Doll ist schon unterwegs mit Fish and Chips, also bin ich gar nicht allein. Und ich habe auch keine Selbstmordgedanken, ehrlich nicht. Ein bisschen geknickt bin ich natürlich, aber ich komme schon klar.«
»Das ist der Schock«, sagte Lavender nickend, während sie die Alufolie wegzog und herzhaft in ein Fischpasten-Sandwich biss. »Jetzt bist du noch vollgepumpt mit Adrenalin, aber warte nur, bis dich die schonungslose Wirklichkeit überfällt.«
»Ähm – ja, ich werd’s mir merken. Aber wollt ihr denn nicht reinkommen? Es ist ganz schön kalt draußen, und -«
Die Bandings brauchten keine zweite Aufforderung. In einem Wirbel aus mausgrauen langen Röcken und verwaschenen Strickjacken huschten sie an Mitzi vorüber und stellten sich vor den Kaminofen.
»Lass die Tür offen, Mitzi«, ertönte Flos Stimme über den Zaun. »Ich hab den Eintopf warm gestellt. Clyde und ich dachten, du möchtest vielleicht einen Schluck Holunder-Rhabarber-Wein zu Dolls Fish and Chips.«
Leicht perplex wartete Mitzi, bis Flo und deren Mann den Gartenweg entlanggeeilt waren.
»Offen gestanden haben wir Lav und Lob kommen sehen«, erklärte Clyde schroff und drückte ihr mit seinem kratzigen Schnurrbart einen Kuss auf die Wange, wobei die Weinflaschen in seinen Armen klirrend aneinanderschlugen. »Wir dachten, du kannst vielleicht jemanden brauchen, der dich auf andere Gedanken bringt, als dir die Pulsadern aufzuschneiden.«
»Schön warm hier bei dir, Mitzi«, zwitscherten die Banding-Schwestern beglückt, als die Spraggs ins Wohnzimmer marschierten. »Aber pass bloß auf, du wirst jeden Penny umdrehen müssen, jetzt, wo du keine Arbeit mehr hast. Lange kannst du nicht mehr so kräftig einheizen. Wir wissen, wie es ist, wenn man sich im Haus dick einmummeln muss und die Heizung erst nach Coronation Street anmachen kann …
»Ooooh, Mr Spraggs! Ihr hausgemachter Fruchtwein! Herrlich!«
»Ich hole Gläser«, sagte Mitzi matt. »Und vielleicht rufe ich in der Praxis an und bitte Doll, mehr Fish and Chips mitzubringen, nachdem das hier allmählich zu einer Art Party ausartet.«
»Das wäre mal ein seltener Genuss«, sagte Lavender und stopfte sich das letzte Sandwich in den Mund, als Lobelia gerade danach greifen wollte. »Wir essen nie auswärts. Können wir uns von unseren Renten gar nicht leisten. Wie du auch noch feststellen wirst, liebe Mitzi. Du musst das Beste daraus machen.«
In der Küche grinste Mitzi Richard und Judy an, die sich in den Wäschekorb zurückgezogen hatten und sie mit riesengroßen Augen musterten. »Ja, ich weiß. Ich weiß. Und da habe ich befürchtet, ich würde einsam sein … Guter Gott, was ist denn das jetzt?«
Krachend war die Haustür aufgeflogen. Das Geplapper aus dem Wohnzimmer verstummte.
Mitzi trat in die Diele und schaute verdutzt auf den Haufen Plastiktüten, der nun den Eingang komplett blockierte, und anschließend auf ihre jüngere Tochter in ihrem Afghanenmantel, die mit roten Augen am Türrahmen lehnte.
»Hallo, Mum«, schniefte Lulu verheult durch einen Wust aus blonden Zöpfen. »Ich habe Niall verlassen. Diesmal ist er zu weit gegangen – ich kehre nie, nie mehr zu ihm zurück. Niemals! Ich hoffe, du hast nichts dagegen, aber ich ziehe wieder zu dir.«